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Erste Politiker bringen Nord Stream 2 wieder ins Spiel

Lesezeit: 4 min
27.07.2022 17:21  Aktualisiert: 27.07.2022 17:21
Mehrere Kommunalpolitiker fordern in einem Schreiben an die Bundesregierung, Nord Stream 2 wieder in Betrieb zu nehmen. Währenddessen ist die fehlende Turbine für Nord Stream 1 offenbar immer noch in Deutschland.
Erste Politiker bringen Nord Stream 2 wieder ins Spiel
Einige Politiker fordern, Nord Stream 2 wieder in Betrieb zu nehmen. (Foto: dpa)
Foto: Philipp Schmidli

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Kommunalpolitiker von der Insel Rügen haben in einem Schreiben an Landes- und Bundesregierung die Nutzung der umstrittenen Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 vorgeschlagen. Der Brief, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, ist von sieben Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen unterschrieben. Wie der Sassnitzer Bürgermeister Frank Kracht (parteilos) am Mittwoch der dpa schrieb, hätten es nachträglich noch mehrere weitere Gemeinden unterzeichnet. Zuvor hatte der NDR darüber berichtet.

Es gehe nicht darum, Nord Stream 2 „auf Krampf“ wieder zu aktivieren. Vielmehr gehe es um dauerhafte Energiesicherheit, sagte Kracht. Wenn es technische Schwierigkeiten gebe, diese etwa über die Pipeline Nord Stream 1 zu gewährleisten, müsse man neue Wege finden. Nord Stream 2 sei eine Möglichkeit.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte vor einer Woche erneut die Pipeline Nord Stream 2 ins Spiel gebracht. Diese könne in Betrieb genommen werden, sagte er im Zusammenhang mit den gedrosselten Lieferungen durch Nord Stream 1. Die Bundesregierung lehnt eine solche Inbetriebnahme ab. Nord Stream 2 ist nicht genehmigt, ein Zertifizierungsverfahren wurde im Februar gestoppt. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sagte am Dienstag, der Kreml wolle über den hohen Gaspreis die Solidarität in Europa aufbrechen und auf eine Genehmigung von Nord Stream 2 hinwirken.

Mit Blick auf den Angriff Russlands auf die Ukraine heißt es in dem Schreiben der Bürgermeister, man verurteile „auf das Schärfste dieses Kriegsgeschehen“. Dennoch gelte es abzuwägen, wie groß die Schäden für die Bevölkerung und die Wirtschaft in der eigenen Region werden könnten.

Das Schreiben ging Kracht zufolge unter anderem an die Schweriner Staatskanzlei sowie an den Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne).

„Wir sind der Meinung, dass der von der Bundesregierung eingeschlagene Weg, sich von den Energieträgern Russlands zu trennen, nicht der Richtige ist“. Um die Energiesicherheit, insbesondere die Versorgung mit Gas, ausreichend zu gewährleisten, empfehle man zusätzlich zu Nord Stream 1 die Nutzung von Nord Stream 2. In dem Papier ist die Rede von Sorgen angesichts der Planungen der Bundesregierungen zur Gasversorgung und der dafür notwendigen Infrastruktur. Derzeit geplante Alternativen gingen mit enormen Kosten- und Zeitaufwand einher. Der geplante Ausbau der Windkraft wird kritisiert.

Neben Krachts Unterschrift führt das Schreiben von Mitte Juli die Unterschriften sechs weiterer Verwaltungsoberhäupter, darunter etwa Anja Ratzke (Bergen, parteilos) oder Reinhard Liedtke (Sellin, parteilos).

Wo ist die fehlende Turbine für Nord Stream 1?

Russland hat währenddessen wie angekündigt die Gaslieferungen über die wichtigste Pipeline Nord Stream 1 erneut gekürzt und nennt dafür technische Gründe. Die Lieferungen seien gegenüber den Vortagen halbiert worden, die Auslastung der Leitungen liege bei 19,5 Prozent der eigentlichen Kapazität, teilte die Bundesnetzagentur am Mittwoch mit. Die Bundesregierung nannte angegebene technischen Gründe aufgrund der Wartung einer Siemens-Turbine vorgeschoben, Russland widerspricht. Vize-Regierungssprecherin Christiane Hoffmann sprach von einem „Machtspiel“ Russlands. „Die Turbine ist da, sie ist gewartet.“ Einem Transport nach Russland stehe nichts im Weg. „Es liegt nicht an der deutschen Seite.“ Die Netzagentur erklärte, die Versorgungslage sei angespannt, eine weitere Verschlechterung könne nicht ausgeschlossen werden. „Unternehmen und private Verbraucher müssen sich auf deutlich steigende Gaspreise einstellen.“

Die Kürzungen machen es Deutschland schwerer, wie geplant die Gasspeicher für den Winter füllen. Derzeit sind sie zu rund 67 Prozent voll, bis zum November sollen es aber 95 Prozent sein. Deutschland muss die fehlenden Mengen kurzfristig und teuer auf dem engen Markt nachkaufen. Die Bundesregierung sucht daher auch händeringend nach Alternativen zu russischem Gas.

Frankreich signalisierte für die kalten Monate Hilfe: Nach Angaben von Regierungsvertretern könnte Gas im Umfang von etwa 20 Terawattstunden nach Deutschland fließen. Dies wären etwa zwei Prozent des deutschen Jahresverbrauchs. „130 Gigawattstunden pro Tag wären möglich. Im Winter würde sich das auf insgesamt 20 Terawattstunden summieren“, sagte ein französischer Regierungsvertreter. Das entspräche etwa fünf Prozent des Jahresverbrauchs Frankreichs.

Die Bundesnetzagentur dringt auf Einsparungen ab sofort und sieht erste Erfolge: Die privaten Haushalte, aber auch die Industrie verbrauchten „fünf, sechs, sieben Prozent weniger“, sagte Agentur-Chef Klaus Müller im Deutschlandfunk. „Deutschland muss weniger Gas verbrauchen.“ Jetzt müsse in allen Bereichen der Gesellschaft etwas getan werden, sei es technische Innovation, sei es das Diversifizieren von Energiequellen. „Aber das Entscheidende ist das Gaseinsparen. Und da möchte ich gern weniger sozusagen Klagen hören, sondern mehr Meldungen, wo jemand sagt, wir als Branche, wir als Stadt, wir als Region tragen dazu bei, Gas zu sparen.“ Zugleich müssten sich die Verbraucher auf höhere Energiepreise einstellen, sagte Müller. „Es ist eine Preisentwicklung auf Ansage.“

In Berlin gehen die Lichter aus

An den Energiebörsen ging die Preisrally am Mittwoch weiter. Der europäische Future stieg erneut um mehr als zehn Prozent auf 219 Euro je Megawattstunde. Da auch die Strompreise steigen, will die Hauptstadt Berlin zahlreiche Wahrzeichen und Gebäude nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr anstrahlen. Dazu zählten etwa die Siegessäule, die Gedächtniskirche, das Rote Rathaus und das Schloss Charlottenburg. Insgesamt würden in Berlin rund 200 Objekte mit rund 1400 Strahlern an Beleuchtungsmasten im Dunkeln hervorgehoben, erklärte der Senat der Stadt.

Gazprom hatte am Montag angekündigt, wegen der weiteren fehlenden Turbine nur noch 20 Prozent der Gas-Kapazität von Nord Stream 1 nach Westeuropa zu liefern. Vor und nach einer zehntägigen Wartungspause, in der gar kein Gas geflossen war, hatte Gazprom 40 Prozent der Kapazitäten durchgeleitet. Gazprom-Vize-Chef Witali Markow machte westlichen Sanktionen für die fehlende Turbine verantwortlich und warnte, auch weitere Komponenten der Nord-Stream-Pipeline müssten demnächst überholt werden. Siemens Energy betonte, es fehlten nur noch Einfuhr-Dokumente für die überholte Turbine. Diese Papiere müsse Russland ausstellen.


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