Lange fristete Erdgas eher ein Schattendasein, in der öffentlichen Wahrnehmung versteckt hinter seinem großen Bruder Rohöl. Seit kurzem allerdings steht es im Mittelpunkt der europäischen Energiekrise und bestimmt nicht unerheblich die Geopolitik. Ein nach wie vor nicht auszuschließender vollständiger Erdgaslieferstopp seitens Russlands in Richtung Westen würde mindestens Deutschland und Europa in eine tiefe Rezession stürzen. Mittlerweile hat die Welt die Bedeutung des blauen Energieträgers schmerzlich erkennen müssen. Der Vergleich mit dem Stellenwert des Öls in den 1970er Jahren ist nicht übertrieben, und die wesentliche Rolle, die Erdgas in modernen Volkswirtschaften spielt, sowie die Notwendigkeit einer sicheren und vielfältigen Versorgung, werden überdeutlich sichtbar.
Anders als Rohöl war Erdgas bis vor kurzem noch eine eher reizlose Ware, die im Rahmen der ihr eigenen, durch den Sommer-/Winter-Rhythmus bestimmten, Saisonalität an einer Vielzahl regionaler Märkte gehandelt wurde. Massive Preisausschläge waren selten und stets auf lokale, mehr oder minder schwere externe Einflüsse zurückzuführen und in erster Linie witterungsbedingt. Mit dem politischen Willen, die Dekarbonisierung der Welt mit Riesenschritten voranzubringen, gewann Erdgas, mindestens als Zwischenlösung, enorm an Bedeutung und globalisierte sich sehr schnell.
Verflüssigtes Erdgas – Liquefied Natural Gas (LNG) – nimmt diesbezüglich die Schlüsselposition ein, was im Produktionsstandort USA einen regelrechten Boom ausgelöst hat. Den Vereinigten Staaten gelang ein geradezu kometenhafter Aufstieg in der Rangliste der LNG-Exporteure und sie liegen mittlerweile schon auf Platz drei der weltgrößten Exporteure, hinter Katar und Australien. Die Nachfrage wächst derweil ungebrochen weiter, vierundvierzig Länder haben im vergangenen Jahr LNG importiert, fast doppelt so viele, wie noch vor zehn Jahren.
Engpass droht – selbst unter „normalen“ Umständen
„Man lege niemals alle Eier in einen Korb“, so lautet eine alte Binsenweisheit, mit der gerne auf die Bedeutung einer ausreichenden Diversifizierung des eigenen Anlageportfolios verwiesen wird. Das dieser Grundsatz auf viele Bereiche des Lebens - und der Wirtschaft – anwendbar ist, zeigt sich in den vergangenen Monaten überdeutlich. Natürlich deutet aktuell alle Welt, vor allem jedoch Europa und dort speziell Deutschland, mit dem Finger gen Osten. Russland nutze Gas als ökonomische Waffe und wende die bemerkenswert einseitige Lieferantenkonstellation gegen seine westlichen Abnehmer.
Das stimmt zwar, es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass diese Situation zumindest erheblich abgemildert worden wäre, hätte man sich in der Vergangenheit auch diesbezüglich an die alte Eierkorbregel gehalten. Betrachtet man die deutsche Energiepolitik einmal unabhängig davon, darf man guten Gewissens davon ausgehen, dass auch ohne den durch den russischen Einmarsch in die Ukraine und die daraufhin eingeleiteten Sanktionsmaßnahmen gegen das Land unverhofft eingetretene Zuspitzung der Energieversorgung hierzulande schon mittelfristig erhebliche Schwierigkeiten aufgetreten wären.
Das sich unsere gesamte Energienachfrage mit regenerativen Energiequellen decken lässt ist auf absehbare Zeit schlicht nicht möglich, hehres Ziel und physikalische Gegebenheiten finden an dieser Stelle nicht zusammen. Erdgas bliebe weiterhin als Brennstoff unerlässlich, zur Erzeugung von Wärme, aber auch Strom. Die bisherige Weigerung Deutschlands, überhaupt LNG-Terminals zu errichten, hätte ohne Krieg weiterhin bestand. Auch dies wäre ein Sonderweg, der Rest der Welt hat dies erkannt und baut in diesem Bereich massiv aus. Shell ging bereits Anfang des Jahres davon aus, dass die LNG-Nachfrage das Angebot bereits ab Mitte der 2020er Jahre übersteigen wird. Das Unternehmen prognostizierte in seinem jährlich erscheinenden LNG-Ausblick darüber hinaus, dass schon im Jahre 2040 die Nachfrage nach verflüssigtem Erdgas 90 Prozent über der des vergangenen Jahres liegen würde. Das seit kurzem sprunghaft gestiegene Interesse Europas, und speziell Deutschlands, dürfte diese Prognose wohl bereits wenige Monate nach ihrem Erscheinen hinfällig gemacht haben.
Von zweifelhaften Alternativen und offenkundigen Machtinteressen
Das unter deutschem Boden Erdgas schlummert, um das gesamte Land für etwa 20 Jahre zu versorgen, ist kein Geheimnis, allein gefördert werden soll es nicht. Als Hauptargument dagegen gilt die umstrittene Produktionsmethode, denn letztendlich kann niemand mit völliger Sicherheit ausschließen, dass die beim Fracking verwendeten Giftstoffe tief unter der Erde auch ungewollte Wege finden und unter Umständen Mensch und Natur schädigen. Dass das aus den USA zum Import vorgesehene LNG jedoch zum weitaus überwiegenden Teil ebenso gewonnen wird scheint hingegen niemanden mehr zu beunruhigen. Und ebenso wenig, dass dieses Gas dann energieintensiv verflüssigt, energieintensiv in diesem Aggregatzustand gehalten und schließlich per Schiff, wiederum unter Aufbietung von Energie, innerhalb von knapp drei Wochen etwa 5.600 Seemeilen über den Atlantik geschippert wird.
Das sich zudem sowohl der kürzlich noch gefeierte Habecksche Flüssiggas-Deal mit der Fußballgroßnation Katar als mehr oder weniger gescheitert herausgestellt hat, als auch der Umstand, die bereits mit dem begehrten Rohstoff gefüllte (!) Alternativpipeline NordStream2 nicht nutzen zu wollen und stattdessen lieber ein Hickhack um die noch immer turbinenlose NordStream1 zu veranstalten, sorgt für Kopfzerbrechen (und -schütteln). Dabei drängt sich an dieser Stelle durchaus der Verdacht auf, dass weder Robert Habeck noch sein Vorgesetzter keinen wesentlichen Einfluss auf die Inbetriebnahme von Nordstream2 haben. Schließlich torpedieren die USA dieses Projekt seit Jahren, aus naheliegenden Gründen. Da hilft es dann auch nichts, dass Vladimir Putin Gaslieferungen über diesen Weg explizit anbietet.
Es ist schon ein wenig schizophren, dass Europa aus eigenem Antrieb auf Pipelinegas aus Russland verzichten möchte, aber gleichzeitig ängstlich auf das Wiederanlaufen der in Wartung befindlichen Nordstream1 wartete und man für den Fall eines tatsächlichen Ausbleiben des Gasflusses alle denkbaren Katastrophenszenarien skizzierte. Man kann Joe Bidens Amtsvorgänger sicherlich das ein oder andere vorwerfen, einen klaren Blick auf die prekäre Energieversorgungskonstellation der Europäer hatte Donald Trump allerdings. Das höhnische Kopfschütteln Heiko Maas´ und der deutschen Delegation bei dessen Rede vor der UN zu eben diesem Thema wirkt nun rückblickend noch grotesker als damals schon. Es wird übrigens gerne vergessen, dass auch Russland LNG-Exporteur ist und etwa 15 Prozent des in Europa ankommenden Flüssiggases aus russischer Produktion stammt. Hier hat Putin einen weiteren Hebel in den Hand.
Der heißeste Rohstoff der Welt
Mittlerweile ist Erdgas als der buchstäblich „heißeste“ Rohstoff der Welt in den Fokus gerückt, mit täglich neuen Schlagzeilen. Dessen Preissprünge sind selbst für diese an den Börsen ohnehin schon äußerst turbulenten Zeiten extrem, mehr als 120 Prozent legte Gas bis Dato allein im laufenden Jahr an den kontinentaleuropäischen Märkten zu, in der Spitze waren es sogar 225 Prozent. Im Vergleich zum gleichen Vorjahreszeitpunkt verteuerte sich Gas an der Londoner Börse ICE um 330 Prozent (Spitzenwert: plus 530 Prozent).
Schaut man auf den britischen Gasmarkt, sieht die Lage mit im Extrem mehr als 800 Prozent im Jahresvergleich noch weitaus dramatischer aus. Damit ist Erdgas einer der Haupttreiber der weltweiten Inflation und sorgt für politischen Zündstoff zwischen den Großmächten. Kurz gesagt, Gas ist jetzt nach Erdöl der Treibstoff, der die Geopolitik bestimmt. Angesichts dessen ändern sich sehr zügig die Prioritäten, Bekämpfung des Klimawandels war einmal. Robert Habeck beschwor sogar das Bild der gefallenen Investmentbank Lehman Brothers herauf, welches nach wie vor das Symbol der letzten Finanzmarktkrise ist, und prognostizierte den Kollaps der deutschen Wirtschaft – und darüber hinaus – sollte uns der Rohstoff ausgehen.
Er hat damit leider nicht unrecht, fußt doch unser gesamtwirtschaftliches Geschäftsmodell auf billiger Energie. Den Rohstoff aus anderer Hand zu beziehen ist dabei jedoch nur ein Teil des Problems, das andere ist, dass auch die bisherige Infrastruktur im Rekordtempo ersetzt werden muss. Statt Pipelines aus Russland braucht es nun weitere Exportterminals in den USA und anderswo, Importterminals hierzulande, neue, von dort ausgehende Pipelines und, last but not least und ganz profan, Tankschiffe. Was die damit im Zusammenhang stehenden deutschen Hausaufgaben betrifft, lässt der Blick auf das hiesige Vorzeigeprojekt BER nichts allzu Gutes erwarten.