Während der Außenbeauftragte der Kommunistischen Partei Chinas, Yang Jiechi, kürzlich in einem Gespräch mit dem russischen Botschafter in Peking, Andrej Denissow, ankündigte, gemeinsam mit Russland "die Entwicklung der internationalen Ordnung in eine gerechtere und rationalere Richtung“ zu fördern, treibt das chinesische Null-Covid-Regime immer dystopischere Blüten. Der Twitter-Account @songpinganq teilt Videos chinesischer Social-Media-Nutzer, um die chinesische Pandemiepolitik zu dokumentieren. Ein Clip zeigt Wohnhäuser in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sechuan, am 28. August um vier Uhr Morgens, mitten im Lockdown. Erst wenn man den Ton der 13-sekündigen Aufnahme anschaltet, wird einem das Ausmaß des Grauens bewusst: Ein Kanon gellender Verzweiflungsschreie erfüllt die frühmorgendliche Dunkelheit. (Quelle)
Zugenagelte Türen und Drohnen, die den totalen Lockdown verkünden
Ein anderes Video zeigt einen mutmaßlichen Beamten in einem weißen Schutzanzug, der Leisten an einer Wohnungs- oder Haustür anbringt und festnagelt. Sie gingen von Tür zu Tür und sorgten dafür, dass die Bewohner ihre Wohnungen nicht verlassen konnten, beschreibt @songpinganq das Geschehen. Danach patrouillieren Trupps von Schutzanzugträgern durch leere Straßen und ein Mann in schwarzer Uniform gibt Anweisungen durch ein Megafon. Einen Tag später, wieder in in der 21-Millionen-Einwohner-Stadt Chengdu: Kurz vor Mitternacht schwirrt eine Drohne an Wohnhäusern entlang. Eine kalte, robotische Stimme warnt: "Diese Gemeinde befindet sich jetzt im totalen Lockdown! Bleiben Sie in Ihrem Zimmer!" (Quelle) (Quelle)
Trotz Erdbeben keine Lockdown-Lockerung
Etwa 65 Millionen Menschen in 33 chinesischen Städten erleben derzeit teilweise oder totale Lockdowns. Als einer der Gründe für das harte Vorgehen Pekings gilt der 20. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober, im Zuge derer die Einleitung der dritten Amtszeit des Generalsekretärs der Partei und amtierenden Staatspräsidenten Xi Jinping erwartet wird. Chengdu war die größte chinesische Metropole im Dauer-Lockdown seit Schanghai. Inzwischen fallen die ersten Beschränkungen zwar wieder. Doch Chengdu ist ein Sinnbild der chinesischen Corona-Politik. Sogar als am 5. September ein Erdbeben der Magnitude 6.8 Sichuan erreicht und 65 Menschen sterben, sollen die chinesischen Behörden so keine Notwendigkeit in einer Lockerung gesehen haben.
So berichtet die britische Zeitung "The Guardian" von einer Universitätsprofessorin und Mutter Namens Li, die erzählt, dass sie mit ihrer Familie schnell ins Badezimmer habe rennen müssen, um Schutz vor dem Erdbeben zu suchen. Wie viele andere Bürger Chengdus durfte Li ihr Haus während des Erdbebens aufgrund des Lockdowns nicht verlassen. Im Netz kursierende Videos zeigen sogar, wie Hausbewohner während des Erdbebens mit chinesischem Behördenpersonal diskutieren, das sie an der Flucht hindert.
Menschenmassen strömen nachts durch die Straßen, um sich testen zu lassen
Wenn die Lockdown-Regelungen nicht gerade eine komplette Abriegelung oder Überführung in ein Quarantänelager vorsehen, darf jeweils nur eine Person zwei Stunden am Tag das Haus verlassen, um Waren des täglichen Bedarfs einzukaufen. Die Bedingung dafür: ein negativer Corona-Test, höchstens 24 Stunden alt. Auch die tägliche Jagd der Chinesen nach negativen Corona-Testergebnissen dokumentiert @songpinganq. Die Videos aus der 6-Millionen-Einwohner-Stadt Huizhou in der Provinz Guangdong zeigen, wie Menschenmassen nachts durch die Straßen strömen, um sich testen zu lassen.
Ein grüner QR-Code ist in China nämlich längst zur grundsätzlichen Lebensbedingung geworden: Egal ob im öffentlichen Nahverkehr, in Supermärkten oder am Arbeitsplatz – ohne grünen QR-Code geht nichts. Auch, dass chinesische Behörden das QR-Code-System zur Niederschlagung von Protesten missbrauchen, ist längst Realität geworden. Nicht wenige kritische Chinesen glauben, dass diese Realität auch zur postpandemischen Normalität wird. (Quelle)
Junge Chinesen fliehen vor Pekings Zero-Covid-Politik
Während in sogenannten Hochrisikogebieten die Menschen in ihren Häusern festgehalten werden, ist auch in Regionen, die sich nicht mehr im Lockdown befinden, die Bewegungsfreiheit der Bürger noch nicht wiederhergestellt: Menschen werden daran gehindert, ihre Stadt ohne "guten" Grund zu verlassen. Auch die Folgen dieser Unfreiheit zeigen die von @songpinganq geteilten Videos: junge Menschen, die über Stacheldrahtzäune klettern, um der ständigen behördlichen Terrorisierung zu entfliehen. Die CNN-Journalistin Selina Wang berichtet von einem jungen Chinesen, der sogar den Weg über Mexiko auf sich nahm, um in den USA Asyl beantragen zu können. (Quelle)
Als wären die Lebensumstände im chinesischen Lockdown-Totalitarismus nicht bereits menschenfeindlich genug, ist es wieder die Provinz Xinjiang, die aktuell für umso düsterere Schlagzeilen sorgt. In dem von der muslimischen Minderheit der Uiguren geprägten Gebiet beklagten Menschenrechtler schon lange vor der Corona-Pandemie die massenhafte Internierung, Folter und Verfolgung von Mitgliedern der Volksgruppe in Konzentrationslagern. Zuletzt widersprachen die geleakten "Xinjiang Police Files" der offiziellen Diktion Pekings, wonach es sich bei den Lagern lediglich um "Berufsbildungszentren" handeln würde. Jetzt mehren sich Stimmen, die besagen, dass diese chinesischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung zugenommen haben.
Zensoren fluteten wohl soziale Medien um Missstände zu verdecken
So zirkulierten kürzlich in den sozialen Medien Chinas jüngst zahlreiche Berichte über lockdownbedingte Nahrungsmittelknappheiten und Verweigerung medizinischer Dienste im Kasachischen Autonomen Bezirk Ili, der als autonome Präfektur zur Provinz Xinjiang gehört und auch Yili genannt wird. Das Online-Portal "China Digital Times", das sich auf die Veröffentlichung in China zensierter Nachrichten konzentriert, leakte in dem Kontext mutmaßliche Propaganda-Anweisungen der chinesischen Führung. Diese habe Zensoren dazu aufgefordert, die sozialen Medien in Yili, ein beliebtes Touristenziel, mit Postings über harmlose Belanglosigkeiten zu fluten, um die Beschwerden darin untergehen zu lassen, so der Vorwurf.
Verstörende Einblicke geben aber auch bereits vom Guardian übersetzte chinesische Social-Media-Beiträge. "Wir sind eingeschlossen und haben nicht genug Vorräte, aber sie haben die Touristengebiete geöffnet, helft uns, helft uns hier, helft dem einfachen Volk von Yili!", schreibt ein Nutzer. In weiteren Berichten ist die Rede von schwangeren Frauen, die aus schließenden Krankenhäusern heimgeschickt wurden. Einer anderen Frau und ihrem Neugeborenen soll die Wiedereinkehr im Krankenhaus verboten sowie einem älterem Mann, der Blut erbrochen hatte, die Notaufnahme verweigert worden sein. Sogar zu Todes- und Selbstmordfällen soll es gekommen sein.
Dystopische Pandemiepolitik, die den Überwachungsstaat perfektioniert
Während die chinesischen Behörden die Vorgänge erst geleugnet haben sollen – ein Nutzer hielt ihnen sogar vor, in dem Zusammenhang von "Fake News" gesprochen zu haben– entschuldigte sich Liu Quinghua, Vizegouverneur des betroffenen Gebiets, schließlich im Zuge einer Pressekonferenz und gab zu, dass der Lockdown zur Verweigerung medizinischer Behandlung geführt habe und, dass es zu Probleme mit der Lebensmittelverteilung gekommen sei. Die Schuld daran sprach er örtlichen Beamten zu. In der Gesamtschau ergibt sich schnell das Bild einer dystopischen Pandemiepolitik, die den chinesischen Überwachungsstaat auf zynische Weise perfektioniert. Auch in Deutschland ist man sich gemeinhin einig darin, die chinesischen Corona-Maßnahmen als drakonisch zu bezeichnen.
Dennoch muss man sich besonders hierzulande eine Frage stellen: Ist Chinas Pandemiepolitik, wenn man sie ins Verhältnis zur Größe des Landes, seiner riesigen Verwaltungseinheiten und der schieren Menge seiner Einwohner setzt, besonders in ihren grundsätzlichen Prämissen, wie zum Beispiel der Knüpfung sozialer Teilhabe an QR-Codes, wirklich so viel radikaler als die deutsche vor geraumer Zeit? Vielleicht liegt der Unterschied weniger im chinesischen Autoritarismus, als gedacht. Besonders wenn man im Zuge eines solches Vergleichs bedenkt, dass Rechte und Freiheiten der Bürger in Deutschland – im schroffen Gegensatz zu China – eigentlich als historisch erkämpftes, hohes Gut gelten sollten, ist diese Frage nämlich gar nicht mehr so leicht zu beantworten.