Politik

Die Vorbereitung auf den langen Krieg

Lesezeit: 4 min
02.10.2022 09:08  Aktualisiert: 02.10.2022 09:08
Zwar sind einige Beobachter vorsichtig optimistisch, dass die Ukraine den Krieg bis zum Frühjahr gewinnen könnte. Aber Putins jüngste Aktionen legen nahe, dass Russland sich auf einen langen Zermürbungskrieg einstellt. Angesichts weiter steigender Kosten des langen Krieges steht der Zusammenhalt Europas auf der Kippe.
Die Vorbereitung auf den langen Krieg
Angesichts weiter steigender Kosten des langen Krieges besteht die größte Herausforderung darin, die politische Unterstützung Europas zu sichern. (Foto: dpa)
Foto: Efrem Lukatsky

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Erneut wird Europa vom nuklearen Schreckgespenst heimgesucht. Letzte Woche hat der russische Präsident Wladimir Putin die Mobilmachung von etwa 300.000 Reservisten angeordnet und angekündigt, er werde „alle verfügbaren Mittel“ anwenden, um Russland zu verteidigen – wobei er hinzufügte: „Das ist kein Bluff.“ Wie ein führender europäischer Politiker mir gegenüber bemerkte, ist eine solche nukleare Risikopolitik eine Einladung, alte Schinken aus dem Kalten Krieg – wie Herman Kahns On Thermonuclear War – aus dem Bücherschrank zu nehmen.

Zwar sind – in der Euphorie nach den jüngsten ukrainischen Erfolgen – einige Kommentatoren vorsichtig optimistisch, dass die Ukraine den Krieg bis zum Frühjahr gewinnen könnte. Aber Putins jüngste Aktionen legen nahe, dass Russland sich auf einen langen Zermürbungskrieg einstellt. Nicht nur äußert er immer schrillere Drohungen, sondern er hat auch zwei bedeutende Asymmetrien verringert, die den Konflikt bislang bestimmt haben: Die erste war die Diskrepanz zwischen Russland „Spezialoperation“ und der Tatsache, dass die ukrainische Reaktion darauf von der ganzen Gesellschaft mitgetragen wird. 300.000 weitere Soldaten mögen zwar nicht ausreichen, um Kiew zu besiegen oder die Ukraine zu besetzen, aber dafür, dass Russland weiterhin im Spiel bleibt.

Auch die internationale Unterstützung war bisher sehr asymmetrisch. Hätte die Ukraine nicht aus Europa und den Vereinigten Staaten militärische Ausrüstung, geheimdienstliche Informationen und wirtschaftliche Hilfe in Milliardenhöhe bekommen, wäre sie schon vor vielen Monaten von der Landkarte verschwunden. Russland hingegen musste sich massiv bemühen, überhaupt nennenswerte ausländische Unterstützung zu erhalten. Aber auf dem jüngsten Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand konnte Putin Kollegen wie den chinesischen Präsidenten Xi Jinping, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko und den iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi für sich gewinnen.

China steht weiterhin hinter Putin

Putins wichtigster Förderer ist Xi, der weiterhin hinter ihm steht. Wie ich bei Gesprächen mit chinesischen Akademikern in diesem Sommer erfuhr, scheint China die Lage in der Ukraine als „Stellvertreterkrieg“ für seinen eigenen Kalten Krieg gegen die USA zu sehen. Eine Lektion aus dem ursprünglichen Kalten Krieg besteht darin, dass, wenn in einem Stellvertreterkrieg beide Seiten genug Unterstützung erhalten, keine Seite jemals die Oberhand gewinnen wird. Während diese Tatsache für die Ukrainer ein Argument für weitere westliche Waffenlieferungen war, könnte sich auch China ermutigt fühlen, seine praktische Unterstützung Russlands (insbesondere durch Fahrzeuge und Halbleiter) zu verstärken.

Bewegt sich der Konflikt in diese Richtung, wissen wir, was das Ergebnis sein wird: Die Menschen aus Korea, Vietnam, Guatemala, Afghanistan, Angola und vielen anderen Orten kennen den Schrecken der Stellvertreterkriege nur zu gut, die sich über Jahre oder gar Jahrzehnte hingezogen, ihre Volkswirtschaften zerstört und die jüngeren Generationen um ihre Zukunft gebracht haben.

ECFR hat einen „Leopard-Plan“ entwickelt

Kurzfristig muss der Westen allerdings dafür sorgen, dass er sich von Putins Eskalationsdrohungen nicht einschüchtern lässt. Wie meine Kollegen beim European Council on Foreign Relations (ECFR) gezeigt haben, kann Europa einen langen Krieg durchhalten – wenn es eine umfassende Strategie dafür hat, die Ukraine mit militärischen Mitteln, Sicherheitsgarantien und wirtschaftlicher Unterstützung zu versorgen.

Für den ersten Punkt hat der ECFR einen „Leopard-Plan“ entwickelt, um die Ukraine mit dringend benötigten Panzerfahrzeugen auszurüsten. Außerdem enthält der Plan konkrete Ideen, wie das Land, wenn seine alten sowjetischen Reserven zur Neige gehen, nach und nach mit mehr westlichen Technologien beliefert werden kann. Dies erfordert aber nicht nur sorgfältige Planung und Ausführung, sondern auch Geld. Angesichts dessen, dass die ukrainische Armee größer als die Bundeswehr (die größte Landeinsatztruppe der EU) ist und dass sie mehr bewaffnete Truppen hat als Großbritannien, Frankreich und Deutschland zusammen, schätzen wir, dass das Land etwa 100 Milliarden Euro Militärhilfe benötigt.

Ukraine braucht Sicherheitsgarantien

Zweitens braucht die Ukraine, um einem Abkommen zum Ende des Kriegs zustimmen zu können, langfristige und glaubwürdige Sicherheitsgarantien. Dafür haben meine Kollegen ein System entwickelt, das aus formalen Unterstützungszusagen, Konsultationsmechanismen, Lieferversprechen und Sanktionsdrohungen besteht. Diese sollten nur für Gebiete gelten, die vollständig unter ukrainischer Kontrolle stehen, damit die Politiker des Landes zur Einigung auf ein Abkommen keine besetzen Gebiete anerkennen müssen.

Und schließlich muss die wirtschaftliche Unterstützung nicht nur die Kosten zum Wiederaufbau des Landes und seine Integration in die Europäische Union umfassen, sondern auch den laufenden Bedarf des ukrainischen Staats. Momentan decken die Steuereinnahmen nur 40% der öffentlichen Ausgaben, was eine monatliche Finanzierungslücke von fünf Milliarden Dollar übrig lässt.

Politische Unterstützung große Herausforderung

Angesichts weiter steigender Kosten des langen Krieges wird die größte Herausforderung darin bestehen, die politische Unterstützung Europas zu sichern. Laut unserer Schätzungen könnte die oben beschriebene Unterstützung der Ukraine über 700 Milliarden Euro kosten. Dies ist mehr als der Wiederaufbauplan der EU nach der Pandemie gekostet hat, der bereits als revolutionärer Schritt betrachtet wurde, obwohl er sich auf alle Mitgliedsländer verteilt. Um diese Unterstützung für einen einzigen Nichtmitgliedstaat aufzubringen, ist heldenhafte politische Führung erforderlich.

Darüber hinaus wird der Winter steigende Energierechnungen und höhere Kosten für wohnbedürftige ukrainische Flüchtlinge bringen. In Italien und Bulgarien gab es bereits Regierungswechsel, und die radikale Rechte wird immer mehr zu einer neuen populistischen Welle. Die europäischen Staatschefs müssen nicht nur ihre Bevölkerungen auf einen langen Krieg vorbereiten, sondern auch weiterhin nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Auch wenn sie zeigen, dass sie den ukrainischen Kampf langfristig unterstützen, müssen sie ihre Hilfsleistungen so strukturieren, dass sie die Tür für eine eventuelle Einigung offenlassen. Ein endloser Stellvertreterkrieg ist so ziemlich das letzte Szenario, dass wir anstreben sollten.

Zur Person: Mark Leonard ist Direktor des European Council on Foreign Relations und Verfasser von The Age of Unpeace: How Connectivity Causes Conflict (Bantam Press, 2021).

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Copyright: Project Syndicate, 2022

www.project-syndicate.org


Mehr zum Thema:  

DWN
Panorama
Panorama DHL-Frachtflugzeug stürzt bei Vilnius ab – Tote und Verletzte
25.11.2024

Schrecklicher Absturz eines DHL-Frachtflugzeugs in der Nähe von Vilnius, Litauen. Mindestens eine Person ist ums Leben gekommen, drei...

DWN
Politik
Politik SPD will K-Frage mit Scholz-Nominierung abschließen
25.11.2024

Die SPD zieht einen Schlussstrich unter die K-Frage: Olaf Scholz wird erneut als Kanzlerkandidat nominiert, nachdem Boris Pistorius auf...

DWN
Politik
Politik Abwärts für Wagenknecht und Mohamed Ali: Warum das BSW plötzlich schwächelt
25.11.2024

Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat im ersten Jahr sensationelle Erfolge gefeiert. In Thüringen und Brandenburg sitzt das BSW bald auf der...

DWN
Technologie
Technologie Energiewende Deutschland: "Die Industrie braucht einen klaren Kurs"
25.11.2024

Die Energiewende Deutschland bringt keine Klarheit für die Industrie, Investitionen in die Infrastruktur wurden versäumt. Doch wie...

DWN
Politik
Politik Flüchtlingswellen und Wirtschaftskrisen: Was ein Zerfall der Levante für Deutschland bedeuten würde
24.11.2024

Die Levante könnte sich zur Achillesferse Europas entwickeln, wenn sich der schwelende Konflikt zwischen Israel und Iran zu einem...

DWN
Panorama
Panorama Alarmierende Umfrage: Kriege und Klimakrise belasten Schüler in Deutschland
24.11.2024

Eine neue Umfrage zeigt: Viele Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind von Sorgen geplagt. Kriege, Klimakrise und Leistungsdruck...

DWN
Politik
Politik Nato-Generalsekretär trifft sich in Florida mit Trump
24.11.2024

Die zweite Amtszeit von Donald Trump wird in der Nato von vielen Alliierten mit Sorge gesehen. Schon vor dem Machtwechsel reist der...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Leerstand in Innenstädten: Decathlon setzt auf Expansion gegen die Krise
24.11.2024

Leerstand prägt deutsche Innenstädte. Doch Decathlon sieht Chancen: Bis 2027 sollen mehr als 60 neue Filialen entstehen – viele davon...