Die meisten Unternehmen und Haushalte in Europa konzentrieren sich derzeit darauf, dass sie diesen Winter möglichst wenig frieren müssen und zahlungsfähig bleiben. Wenige denken derzeit schon an den nächsten Winter. Die Politik macht zusätzliche Schulden in Milliardenhöhe, um damit Programme auf den Weg zu bringen, die etwas gegen die hohen Preise bewirken sollen.
Anfang September einigte sich die deutsche Bundesregierung auf ein neues Maßnahmenpaket im Wert von 65 Milliarden Euro, das diese Woche um weitere 200 Milliarden Euro aufgestockt wurde. Italiens neue Regierung wird sofort unter Druck geraten, die dortigen Hilfspakete zu erhöhen, die sich jetzt schon auf 3 Prozent der Wirtschaftskraft belaufen. Doch Gelddrucken ist begrenzt wirksam, um fehlende Energie zu beschaffen.
Die große Energiekrise kommt erst noch
Die Krise in Europa wird im Frühjahr nicht enden. Goldman Sachs hat kürzlich prognostiziert, dass die Gaspreise im nächsten Sommer bei 235 Euro pro Megawattstunde liegen werden, also noch deutlich höher als heute. Vor der Corona-Pandemie lag der Gaspreis bei 20 Euro. Die deutschen Stromterminkontrakte für das vierte Quartal 2023 sind teurer als für das vierte Quartal dieses Jahres.
In Frankreich hoffen die politischen Entscheidungsträger, dass die zahlreichen Kernreaktoren in dem Land, die noch immer wegen Wartungs- und Reparaturarbeiten abgeschaltet sind, im kommenden Jahr wieder in Betrieb genommen werden können. Doch selbst in Frankreich ist die eigentliche Sorge der nächste Winter und nicht dieser, zitiert der Economist einen dortigen Energiechef.
Es gibt mehrere Gründe, warum die Energiepreise wahrscheinlich hoch bleiben werden. Wenn der Winter besonders kalt ist, könnten die europäischen Gasspeicher im März praktisch leer sein. Im Jahr 2022 wurden sie mit russischem Gas gefüllt, bis Russland die Lieferungen im Sommer als Reaktion auf die Sanktionen einstellte. Da die Lieferungen 2023 wohl nicht wieder aufgenommen werden, müssen die europäischen Speicher mit Gas aus anderen Ländern aufgefüllt werden.
Analysten zufolge wird jedoch vor 2024 kaum mit zusätzlichen Lieferungen auf den Weltmärkten zu rechnen sein. Der in dieser Woche erfolgte Anschlag auf die Unterwasserpipelines Nord Stream 1 und 2, möglicherweise durch die USA, ist ein weiterer Grund für die Sorge, dass die Versorgung im nächsten Jahr eingeschränkt werden könnte, ebenso wie die geplanten Schließungen von Anlagen in Norwegen wegen Wartungsarbeiten.
Immerhin verbessert sich die Kapazität zur Abwicklung von Gas-Importen. Ein schwimmendes LNG-Terminal in Eemshaven an der niederländischen Küste wurde gerade in Betrieb genommen, und Deutschland ist auf dem besten Weg, in diesem Jahr zwei weitere Terminals zu öffnen. So könnten die Vereinigten Arabischen Emirate Deutschland mit Flüssiggas beliefern.
Eine lang erwartete Pipeline, die Norwegen über Dänemark mit Polen verbindet, wird im Oktober ihren Betrieb aufnehmen und künftig bis zu 10 Milliarden Kubikmeter pro Jahr pumpen. Eine neue Pipeline mit etwa der Hälfte dieser Kapazität von Polen in die Slowakei wird ebenfalls den Betrieb aufnehmen, und die deutsch-französische Verbindungsleitung wird demnächst für den Durchfluss nach Osten umgerüstet.
Streit um LNG wird in Europa sehr hart
Deutschland bemüht sich um die Unterzeichnung so genannter Solidaritätsvereinbarungen mit einigen seiner Nachbarn, um die Versorgung im Falle von Engpässen in diesem Winter sicherzustellen. In der Zwischenzeit ist Berlin nicht bereit, längerfristige LNG-Verträge zu unterzeichnen, um die Versorgung aus dem Ausland zu sichern. Offenbar vertraut die Bundesregierung auf seine Kaufkraft, um LNG-Lieferungen je nach Bedarf von ärmeren Länder nach Deutschland umzuleiten.
Die hohen Gaspreise sind auch ein wichtiger Grund dafür, dass Strom in Europa weiterhin teuer sein wird. Da Frankreich in der Regel Strom exportiert, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die französische Kernkraft wieder voll ausgelastet wird, doch nach den derzeitigen Prognosen der Regierung wird dies einige Zeit in Anspruch nehmen.
Deutschland plant nur widerwillig, die Laufzeit von zwei seiner drei verbleibenden Kernkraftwerke zu verlängern, und das auch nur bis Mitte April. Polen hat die Stromexporte nach Deutschland bereits eingeschränkt, um die eigenen Strompreise zu senken und um zu vermeiden, dass zu viel Kohle verbrannt wird, auch wenn es offiziell heißt, dass dies der Sicherheit der Stromversorgung dient. Die schwedische Regierung steht unter Druck, das Gleiche zu tun.
Je länger sich die Krise hinzieht, desto schwieriger und stärker werden die politischen Konflikte in den europäischen Staaten und auch zwischen den Staaten. Gemeinsam haben die Staaten Europas den russischen Gashahn abgedreht, aber nun kämpf jeder gegen jeden, um sich möglichst viel von dem begrenzten Energieangebot zu sichern. Die Folge ist wiederum ein gemeinsamer Mangel im Jahr 2023.