Finanzen

Zentralbanken: Herrscher unserer Zeit

Lesezeit: 11 min
02.01.2023 09:00
Im Zuge der „Finanzialisierung“ unserer Welt sind die Zentralbanken zu den wichtigsten Institutionen aufgestiegen, schreibt James Livingston. Diese Machtkonzentration birgt enorme Risiken für unsere Gesellschaft.
Zentralbanken: Herrscher unserer Zeit
Der Präsident der Federal Reserve, Jerome Powell, spricht während einer Pressekonferenz im Federal Reserve Board Building. (Foto: dpa)

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Wir alle haben in den letzten Jahren von forderungsbesicherten Schuldverschreibungen, quantitativer Lockerung, Helikoptergeld, Schattenbanken, Hedge-Fonds, Private Equity, fremdfinanzierten Übernahmen, Vermögenswertblasen, Kryptowährungen und ähnlichen Dingen gehört. Vielleicht können wir sie nicht alle erklären – um ehrlich zu sein, können das die wenigsten – aber wir wissen, dass sie irgendwie mit Notenbanken oder der Hochfinanz zu tun haben. Womöglich haben wir sogar den Unterschied zwischen Fiskal- und Geldpolitik verstanden, sei sie nun diskretionär oder nicht.

Ziemlich sicher kennen wir die Namen der Leute, die diese Politik gestalten und umsetzen, wie den derzeitigen Chef der Federal Reserve, kurz Fed, d. h. der US-Notenbank Jerome Powell und seine direkten Vorgängerinnen und Vorgänger Janet Yellen, Ben Bernanke und Alan Greenspan. Wie kommt das? Warum sind uns die absichtlich unverständlichen Begriffe der Finanzwelt, die „Geheimnisse des Tempels“, wie William Greider sie nannte, so vertraut und warum haben ihre angegrauten Protagonisten den Status von VIPs?

Die kurze Antwort ist leicht: wo Banker mitmischen, sind Katastrophen scheinbar nie weit. Aber auch ohne Skandale und/oder Krisen von der Größenordnung der Wirtschaftskrise nach 2008 sind die meisten Ökonomen, Analysten und Konzernchefs der Meinung, die „Finanzialisierung“ der Wirtschaft sei der Grund, warum Banken und Banker sich so erfolgreich in unseren Alltag geschlichen haben.

Darum konnte Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert, eine langatmige, extrem ernste Parodie auf Karl Marx Das Kapital, in den USA und in vielen anderen Ländern zum Beststeller werden. Und darum waren die ersten Zeichen der Rebellion gegen dieses neue Regime in Downtown Manhattan bei der „Besetzung“ der Wall Street zu sehen.

Unter „Finanzialisierung“ verstehen diese Beobachter unterschiedliche Phänomene, zu denen Deindustrialisierung, Globalisierung und die unaufhaltsame Verschärfung der Ungleichheit in den fortgeschrittenen kapitalistischen oder „postindustriellen“ Ländern des Westens gehören. Sie hat nach einhelliger Meinung dazu geführt, dass das, was die Linke früher „Finanzkapital“ nannte, seit den 1970er Jahren zum Vorreiter für Innovationen, Sprachrohr des Neoliberalismus und dem größten Nutznießer des wirtschaftlichen Wandels werden konnte.

So ist beispielsweise der Anteil von „Finanzdienstleistungen“ an Unternehmensgewinnen, einschließlich der Bereiche Versicherungen und Immobilien, zwischen 1950 und 2005 von 10 Prozent auf 30 Prozent gestiegen und der Finanzsektor macht inzwischen 20 Prozent des BIP aus. Private-Equity-Firmen wie Kohlberg Kravis Roberts (KKR) verwalten heute 11 Prozent aller Gelder in amerikanischen Rentenfonds und damit ungefähr 500 Milliarden US-Dollar. Gemeinsam kontrollieren die drei größten Indexfonds – BlackRock, Vanguard und State Street – Aktiva im Wert von über 20 Billionen US-Dollar. Damit sind sie bei 40 Prozent aller an der Börse gehandelten Unternehmen in den USA und bei 90 Prozent der Unternehmen im S&P 500 die größten Anteilseigner.

Diese Firmen – „Schattenbanken“, die nicht den gesetzlichen oder branchenüblichen Beschränkungen unterliegen, die die Fed ihren „Mitgliedsbanken“ auferlegen kann – haben seit Oktober 1987, als der Aktienmarkt, der dank Ronald Reagans Steuersenkungen mit brachliegendem Geld nur so überschwemmt worden war, gecrasht und in Flammen aufgegangen ist, eine Krise nach der anderen ausgelöst.

Oder besser gesagt: Weil die Fed als „Kreditgeber der letzten Instanz“ ein Sicherheitsnetz aufspannt und für die nötige Liquidität zur Auszahlung von Anlegern und Kunden sorgt, wenn sie in Panik geraten und mehr als Forderungen auf künftige Gewinne auf Papier brauchen, haben diese Firmen vom Dot-Com-Debakel des Jahres 2000 bis zur Subprimekrise von 2007-2008 eine Blase nach der anderen geschaffen. Oder, noch schlimmer, sie haben von den wirtschaftlichen Katastrophen profitiert, die diese Krisen zuverlässig auslösen.

Für Marx war dieser Furunkel, dieser leichtsinnige Umgang mit dem „Geld anderer Leute“, unvermeidlich, sobald die Einführung der Rechtsform „Gesellschaft“ die Kontrolle über Produktionsmittel von deren Besitz abtrennt. Das moderne Kreditwesen – Anteilsmärkte, Unternehmenswertpapiere, Terminhandel und so weiter – spülten „eine neue Finanzaristokratie“ nach oben: Männer, die ohne eigenes Risiko mit den Ersparnissen der kleinen Leute oder reicher Einzelpersonen oder schließlich der Unternehmen selbst, die keine anderen Abnehmer für ihre enormen Profite finden konnten, hohe Wetten eingehen.

Die Panik von 2008-2009 brachte diese neue Aristokratie wieder ins Bewusstsein der Amerikaner, weil die Wall Street nebenan eingezogen war. Diejenigen von uns mit Renten oder Hypotheken merkten, dass plötzlich ein Drittel ihres Vermögens weg war, ausgelöscht vom „irrationalen Überschwang“ der Finanzbranche, die auf (oder laut „The Big Short“ gegen) einen anhaltenden, oder sogar ewigen Anstieg der Hauspreise gewettet hatte. Ihre gewaltigen Investitionen in forderungsbesicherte Schuldverschreibungen – Hypotheken, die gebündelt und Renten- und Anlagefonds als todsichere Wertpapiere angedreht wurden – waren den Bach herunter gegangen.

Diejenigen von uns mit sicheren Jobs in der echten (nicht finanziellen) Wirtschaft merkten, dass auch wir nun von Kündigung und Arbeitslosigkeit bedroht waren. Aber warum? War Lehman Brothers nicht weg vom Fenster und waren nicht Bear Stearns und AIG, zwei andere riesige „Schattenbanken“ am Rande der Insolvenz mit Billigung und Hilfe der Fed in den Mägen von JPMorgan und der Citibank verschwunden? Wie uns Amerikanern schnell klar wurde, waren unsere Abgeordneten entschlossen, alle restlichen Banken, schattenhaft oder nicht, auf unsere (staatlichen) Kosten durch ein kompliziertes Programm mit dem Titel „Troubled Assets Relief Program“ zu retten (das ursprünglich mit 700 Milliarden US-Dollar ausgestattet war).

Dann, lange bevor irgendjemand begriffen hatte, wie weit die Fed ihr Mandat als „Kreditgeber der letzten Instanz“ bereits ausgeweitet hatte – und lange vor der vollständigen Erholung von der Wirtschaftskrise nach 2008 – kam Corona. Das Ausmaß der wirtschaftlichen Eingriffe der Fed seit der kolossalen Finanzpanik im März 2020, als Corona offiziell zur Pandemie erklärt wurde und alle dachte, das Ende der Welt stehe kurz bevor, sind fast unvorstellbar. Die Finanzmärkte haben überlebt, weil Powell nach dem Vorbild Bernankes völlig neue Wege fand, die Panik einzudämmen und wieder Vertrauen aufzubauen.

Deus ex Washington?

Diese neuen Instrumente, im Ganzen „unkonventionelle Geldpolitik“ genannt, werden in drei neuen Büchern thematisiert, die wie durch ein Wunder alles andere als unverständlich sind. Sie wurden von echten Profis geschrieben, sind aber frei von Banken-Sprech und klingen tatsächlich fast umgangssprachlich (vielleicht, weil wir vom Finanzjargon unserer Zeit inzwischen so durchdrungen sind). Alle drei Bücher lassen keinen Zweifel daran, dass es selbstregulierende Märkte schlicht und einfach nicht gibt. Wo deren Verfasser dies nicht ausdrücklich vertreten, setzen sie es entweder voraus oder zeigen es.

Lev Menands kurze Studie The Fed Unbound ist keineswegs nur eine exakte Nacherzählung dessen, was „unsere“ Notenbank getan hat, um den Kapitalismus, wie wir ihn kennen, zu retten, sondern das beste Buch über das Federal Reserve System aller Zeiten. (Ich habe sie alle gelesen und sogar selbst eines geschrieben). Menand erklärt seine Anfänge, Entwicklung und neu entdeckte Macht in einer Sprache, durch die das schwierige Thema allgemein verständlich erscheint. Genau das war es schließlich im 19. Jahrhundert, als die Amerikaner ständig über die „Geldfrage“ debattierten, weil sie, die normalen Bürger, wussten, dass sie die relevanten Fragen verstanden und entsprechend handeln konnten.

Menands Thema ist „ökonomisch“ oder genauer „finanziell“, aber seine Argumente sind hochgradig und notwendigerweise politisch. Er fragt, ob die Demokratie überleben kann, wenn nicht gewählte Amtsträger, die damit beauftragt wurden, ein System wiederzubeleben, das über Nacht plötzlich gestorben war, mit wohlmeinenden und effizienten Machenschaften rund 3 Billionen US-Dollar ausgeben, die ihnen vom Kongress durch den CARES Act und andere Gesetze bewilligt wurden (oder auch nicht).

Die Fed hat mit diesem Geld die Finanzmärkte geflutet, von Konzernen (unter anderem Apple, AT&T, Ford, Toyota und BMW) und Bundesstaaten und Gemeinden (einschließlich Illinois und New York City) herausgegebene Rentenfonds an sich gerafft und von Zentralbanken in Europa und Asien Dollarreserven aufgekauft. Wie Menand zeigt, verschärften die Rettungspakete von 2009 und 2020-2021 jedoch die Ungleichheit, weil sie alle, die Vermögen wie etwa Immobilien besaßen, und die Eigentümer der Schattenbanken ohne Unterschied belohnten, nicht jedoch Menschen mit wenigen oder keinen Ersparnissen. Indem sie das Richtige getan und das System gerettet haben, verschlimmerten Powell und der damalige Finanzminister Steven Mnuchin das zentrale Problem unserer Zeit: sie haben den Kapitalismus wiederbelebt, aber die Demokratie beschädigt.

Was also ist zu tun? Nach Menands Überzeugung, die Schattenbanken bändigen und denselben Regeln und Vorschriften unterwerfen, wie sie für „Mitgliedsbanken“ gelten. Sonst werden sie immer neue Finanzkrisen verursachen, die auf die echte Wirtschaft übergreifen. Menand, ein Juraprofessor von der Columbia University, ist womöglich keine Quelle für radikale Alternativen, wie sie 1892 von der Populist Party in ihrem Programm von Omaha vorgeschlagen wurden. Er begnügt sich mit dem Hinweis, dass „Schattenbanken die Gewinne einer von der Regierung gestützten Geldschöpfung privatisieren“ und dass die Fed inzwischen als nationale Investitionsbehörde fungiert und ihre Fähigkeit zur indikativen Planung der Wirtschaftsentwicklung ausreichend bewiesen hat. Wir können auf die Wall Street als Kommandozentrale des postindustriellen Kapitalismus verzichten: Wir haben Beamte, die das besser können als Banker.

Gierig nach Krisen

Obwohl Bernanke nie bei dieser Schlussfolgerung landet, bestätigt seine Darstellung der Ereignisse Menands Analyse. Geldpolitik des 21. Jahrhunderts ist ein abschreckender Titel – wer will schon eine Abhandlung über die Geldpolitik irgendeines Jahrhunderts lesen?

Bernanke hat jedoch eine „Plattform“, wie Verleger sagen, weil er an der Schaffung der entfesselten Fed beteiligt war, also der Fed, die vor, während und nach der Wirtschaftskrise Schattenbanken am Leben gehalten hat. Das heißt, seine Bücher verkaufen sich auch dann, wenn sie langweilig sind. Er behandelt in etwa dieselben Dinge wie Menand. Weil er jedoch an der Princeton Universität gelehrt hat, bevor er von George W. Bush in seinen Beraterstab berufen und später zum Vorsitzenden der Fed befördert wurde, spickt er seinen Bericht mit mehr Wirtschaftstheorie und Pseudogeschichte. Die interessantesten Kapitel des Buchs behandeln demnach die Ursachen der Panik und der Krisen, mit denen er sich auseinandersetzen musste, eine Frage, die Menand ignoriert.

Hier zitiert sich Bernanke ausgiebig und schamlos selbst – und das ist gut so, weil seine Diagnose einer „globalen Ersparnisschwemme“ die Basis für die derzeit beste, theoretische und faktische, Erklärung der weltweiten Wirtschaftskrise bietet. Der Begriff „Schwemme“ bezieht sich auf die immer größer werdende Kluft zwischen den Einkünften – Einnahmen, Gewinnen, Abschreibungsfonds und so weiter – und Investitionen von Unternehmen.

Diese Kluft spiegelt sich in den gewaltigen Geldbeträge wider, auf denen Konzerne wie Apple sitzen, oder in den Aktienrückkäufen, die die Wertpapierpreise aufblähen und die Gehälter der Vorstände in majestätische Höhen treiben. Und sie wirft eine offensichtliche Frage auf, die in diesem und allen bisherigen Büchern über das Bankwesen nicht gestellt wird. Wenn Profite so sinnlos sind, wie die „globale Ersparnisschwemme“ meint, ist die „Liebe zum Geld“ dann in den Worten von John Maynard Keynes eine „leicht ekelhafte Krankheit“?

Als Erklärung für chronische Wirtschaftskrisen passt die „globale Ersparnisschwemme“ zu den Thesen von Larry Summers und Robert Gordon, zwei postkeynesianischen „Stagnationisten“, die glauben, dass sich das Wirtschaftswachstum immer weiter verlangsamt, weil die Innovationsrate und die Zahl neuer Investitionsmöglichkeiten immer weiter abnimmt.

Und sie passt zu den Ideen des herausragenden Kommentators der Financial Times Martin Wolf, der selbst eine Art Keynesianer ist, und übrigens auch zu denen von Bernankes Vorgänger Greenspan, dem ersten und einzigen Jünger Ayn Rands an der Spitze der Fed. Und es ist eine Erklärung, die mit den Theorien von Charles Conant, dem wichtigsten intellektuellen Architekten des Federal Reserve System, übereinstimmt. Er überzeugte seine Zeitgenossen, dass überschüssiges Kapital, also Geld, das ungenutzt bleibt, weil produktive Investitionsmöglichkeiten fehlen, und dann ruhelos nach lukrativen Erträgen sucht und Spekulationsblasen auslöst, die eigentliche Ursache moderner Wirtschaftskrisen darstellt. Die „globale Ersparnisschwemme“ ist ein neuer Name für Conants Überlegungen.

In diesem Sinne bringt uns Bernanke zum Gründungsmoment zurück und erinnert uns daran, dass die Fed Ausdruck der Idee ist, dass der Markt, wenn er sich selbst überlassen wird, alles zerstört, mit dem er in Kontakt kommt, und sogar sich selbst. Greenspan selbst hat uns gewarnt: „Denken Sie daran, dass Märkte kein Selbstzweck sind. Sie sind Konstrukte, die es den Menschen erleichtern, ihre Ressourcen optimal zu nutzen.“ Bernanke und Menand würden dem aus vollem Herzen zustimmen und, da bin ich sicher, den Begriff „Ressourcen“ so weit fassen, dass er auch immaterielle Güter wie Literatur und Ideen einschließt.

Der zentrale Plan der Zentralbanken

Edward Chancellors Buch The Price of Time hat von den drei hier besprochenen Werken den am spannendsten klingenden Titel. Leider löst sein Inhalt das Versprechen der Verpackung nicht ganz ein, obwohl der lebhafte, knappe Stil des Autors und die zielstrebige, man könnte auch sagen monomanische, Verfolgung seiner intellektuellen Beute das Buch zu einer leichten, fast genussvollen Lektüre macht.

Seine Argumentation ist ziemlich einfach. Fast jeder „große Geist“ seit Plato hat das Verleihen von Geld gegen Zinsen scharf abgelehnt. Sie alle haben sich jedoch geirrt, weil es ohne diese ehrbaren Mittler keine Ersparnisse, keine Investitionen, keine Steigerung von Produktivität oder Einkommen, keine Moderne und keinen Kapitalismus gäbe. Man könnte sogar noch weiter gehen. Der Anthropologe David Graeber hat überzeugend gezeigt, dass Schulden in der Menschheitsgeschichte ein uraltes Instrument sind, das schon im 14. Jahrhundert vor Christus genutzt wurde. Ohne dass Geld (oder irgendetwas anderes – wie es aussieht, geht auch Vieh oder Saatgut) gegen Zinsen verliehen wird, gäbe es keine menschliche Zivilisation in unserem Sinne.

So sind die Helden in Chancellors Geschichte, in chronologischer Reihenfolge, Elisabeth I., die 1571 das Verbot von Zinswucher aufgehoben hat; John Locke, der dachte, niedrige Zinssätze würden Witwen und Waisen die Rente wegnehmen; Daniel Defoe, der gegen John Law, den Erfinder des modernen Zentralbankensystems im 18. Jahrhundert (die Zinssätze um jeden Preis unten halten!) agitierte; Anne Robert Jacques Turgot, der berühmte Physiokrat; Benjamin Franklin, der sprichwörtlich Zeit und Geld gleichsetzte (nach Thomas Wilson, einem Zinskritiker des 16. Jahrhunderts); Claude-Frédéric Bastiat, der sich, wie Marx, über Proudhons Vorschlag, alle Schulden zu erlassen und Zinsen komplett abzuschaffen, lustig gemacht hat; Walter Bagehot, der verehrte Autor von Lombard Street (1873) – und natürlich Eugen von Böhm-Bawerk und sein Schüler Friedrich von Hayek, die Chancellor zufolge beide geglaubt haben, dass „sich die kulturelle Stufe einer Nation in ihrem Zinssatz widerspiegelt“.

Und Nein, das ist nicht als Witz gemeint. Chancellor durchforstet die gesamte Geschichtsschreibung nach Beweisen, dass künstlich niedrige Zinssätze – die von dem (nicht „einem“) natürlichen Zinssatz, der von anonymen Marktkräften bestimmt wird, abweichen – ein Symptom der Dekadenz und Vorboten des nahenden Untergangs sind.

„In Babylon, Griechenland und Rom folgten die Zinssätze über die Jahrhunderte einer U-förmigen Kurve. Sie sind gesunken, solange sich diese Zivilisationen etablierten und blühten, und stiegen in Zeiten des Nieder- und Untergangs rasant an. Sehr niedrige Zinssätze sind anscheinend die Ruhe vor dem Sturm. […] Angesichts der außergewöhnlich niedrigen Zinssätze im frühen 21. Jahrhundert ist das ein beunruhigender Gedanke.“ Nein, ist es nicht. Und er wird von Chancellors eigener Darstellung des aufstrebenden Westeuropas im 16. und 17. Jahrhundert widerlegt, in dem die Zinssätze die meiste Zeit niedrig waren. Auch behauptet niemand, dort sei im 18. oder 19. Jahrhundert die Zivilisation zusammengebrochen.

Chancellor gibt zu, dass er nicht der erste ist, der in diese Kerbe schlägt: Tatsächlich ist sein Buch ein Kompendium von Aussagen zum Thema Zinsen, eine Art Geflügelte Worte für Analysenfanatiker und Finanzgeeks, die genauso felsenfest wie der Autor an entfesselte Märkte ohne jede Beschränkung durch gesellschaftliche Ziele oder Regulierungsbehörden glauben (außer als kurzfristige Maßnahme in einer tiefen Wirtschaftskrise).

Seine Neuheit, falls dies das richtige Wort ist, steckt in der unerbittlichen Wiederholung der Idee, dass Zinssätze, die mit leichtem Geld niedrig gehalten werden – ausnahmslos durch Fehler einer Art Zentralbank, die zu viel Papiergeld in Umlauf bringt – zu Spekulationsblasen, Krisen, wirtschaftlichen Katastrophen und mehr Ungleichheit führen. Die Südseeblase und ihr französisches Gegenstück, John Laws skandalöse Mississippi-Blase, wurden Chancellor und den von ihm zitierten zeitgenössischen Autoritäten zufolge zur Schablone für dieses Muster und die Instrumente moderner Zentralbanken, die es verstärken.

So gesehen war die Finanzpanik von 2008 und 2009 die Generalprobe für den massiven Zusammenbruch im Jahr 2020. Die Pandemie löst sich einfach in Luft auf und wird als wahrscheinliche Ursache der Krise durch die Machenschaften von Greenspan, Bernanke (vor allem Bernanke!), Yellen und Powell ersetzt. Beide Ereignisse wurden durch eine krasse Abweichung von „dem“ natürlichen Zinssatz verursacht und weder durch eine Schwemme überflüssigen Kapitals noch durch eine profane Stagnation und ganz sicher nicht durch die katastrophalen Auswirkungen der Coronapandemie. Die Zentralbanker waren von Laws Geist besessen, nicht von Bagehots.

Zum Schluss singt Chancellor noch ein Loblied auf Hayeks Bestseller Der Weg zur Knechtschaft. Ein passendes Ende für ein Buch, das Recht, Gebräuche und die Regierung selbst wie Eindringlinge, oder besser Invasoren, in den heiligen Hallen des Marktes behandelt, in denen nur Freiheit, Eigentum und Jeremy Bentham – ja, auch der wird mit demselben Tenor zitiert, wie die anderen – herrschen dürfen. Hayeks zentraler These zufolge muss „eine Regierung, die die wirtschaftliche Tätigkeit lenken will, ihre Macht nutzen, um irgendein Ideal von Verteilungsgerechtigkeit zu verwirklichen.“

Die konkurrierenden Ideale könnten nur durch „absolute Gleichheit“ unter einen Hut gebracht werden, die ihrerseits Initiativgeist, Ehrgeiz und jedes andere Charaktermerkmal zerstören würde, von denen der Kapitalismus, und mit ihm die Freiheit selbst, leben. Chancellor formuliert diese Aussage um und weist darauf hin, dass Hayeks Furcht vor der Planwirtschaft auf Zentralbanken übertragen werden sollte: „Planwirtschaft im 21. Jahrhundert beinhaltet die Manipulation des wichtigsten Preises in einer Marktwirtschaft, des universellen Preisen, nämlich des Zinssatzes.“

Das klingt absurd, enthält aber genug Wahrheit, um diese Behauptung, wenn auch nicht zu übernehmen, dann doch zumindest nicht gleich von der Hand zu weisen. In jedem Fall widerspricht sie nicht der Argumentation von Menand und Bernanke, und ebenso wenig der von Marx und Greenspan. Genau wie sie nimmt Chancellor, wenn auch äußerst widerwillig, an oder besser: legt er nahe, dass die Fed und ihre politischen Ableger die intellektuellen Fähigkeiten und die rechtlichen Befugnisse besitzen, um als Medium einer indikativen Planung zu fungieren, mit der die wirtschaftlichen Vorgänge koordiniert und zur Erreichung demokratisch beschlossener gesellschaftlicher Zwecke eingesetzt werden können.

Bernankes mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Forschung über Bankenkrisen als Ursache und nicht nur als Konsequenz tiefer Wirtschaftskrisen ist ein typisches Beispiel. Nach einhelliger Meinung agieren Zentralbanken, und insbesondere die Fed, weil der Dollar immer noch die weltweite Leitwährung darstellt, bereits jetzt wie Investitionsbehörden. Ihre jüngsten Rettungsmaßnahmen haben jedoch die wirtschaftliche Ungleichheit verstärkt und nichts oder jedenfalls zu wenig für den Klimaschutz getan.

Wenn wir diese offensichtlichen und trotzdem unbekannten Wahrheiten erkennen und entsprechend handeln, können wir das gesprochene Versprechen der Fed erfüllen. Dafür müssen wir aber, wie Menard uns erklärt, zuerst anerkennen, was unsere Vorfahren im 19. Jahrhundert bereits wussten: Dass die Aufgabe, die vor uns liegt, ein politisches Projekt ist, über das wir alle mit demokratischen Mitteln entscheiden müssen.

James Livingston ist Professor der Geschichte an der Rutgers University und Autor von sechs Büchern, zu denen Origins of the Federal Reserve System: Money, Class, and Corporate Capitalism, 1890-1913 (Cornell University Press, 1989) und das in Kürze erscheinende The Intellectual Earthquake: How Pragmatism Changed the World, 1898-2008 (University of Chicago Press) gehören.

Copyright: Project Syndicate, 2022.

www.project-syndicate.org


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