Am 9. November 2022 veröffentlichte die EU-Kommission einen Entwurf zur Reform des wirtschaftlichen Steuerungsrahmens der EU. Das Dokument sieht u. a. einen stärker integrierten Ansatz zur wirtschaftspolitischen Überwachung durch die EU, mehr nationale Eigenverantwortung, vereinfachte Regeln zur Steuerung von Haushaltsrisiken und eine bessere Durchsetzung dieser Regeln vor. Doch wecken die Details des Vorschlags Zweifel an der Erreichbarkeit dieser Ziele. Insbesondere lässt die Fiskalkomponente des Vorschlags drei grundlegende Fragen unbeantwortet.
Die erste Frage ist, ob die neuen Regeln Staatsinsolvenzen verhindern würden. In 2021 wiesen sieben Euroländer eine gesamtstaatliche Bruttoverschuldung von mehr als 100 % vom BIP auf. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bevor die Finanzmärkte bezüglich der Tragfähigkeit der Schulden einiger dieser Länder nervös werden. Doch ist die von der Kommission vorgeschlagene Methode zum Umgang mit einer Überschuldung sogar noch großzügiger als die bestehende Methode im Rahmen des Stabilität- und Wachstumspaktes (SWP).
Der Entwurf verwirft die bisherige „Zwanzigstel-Regel“ zum Schuldenabbau mit der Begründung, die Vorgabe an die Regierungen, ihre Schulden jährlich um ein Zwanzigstel des 60 % vom BIP übersteigenden Betrags abzugeben, sei zu anspruchsvoll. Stattdessen möchte die Kommission, dass Mitgliedstaaten mit „erheblichen“ oder „mittleren“ Schuldenherausforderungen ein mittelfristiges haushaltspolitisches Programm aushandeln, das einen plausiblen Pfad zum Schuldenabbau umfasst. Das Dokument führt weder das Tempo der haushaltspolitischen Anpassung näher aus – das zu einem späteren Zeitpunkt in der Methodik zur Analyse der Schuldentragfähigkeit erläutert werden soll – noch nennt es die Kriterien für die Einstufung von Schuldenherausforderungen als „erheblich“, „mittel“ oder „niedrig“.
Eine zweite Frage betrifft das in dem Entwurf gemachte Versprechen größerer Einfachheit. Die alten Regeln wurden als zu kompliziert kritisiert und auch, weil sie sich auf unscharfe Kategorien wie das Produktionspotenzial oder die zyklisch angepasste Haushaltslage stützten. Da sich diese Kennzahlen nur schwer messen und vorhersagen lassen, führte ihre Erstellung ständig zu willkürlichen Annahmen und methodischen Zweifeln.
Auch hier würde der neue Steuerungsrahmen noch weiter in die falsche Richtung führen. Die Mitgliedstaaten sollen ein mittelfristiges haushaltspolitisches Programm vorlegen, das auf einem von der Kommission nach Durchführung einer Analyse der Schuldentragfähigkeit vorgelegten mehrjährigen Anpassungspfad basiert. Diese Vorschläge sollen dann mit der Kommission verhandelt und anschließend vom Rat für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) endgültig genehmigt werden.
Auf den ersten Blick sieht dieser Ansatz ansprechend aus, denn er weicht von der aktuellen Praxis ab, die alles über einen Kamm schert. Doch angesichts des verpflichtenden Charakters haushaltspolitischer Anpassungsprogramme, die mit potenziellen Sanktionen unterlegt sind, wird ein stärker individualisierter Ansatz unweigerlich zu viel mehr Gefeilsche zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission (und potenziell ECOFIN) führen. Schließlich könnten viele unterschiedliche Annahmen und Variablen in die Verhandlungen einfließen – von der Analyse der Schuldentragfähigkeit, dem haushaltspolitischen Anpassungspfad und seinen Auswirkungen auf das Wachstum bis hin zu Faktoren wie der gesamtwirtschaftlichen Lage und besonderen haushaltpolitischen Notwendigkeiten (etwa in Bezug auf die ökologische Wende).
Weiter kompliziert wird die Lage dadurch, dass der SWP in erster Linie tatsächliche Variablen überwacht, während der neue Überwachungsrahmen weitgehend auf Basis von Prognosen operieren soll. Wirtschaftsprognosen können offensichtlich allen möglichen Fehlern und falschen Annahmen unterliegen und vor allem unerwartete Schocks nicht vorhersagen.
Der Zwang, die Haushaltspolitik in Übereinstimmung mit mittelfristigen haushaltspolitischen Programmen zu gestalten (mit potenziellen Sanktionen im Falle der Zielverfehlung), setzt den Mitgliedstaaten starke Anreize, sich bei den Verhandlungen um weniger ehrgeizige Anpassungspfade zu bemühen und rosigere gesamtwirtschaftliche Prognosen vorzulegen. Und während die Kommission versuchen wird, auf ehrgeizigere Pfade zu drängen, um das Risiko von Haushaltskrisen zu vermeiden, haben die Mitgliedstaaten in diesem überkomplizierten Prozess einem Informationsvorteil, weil sie die Lage in ihren Ländern besser einschätzen können als irgendjemand sonst. Und wir wissen aus Erfahrung, dass größere, politisch einflussreichere Mitgliedstaaten tendenziell eine Vorzugsbehandlung erfahren werden.
Die dritte Frage betrifft den mangelnden politischen Willen zur Durchsetzung der Haushaltsregeln. Zwischen 1997 (zwei Jahre vor Einführung des Euro) und 2021 übertraf das gesamtstaatliche Haushaltsdefizit in den Euroländern in 143 von 394 beobachteten Fällen 3 % vom BIP (das im Vertrag über die Arbeitsweise der EU festgelegte Höchstniveau). Griechenland und Portugal verstießen in 18 dieser Jahre gegen die Defizitgrenze, Frankreich in 17 und Spanien in zwölf.
In ähnlicher Weise übertraf die gesamtstaatliche Bruttoverschuldung die Grenze von 60 % vom BIP in 229 von 394 beobachteten Fällen. Österreich, Belgien, Griechenland und Italien verzeichneten nie eine unter dieser Schwelle liegende Verschuldung, und Frankreich nur zwei Mal (2000 und 2001). Portugals Staatsverschuldung überstieg die Grenze 20 Jahre lang, und Deutschlands 19 Jahre lang. Die Zahl der Euroländer mit Schulden von mehr als 60 % vom BIP ist von zwölf stetig auf 19 (2021) gestiegen.
Noch wichtiger: Trotz der zahlreichen Verstöße gegen die Defizit- und Schuldengrenzen des Vertrags wurden die im SWP vorgesehenen Sanktionen nie umgesetzt. Die Euroländer haben, was kollektives Handeln angeht, eindeutig ein Problem, das in jeder Debatte über die künftige Haushaltsdisziplin direkt angesprochen werden muss. (So gesehen erscheint auch der Vorschlag der Kommission zur Einführung über die Reputation wirkender Sanktionen problematisch, und zwar sowohl was die potenzielle Wirksamkeit als auch was die politische Akzeptanz angeht.)
Haushaltsdisziplin ist für die Stabilität des Euro und, allgemeiner, die finanzielle und gesamtwirtschaftliche Stabilität der EU zentral. Jeder neue Steuerungsrahmen muss die Gefahr grenzübergreifender negativer Übertragungseffekte und Ansteckungsrisiken minimieren, vor Trittbrettfahrertum abschrecken und dem Moral-Hazard-Risiko begegnen. Die neuen Vorschläge der Kommission bleiben leider deutlich hinter diesen Erfordernissen zurück.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Marek Dabrowski ist Non-resident Fellow bei Bruegel. Er ist Gastprofessor an der Central European University in Wien und Fellow am Center for Social and Economic Research in Warschau. Er war Erster stellvertretender Finanzminister in der ersten postkommunistischen Regierung Polens.
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