Weltwirtschaft

Warum China keine Inflation hat

Lesezeit: 5 min
10.06.2023 09:33  Aktualisiert: 10.06.2023 09:33
Wegen der schwachen Weltwirtschaft lag die Inflation in China im Mai erneut nahe null. Die niedrigen Preise entlasten die chinesischen Verbraucher. Doch bald dürfte auch der Rest der Welt profitieren.
Warum China keine Inflation hat
Einkaufen in Peking. Die Inflation in China verharrt nahe null. (Foto: dpa)

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Wie das chinesische Nationale Statistikamt am Freitag mitteilte, lag die Inflation im Mai bei 0,2 Prozent, nachdem sie bereits im April bei nur 0,1 Prozent gelegen hatte. Die Erzeugerpreise - also die Preise, die Unternehmen am Werkstor verlangen - sanken im Mai um 4,6 Prozent. Dies ist der niedrigste Wert seit Anfang 2016 und der achte Monat in Folge mit Preisrückgängen. Gründe dafür sind die fallenden Rohstoffpreise und die schwache in- und ausländischer Nachfrage.

Die Inflationsdaten sind ein weiteres Anzeichen für die anhaltende Abkühlung der chinesischen Wirtschaft im Mai. Jüngste Berichte hatten gezeigt, dass das verarbeitende Gewerbe schrumpft, die Aktivität im Dienstleistungssektor nachlässt, die Exporte zum ersten Mal seit drei Monaten zurückgingen und der Immobilienmarkt eine Flaute durchmacht. Mehr als ein Fünftel der jungen Chinesen ist arbeitslos.

Die jüngste Inflationsrate liegt deutlich unter der von der chinesischen Regierung ihrer Zentralbank festgelegten Obergrenze von 3 Prozent. Zudem liegt sie weit unter den Inflationsraten anderer Staaten. In den USA verlangsamte sich die Inflation im April auf 4,9 Prozent. In Deutschland sowie in der Eurozone insgesamt, lag die jährliche Inflationsrate im Mai sogar weiterhin bei 6,1 Prozent.

Regierungsberater empfiehlt Zinssenkung

Liu Yuanchun, Präsident der Shanghai University of Finance & Economics, sprach sich am Donnerstag für eine weitere geldpolitische Lockerung durch die chinesische Zentralbank aus, wie Bloomberg berichtet. China solle die Zinssätze senken, um die Finanzierungslasten für Privatunternehmen zu verringern und die wirtschaftliche Erholung zu fördern.

Die Kreditkosten privater Unternehmen liegen weit über denen staatlicher Unternehmen. Daher sollten die Behörden nach Ansicht von Liu die Zinsen senken. "Dies wird sich positiv auf die Erholung der chinesischen Wirtschaft auswirken", sagte er am Rande des Lujiazui Forums in Shanghai. "Es wird besser sein, wenn die Zinssenkung als Teil eines Pakets von Unterstützungsmaßnahmen kommt".

Die Kreditzinsen liegen derzeit unter 1,8 Prozent für führende staatliche Unternehmen, aber bis zu 9 Prozent für viele private Firmen, sagte Liu unter Berufung auf seine eigenen Untersuchungen. Dies bedeute, dass ein Großteil des schnell wachsenden Geld- und Kreditangebots nur zwischen staatlichen Unternehmen, Regierungsbehörden und innerhalb des Finanzsystems zirkuliere, sagte er.

Liu hat sich in den letzten Jahren mehrmals mit Präsident Xi Jinping und dem früheren Premier Li Keqiang beraten. Im vergangenen Jahr beriet er das Politbüro, das oberste Entscheidungsgremium der Kommunistischen Partei, in Fragen der Kapitalregulierung.

Realzins zu hoch

China steht Liu zufolge nun auch deshalb unter Druck, die Zinsen zu senken, weil der Realzins aufgrund der sich verlangsamenden Inflation auf ein relativ hohes Niveau gestiegen ist, was die Finanzierungslast für Unternehmen und Haushalte erhöht. In den USA und Europa seien die Realzinsen dagegen aufgrund der hohen Inflation relativ niedrig. "China steht unter dem Druck, die Zinssätze auf der Grundlage des Trends der weltweiten Realzinsen zu senken."

Die realen Zinssätze messen den tatsächlichen Zinssatz unter Berücksichtigung der Inflation. Pan Gongsheng, Leiter der chinesischen Devisenaufsichtsbehörde, sagte auf derselben Veranstaltung in Shanghai, dass Chinas Realzins - berechnet durch Abzug der Inflationsrate von der Rendite zweijähriger Staatsanleihen - bei etwa 1,7 Prozent liege, was dem Wert in den USA entspreche.

Nach Ansicht von Liu sollte aber jede Zinssenkung moderat ausfallen, da es eher wichtig sei, dass die Regierung eine Geste macht. Das Risiko von Kapitalabflüssen sei gering, da die Kluft bei den Realzinsen zwischen China und den USA nicht so groß sei, wie viele glauben. Zudem sollte Peking die Staatsausgaben erhöhen, die aufgrund der hohen Schuldenlast der lokalen Regierungen und der sinkenden Einnahmen aus Landverkäufen nur langsam vorangekommen sind.

Welche Preise steigen?

Die Kerninflation, bei der die schwankungsanfälligen Lebensmittel- und Energiekosten nicht berücksichtigt werden, verlangsamte sich im Mai auf 0,6 Prozent gegenüber 0,7 Prozent im April. Die Lebensmittelpreise stiegen im Mai um 1 Prozent gegenüber dem Vorjahr, nachdem sie im April um 0,4 Prozent zugelegt hatten, da die Preise für Fleisch, Speiseöl und frisches Obst stiegen.

Der Preis für Schweinefleisch, dem Grundnahrungsmittel der meisten Chinesen und einer der Haupttreiber des Verbraucherpreisindex, ging im Mai zum ersten Mal seit einem Jahr wieder zurück, und zwar um 3,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, was die Gesamtinflationsrate um 0,04 Prozentpunkte drückte, wie das Nationale Statistikamt angibt.

Einige Analysten prognostizieren nun bereits eine Senkung der Leitzinsen bereits in der nächsten Woche sowie eine Senkung des Mindestreservesatzes der Banken in den kommenden Monaten. Die chinesische Zentralbank hat den Zinssatz für ihre einjährige mittelfristige Kreditfazilität seit September unverändert gelassen und setzt stattdessen auf andere Instrumente, darunter gezielte Kredite, um Sektoren wie kleine Unternehmen zu unterstützen.

Zinssenkung oder Konjunkturprogramme?

"Die nachlassenden Preise in China spiegeln eine Abschwächung der Nachfrage nach der Wende wider und dürften die People's Bank of China unter Druck setzen, ihre Politik zu lockern", sagt David Qu, Wirtschaftsexperte für China, gegenüber Bloomberg. "Wir gehen davon aus, dass die People's Bank of China ihren einjährigen Zinssatz am 15. Juni um 10 Basispunkte senken wird."

Eine Zinssenkung würde die Kluft zwischen den Zinssätzen in China und den USA weiter vergrößern, wo die Federal Reserve ihre straffe Geldolitik unerbittlich fortsetzt. Die im Vergleich zu den USA niedrigeren Zinssätze in China haben zu Kapitalabflüssen geführt und den Yuan belastet, der im bisherigen Jahresverlauf gegenüber dem Dollar um 3,1 Prozent gefallen ist.

Nach Ansicht von Ding Shuang, dem Chefvolkswirt für den Großraum China bei Standard Chartered, liegt die Messlatte für die Einführung breit angelegter Konjunkturmaßnahmen hoch, da Chinas Wachstumsziel von rund 5 Prozent in diesem Jahr wahrscheinlich problemlos erreichen wird. Weitere geldpolitische Anreize hätten nach Ansicht der chinesischen Führung eine "abnehmende Wirkung auf die Realwirtschaft", sagte er gegenüber Bloomberg TV.

Als Beispiel nannte Ding Shuang die jüngste Sitzung des Staatsrats der Volksrepublik China, der sich auf das konzentrierte, was das Organ als das eigentliche Problem in der chinesischen Wirtschaft ansieht, "nämlich das mangelnde Vertrauen der Privatunternehmer".

Der Gouverneur der chinesischen Zentralbank, Yi Gang, sagte auf einer Sitzung am Mittwoch, dass die Inflation in der zweiten Jahreshälfte ansteigen und im Dezember über 1 Prozent liegen werde. Die People's Bank of China werde ihre Instrumente einsetzen, um die Wirtschaft zu stützen und die Beschäftigung zu fördern, heißt es in seinen am Freitag nach den Inflationsdaten veröffentlichten Äußerungen.

Folgen für die Weltwirtschaft

Sinkende Preise in China senken auch die Preise in anderen Teilen der Welt, weil die Importe aus China billiger werden. "In gewissem Sinne exportiert China bereits Deflation in die Welt", zitiert das Wall Street Journal Carlos Casanova, Senior Asia Economist bei Union Bancaire Privée in Hongkong. Dies könnte den Druck auf die Federal Reserve und andere Zentralbanken verringern, ihre Geldpolitik zu straffen.

Die chinesischen Fabriken senken die Preise vor allem deshalb, weil das Ausland ihre Waren nicht mehr mit demselben Eifer kauft wie vor der Erhöhung der Kreditkosten durch die ausländischen Zentralbanken. Auch der erhoffte globale Konsumrausch nach dem Ende der globalen Corona-Maßnahmen, der das Wachstum in China ankurbeln sollte, hat sich nicht eingestellt.

Dies zeigt sich deutlich in der chinesischen Handelsbilanz für den Monat Mai, die sich auf lediglich 452,33 Milliarden Yuan (65,81 Milliarden Dollar) belief, gegenüber 618,44 Milliarden Yuan (90,21 Milliarden Dollar) ein Jahr zuvor. Ursache für den relativ niedrigen Handelsüberschuss ist vor allem der überraschende Rückgang der Exporte um 0,8 Prozent. Die Importe stiegen um 2,3 Prozent.

Zwar sind die Industriegewinne in China rückläufig. Doch die meisten Wirtschaftsexperten gehen dennoch davon aus, dass China das Ziel der Regierung, die Wirtschaft in diesem Jahr um 5 Prozent oder mehr zu steigern, erreichen oder übertreffen wird, weil die schwache Ausgangsbasis des Jahres 2022 zugrunde liegt, in dem sporadische Lockdowns in den chinesischen Großstädten die Wirtschaft unter Druck setzten.

Zichun Huang, China-Ökonomin bei Capital Economics, glaubt nicht, dass es in China zu einer breiten Deflation kommen werde, und rechnet damit, dass das Wachstum der Verbraucherpreise in den kommenden Monaten dank der Unterstützung durch die politischen Entscheidungsträger und eines sich verbessernden Arbeitsmarktes anziehen wird.


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