Politik

Interview: Wie die NATO mittels „Kognitiver Kriegsführung“ manipuliert

Lesezeit: 12 min
11.07.2023 19:22  Aktualisiert: 11.07.2023 19:22
Kriege richten sich nicht nur gegen fremde Länder. Mit den Methoden der „Kognitiven Kriegsführung“ rückt zunehmend auch die eigene Bevölkerung ins Visier. Sie nimmt die Psyche jedes Menschen direkt ins Visier, um unseren Verstand wie einen Computer zu „hacken“, erklärt Propagandaforscher Jonas Tögel.
Interview: Wie die NATO mittels „Kognitiver Kriegsführung“ manipuliert
Die Teilnehmer des Nato-Gipfels am 11. Juli in Litauen, darunter Jens Stoltenberg (li-re.), Nato-Generalsekretär, Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, Andrzej Duda, Präsident von Polen, Joe Biden, Präsident der USA, Olaf Scholz, Bundeskanzler von Deutschland, Antonio Costa, Premierminister von Portugal und Rishi Sunak, Premierminister von Großbritannien. (Foto: dpa)
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Kriege richten sich nicht nur gegen fremde Länder. Mit den Methoden der „Kognitiven Kriegsführung“ rückt zunehmend auch die eigene Bevölkerung ins Visier. Der Propagandaforscher Dr. Jonas Tögel beschäftigt sich in seinem neuen Buch „Kognitive Kriegsführung. Neueste Manipulationstechniken als Waffengattung der NATO“ mit der Frage, warum die meisten von uns denken, was sie denken sollen und welche Möglichkeiten wir haben, einer totalen Kontrolle zu entgehen und die Freiheit unserer Gedanken zu verteidigen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was ist Kognitive Kriegsführung?

Jonas Tögel: Die Kognitive Kriegsführung ist ein umfassendes und hochprofessionelles militärisches Programm der NATO, das „die aktuell fortschrittlichste Form der Manipulation“ (1) darstellt. Es wird seit 2020/21 von der NATO und dem Innovation-Hub der NATO vorangetrieben mit dem erklärten Ziel, den Menschen selbst als offiziellen Kriegsschauplatz festzulegen. Zusätzlich zu den fünf Kriegsschauplätzen, die es schon gibt – zu Wasser, zu Lande und in der Luft, im Internet sowie im Weltall – soll somit ein neuer, sechster Kriegsschauplatz entstehen, der entweder die „menschliche“ oder die „kognitive Sphäre“ sein wird.

Damit rückt jeder einzelne Mensch ins Visier von hochprofessionellen Manipulationswaffen, mit dem Ziel, seine Gedanken, Gefühle und Verhalten möglichst vollständig kontrollieren zu können.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Hat sich die Kognitive Kriegsführung in den Jahrzehnten nach den beiden Weltkriegen maßgeblich verändert? Und, falls ja, inwiefern?

Jonas Tögel: Die Kognitive Kriegsführung als solche gibt es unter diesem Namen erst seit kurzem, sie hat jedoch Vorläufer: Moderne Kriegspropaganda gibt es – mindestens – schon seit dem 1. Weltkrieg. Später wurde sie ergänzt durch die sogenannte Informationskriegsführung und Psychologische Operationen (PsyOps), die schon seit langem Bestandteil militärischer Operationen und Kriege sind.

Die Kognitive Kriegsführung der NATO dient als Überbegriff für all jene Manipulationsprogramme, die es schon gibt, und sie geht noch darüber hinaus – das wird von den NATO-Experten immer wieder betont. Das bedeutet, dass nun beispielsweise auch digitale Manipulation und Zukunftstechnologien in ein militärisches Programm eingebunden werden, welches den Menschen wie einen Computer „hacken“ können möchte.

Auch wird derzeit beispielsweise daran geforscht, wie man winzige Nano-Roboter in die Blutbahn von Menschen schleusen und dann deren genetische Informationen oder deren Gedanken und Gefühle gezielt von außen steuern kann – ganz so, wie man mit einer Fernsteuerung ein Spielzeugauto lenkt. Noch ist eine solche totale Kontrolle Zukunftsmusik, es ist jedoch beunruhigend, mit welcher Entschlossenheit von militärischer Seite an entsprechenden Möglichkeiten geforscht wird.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wer ist in den NATO-Ländern für die Planung der kognitiven Kriegsführung verantwortlich und welche Ressourcen stehen ihnen zur Verfügung?

Jonas Tögel: Die ersten Veröffentlichungen zur Kognitiven Kriegsführung stammen von sogenannten „Innovation-Hub“, einem NATO-nahen und von der NATO finanzierten Think Tank. Diese dienten dazu, den obersten Führungsreihen des Militärbündnisses, wie beispielsweise dem Oberkommandierenden des Allied Command Transformation (ACT), das verantwortlich für die Modernisierung und Entwicklung der Streitkräfte ist, die Bedeutung der Kognitiven Kriegsführung bewusst zu machen.

Dass dies gelungen ist, zeigen Veröffentlichungen von der Forschungsabteilung der NATO (2) und die Einbindung der höchsten Führungsebenen, beispielsweise des ehemaligen Supreme Allied Commander Transformation André Lanata, welcher an einem Symposium zur Kognitiven Kriegsführung im Juni 2021 teilnahm.

Aus diesen Dokumenten wird ersichtlich, welch hohen Stellenwert die Kognitive Kriegsführung heute innerhalb der höchsten Kreise der NATO hat und wie entschlossen sie dieses Programm vorantreibt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Während es gegen den Vietnam- oder den Irakkrieg noch beträchtliche Proteste gab, erscheinen diese heute weniger wirkungsvoll. Haben die NATO-Strategen die Bevölkerungen ihrer Länder inzwischen besser im Griff?

Jonas Tögel: Die gute Botschaft ist: Eine Friedensbewegung hat es immer gegeben, es war stets möglich, sich gegen Kriege und für ein friedliches Miteinander einzusetzen – und das ist auch heute noch so.

In dem Maße, wie die Anstrengungen zur Entwicklung immer ausgefeilterer Manipulationswerkzeuge (sogenannter Soft-Power-Techniken) zunehmen, muss auch die Aufklärung über eben jene Techniken stattfinden.

Aus diesem Grund habe ich auch mein aktuelles Buch geschrieben: Ich möchte über hochmoderne Kriegspropaganda aufklären und es so der Friedensbewegung ermöglichen, den Einfluss der Kognitiven Kriegsführung zu neutralisieren.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Kognitive Kriegsführung richtet sich also nicht nur gegen die Bevölkerungen auswärtiger Mächte, sondern auch gegen die eigene?

Jonas Tögel: Das ist ein heikler Punkt, denn in vielen Ländern ist es dem Militär und der Regierung verboten, die eigene Bevölkerung mit Propaganda direkt zu beeinflussen. Ein Militärbündnis wie die NATO bewegt sich hier also auf dünnem Eis, wenn es ein offizielles Programm entwickelt, das (auch) die gezielte Manipulation der eigenen Bürgerinnen und Bürger zum Ziel hat, und die NATO weiß das auch.

Daher gibt es bezüglich der Frage der Zielgruppe nur wenige konkrete Aussagen in den Dokumenten zur Kognitiven Kriegsführung. Es wird zwar offen kommuniziert, dass das Ziel der Kognitiven Kriegsführung sei, „Gesellschaften zu schaden und nicht nur dem Militär“ (3), doch damit ist noch nicht gesagt, ob auch die eigene Bevölkerung dazugehört.

Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass auch die eigene Bevölkerung im Ziel der Kampfhandlungen steht. So betont ein Dokument, dass „die Human Domain of Operations (Menschliche Sphäre als Kriegsschauplatz) […] sich auf das ganze menschliche Umfeld bezieht, ob Freund oder Feind.“ (4)

An anderer Stelle heißt es, dass sich die „Brandstifter“ auf diesem Kriegsschauplatz „innerhalb und außerhalb“ der eigenen Grenzen befinden könnten. (5)

Im Symposium zur Kognitiven Kriegsführung äußerte sich der französische General Eric Autellet ähnlich. Er beschreibt die lange Geschichte der Kriegspropaganda, welche nun im Cognitive Warfare fortgeführt werden soll, und bezieht sich dabei sowohl auf fremde als auch auf die eigene Bevölkerung als Zielgruppe. Dabei bezieht er sich auch auf den von Ihnen angesprochenen Vietnamkrieg:

„Seit Vietnam wurden, trotz militärischer Erfolge, unsere Kriege insbesondere wegen der Schwäche unseres Narratives (d. h. ‚die Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen‘) verloren, sowohl im Hinblick auf die Menschen vor Ort [...] als auch auf unsere eigene Bevölkerung. Im Hinblick auf unser Handeln gegenüber einem Feind oder Freund steht zweierlei auf dem Spiel, wir können passive oder aktive Handlungsweisen festlegen und dabei die Grenzen und Zwänge unseres Freiheitsverständnisses und unserer Demokratie berücksichtigen. Im Hinblick auf unseren Feind müssen wir in der Lage sein, den Verstand unserer Gegner zu ‚lesen‘, um ihre Reaktionen vorauszuahnen. Wenn nötig, müssen wir in der Lage sein, in die Gehirne unserer Gegner ‚einzudringen‘, um sie zu beeinflussen und sie dazu zu bringen, gemäß unseren Wünschen zu handeln. Was unseren Freund angeht (genauso wie uns selbst), müssen wir in der Lage sein, unsere Gehirne zu schützen sowie unsere geistigen Fähigkeiten des Verstehens und unsere Entscheidungsfähigkeiten zu verbessen.“ (6)

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Es gibt Stimmen, die sagen, dass die Corona-Maßnahmen eine militärisch gelenkte PsyOp waren. Halten Sie das für möglich?

Jonas Tögel: Das ist derzeit unmöglich abzuschätzen. Sicher ist, dass COVID-19 auch in den offiziellen Veröffentlichungen zur Kognitiven Kriegsführung immer wieder eine Rolle spielt. (7) Hier geht es darum, dass von offizieller Seite ein Vertrauensverlust in offizielle Institutionen – den es zweifellos gibt – befürchtet wird, und man mit der Kognitiven Kriegsführung entsprechend gegensteuern möchte. (8)

Jenseits der militärischen Bemühungen ist es unumstritten, dass eine gezielte psychologische Beeinflussung der Bevölkerung während der Pandemie stattfand: das sogenannte „Nudging“ (Schubsen), bei dem mittels oft unbemerkter Soft-Power-Techniken die Bevölkerung in die „richtige“ Richtung gelenkt werden sollte. Das bedeutet, dass man gezielt darauf hinarbeitete, dass sich Menschen an die Maßnahmen hielten oder impfen ließen. Auch gibt es Hinweise darauf, dass die Kognitive Kriegsführung ebenfalls in den Kampf gegen „Desinformationen“ während der Pandemie involviert war (9), ein weiterer Beleg dafür, wie allumfassend dieser psychologische Krieg ausgelegt ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Auch wenn sich diese Frage nicht abschließend beantworten lässt: Während der Corona-Jahre ging ein Riss durch die Bevölkerung. Wie konnte das geschehen? Und: Hat das den Machteliten in die Hände gespielt?

Jonas Tögel: Die zunehmende Spaltung und Polarisierung der Bevölkerung während der Pandemie ist inzwischen auch empirisch gut belegt. So fand eine aufwendige Studie (10) im November 2022 heraus, dass es eine gesellschaftliche Polarisierung gebe, bei der vor allem geimpfte Probanden sich stark mit der eigenen Gruppe identifizierten und Ungeimpfte abwerteten. Andersherum zeigte sich die Gruppe der Ungeimpften insgesamt toleranter und brachte sowohl geimpften als auch ungeimpften Probanden gleichermaßen Akzeptanz entgegen.

Man könnte die Ergebnisse der Studie zum Anlass nehmen, um die negativen Auswirkungen von gesellschaftlicher Spaltung zu thematisieren. Die Autoren der Studie ziehen jedoch einen anderen und, wie sie selbst sagen, etwas „kontraintuitiv“ anmutenden Schluss: Sie empfehlen eine allgemeine Impfpflicht, denn nur diese könne dabei helfen, die soziale Spaltung zu mindern:

„Sobald fast alle Menschen aufgrund einer verpflichtenden Impfung geimpft worden sind, wird man sich durch den Impfstatus nicht mehr von anderen unterscheiden können“, so die Begründung.

Inwieweit diese Spaltung den Regierungen oder der NATO in die Hände spielt, ist schwer abschätzbar.

Sicher ist, dass es einerseits seit Jahren einen enormen Vertrauensverlust in Regierungen und offizielle Institutionen und auch die NATO gibt, und dass dieser andererseits von den Betroffenen als großes Problem wahrgenommen wird.

Der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellte hierzu im Dezember 2021 besorgt fest: „Es gibt weniger Vertrauen in unsere Institutionen.“ (11) Er möchte jedoch nicht offen eingestehen, dass die Kriege der NATO oder repressive Maßnahmen während der Pandemie zu diesem Vertrauensverlust geführt haben. Er macht stattdessen lieber „bösartige Cyberwaffen“ sowie „Propaganda und Desinformation“ von „autoritären Regimen“, die „alternative Regierungsformen vorantreiben“, für das schwindende Vertrauen der Bevölkerung verantwortlich (12) - eine erstaunliche Interpretation.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Könnte sich dieser Vertrauensverlust, von dem Sie sprechen zu einem Problem für die Gedankenkontrolle der Bevölkerung werden?

Jonas Tögel: Es ist verständlich, dass die NATO über den Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger sehr besorgt ist, denn das Vertrauen der Bevölkerungen in militärische Operationen ist für deren Erfolg genauso entscheidend, wie die Überlegenheit auf dem Schlachtfeld selbst. Würde die von NATO-Ländern massiv unterstützte Ukraine beispielsweise ihren Krieg gegen Russland gewinnen, sich in westlichen Ländern jedoch die Ansicht durchsetzen, dass Russlands Krieg nur eine Antwort auf die Expansion der NATO und den Putsch auf dem Maidan 2014 war, dann wäre der Krieg um die öffentliche Meinung (also die Kognitive Kriegsführung), trotz eines militärischen Erfolgs, praktisch verloren. Diese Niederlage würde dann mindestens genauso schwer wiegen wie eine Unterlegenheit auf dem Schlachtfeld selbst.

Je nachdem, wie NATO und Regierungen auf einen möglichen Vertrauensverlust und eine Niederlage im Informationskrieg reagieren, könnten immer repressivere Maßnahmen dazu führen, dass die „sanften“ Einflusstechniken zunehmend härter und damit spürbarer werden – wie das zum Beispiel während der 3G- und 2G-Regeln zur Zeit der Impfkampagnen der Fall war. Je mehr die Beeinflussung von außen jedoch als solche wahrgenommen wird, desto stärker ist auch der natürliche Widerstand unseres psychischen Immunsystems. Wir dürfen also zu Recht darauf hoffen, dass die Ablehnung gegenüber psychologischer Manipulation zunimmt, während gleichzeitig die Techniken immer weiter verfeinert werden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie schreiben in Ihrem Buch, es sei das erklärte Ziel der NATO, „jeden Menschen zu einer Waffe zu machen". Was ist damit gemeint?

Jonas Tögel: Ich zitierte hier aus einer offiziellen Veröffentlichung zur Kognitiven Kriegsführung, in der dieser Satz fällt.

Sein Hintergrund ist die Tatsache, dass jeder Mensch heute eine viel größere Macht hat und in den Informationskrieg viel stärker eingreifen kann, als er oder sie das vielleicht glaubt. Durch das Internet kann jeder seine eigene Meinung oder Informationen mit einer potenziell unbegrenzten Anzahl an Menschen teilen, und mit einer Kritik an der Regierung oder der Veröffentlichung geleakter Dokumente oder Videos, die das Grauen von Kriegen zeigen (wie es Julien Assange mit Wikileaks tat), massiv die öffentliche Meinung beeinflussen.

Man spricht daher auch davon, dass die Kognitive Kriegsführung eine „partizipatorische Propaganda“ (13) ist, bei der jeder mitmachen kann.

Dieser Punkt hat wiederum eine helle und eine dunkle Seite: Während immer mehr Menschen wichtige Informationen verbreiten und sich Gehör verschaffen können, kann man durch Troll-Armeen oder Bots die sozialen Netzwerke auch fluten und manipulieren. (14) Auch kann man gezielt Influencer rekrutieren, welche sich dafür stark machen, vom offiziellen Narrativ abweichende Meinungen als „Verschwörungstheorien“ abzuwerten – das geschieht momentan zum Beispiel an Schulen, wo einzelne Schülerinnen und Schüler gezielt als eine Art „Tugendwächter“(15) geschult werden, um „Desinformation“ zu bekämpfen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die technologische Entwicklung verläuft immer schneller. Was hat das für Auswirkungen auf die Kognitive Kriegsführung?

Jonas Tögel: Psychologische Kriegsführung und Kriegspropaganda waren nie losgelöst von der psychologischen und soziologischen Forschung. Sie bedienten sich stets der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, um immer bessere Manipulationstechniken zur Verfügung zu haben, und diese Entwicklung läuft seit über 100 Jahren mit zunehmender Intensität.

Derzeit erleben wir eine sogenannte „Militarisierung der Neurowissenschaften“ sowie einen Fokus auf den sogenannten „NBIC“-Komplex (Nanotechnologie, Biotechnologie, Informations- und Kognitionswissenschaften). Das heißt, es werden nicht nur die Psychologie, Sozialwissenschaften etc. zur Entwicklung von neuen Soft-Power-Techniken herangezogen, sondern es gibt den zunehmenden Wunsch, mittels neuer Technologien und künstlicher Intelligenz die Menschen noch besser zu überwachen und steuern zu können – beispielsweise durch Nano-Roboter oder eine automatische Überwachung und Auswertung aller Daten, die wir im Internet hinterlassen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wäre es, sollte es tatsächlich zu Mensch-Maschinen-Hybriden und einer „Militarisierung der Neurowissenschaften“ kommen, mit Demokratie und Freiheit endgültig vorbei?

Jonas Tögel: Dieses neue Wettrüsten im Bereich der Soft Power hat in der Tat einige gravierende Auswirkungen.

Zur Verdeutlichung hilft der Blick zurück auf die geschichtliche Entwicklung:

Der Erste Weltkrieg markiert in etwa den Beginn moderner Propaganda. Damals gab es neben Theater und Kino hauptsächlich Zeitungen als Massenmedium, mit dem Ergebnis von ca. 17 Millionen Toten. Im Zweiten Weltkrieg konnte die Propaganda darüber hinaus auf Zeitungen und das Radio zurückgreifen, mit dem Ergebnis von mehr als 70 Millionen Toten.

Daher stellt sich nun auch durch die Militarisierung der Neurowissenschaften und dem Aufstieg Künstlicher Intelligenz die Frage, welche Folgen die immer professionellere, gezielte Propaganda der Kognitiven Kriegsführung hat. Sie kann immerhin auf Zeitungen, das Radio, das Internet, Smartphones, soziale Netzwerke, Künstliche Intelligenz, etc. zurückgreifen – und die Sorge vor einer weiteren Eskalation von Kriegen wächst. (16)

Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die neuartigen Manipulationstechniken so wirksam sind und ihr Einfluss so unbemerkt stattfindet, dass sich die Möglichkeit einer „ewigen“ und sanften „Diktatur“ abzeichnen, wovor der bekannte britische Intellektuelle Aldous Huxley bereits 1958 warnte. (17)

Genau das hat man bei der NATO ebenfalls erkannt, und setzt darauf, in der Kognitiven Kriegsführung den lange ersehnten, „finalen Sieg“ auf dem Schlachtfeld und darüber hinaus zu erreichen.

„Die Kognitive Kriegsführung könnte das fehlende Element sein, das den Übergang vom militärischen Sieg auf dem Schlachtfeld zum dauerhaften politischen Erfolg ermöglicht. […] [Nur] die Menschliche Sphäre (Humain Domain (18)) kann den endgültigen und vollständigen Sieg erringen“ (19) heißt es dazu in einem Dossier des Innovation Hub.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was können die Menschen tun, um ihre Freiheit und die Freiheit ihrer Gedanken zu verteidigen?

Jonas Tögel: Die einfachste und wichtigste Antwort darauf geben die NATO-Dokumente selbst. Hier wird festgestellt, dass der größte Verbündete der Kognitiven Kriegsführung die Unwissenheit der Bevölkerung darüber ist, dass sie überhaupt stattfindet.

Es braucht daher zunächst ein Bewusstsein darüber, dass wir selbst jeden Tag im Zentrum einer erbitterten psychologischen Kriegsführung stehen, die darauf ausgelegt ist, dass wir sie meist nicht einmal bemerken. Umso wichtiger ist eine Aufklärung über die Kognitive Kriegsführung sowie eine genaue Kenntnis der Manipulationstechniken, welche uns jeden Tag zu „hacken“ versuchen und gegen die wir uns nur dann wehren können, wenn wir ihre Strategien kennen.

Ferner kann man die Erkenntnisse der gleichen psychologischen Forschung, aus der sich die Entwicklung der Manipulationswaffen speist, auch dafür nutzen, die eigene Widerstandskraft zu stärken und von den Schwächen und Lücken der Soft-Power-Techniken der Kognitiven Kriegsführung zu profitieren, um der Manipulation zu entkommen.

Wenn wir uns der Kognitiven Kriegsführung in unserem Alltag bewusstwerden und sie gezielt neutralisieren, dann kann es uns gelingen, dass wir auch in Zeiten modernster Soft-Power-Techniken unseren Mut und unsere Zuversicht behalten und uns entschlossen weiterhin für das aussprechen, was die Kognitive Kriegsführung am meisten bedroht: einen respektvollen, menschlichen Umgang miteinander ohne Manipulation und eine friedliche Lösung von Konflikten als gesamte Menschheit. Diese Aufklärung ist mir besonders wichtig, daher habe ich ihr das abschließende Kapitel im Buch gewidmet.

***

Info zur Person: Dr. Jonas Tögel ist Amerikanist und Propagandaforscher. Er hat zum Thema Soft Power und Motivation promoviert und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Motivation, der Einsatz von Soft-Power-Techniken, Nudging, Propaganda sowie epochale Herausforderungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Website des Autors ist www.jonastoegel.de.

In seinem Buch „Kognitive Kriegsführung. Neueste Manipulationstechniken als Waffengattung der NATO“ erläutert er die Hintergründe und Entstehungsgeschichte der Kognitiven Kriegsführung: vom Beginn moderner Kriegspropaganda vor 100 Jahren über die Militarisierung der Neurowissenschaften bis hin zu Zukunftstechnologien wie Nano-Robotern oder Neurowaffen. Und er zeigt, dass der Gedankenkrieg über sogenannte „Soft-Power-Techniken“ bereits heute meist unbemerkt stattfindet.

*Fußnoten

  1. 11.–3. Juni 2021. Cognition Workshop. Innovative Solutions to Improve Cognition. Innovation Hub, S. 3.
  2. STO: Science and Technology Organisation.
  3. Du Cluzel, François (2021). Cognitive Warfare. Innovation Hub, S. 32.
  4. Du Cluzel, François (2021). Cognitive Warfare. Innovation Hub, S. 29.
  5. Cole, August & Le Guyader, Hervé (2020). NATO’s 6th Domain of Operations. Innovation Hub, S. 12.
  6. Autellet, Eric (2022). Cognitive Warfare – Contribution of the French Armed Forces Deputy Chief of Defence. In Claverie, Bernard; Prébot, Baptiste; Buchler, Norbou & Du Cluzel, François (Hrsg.), Cognitive Warfare: The Future of Cognitive Dominance. NATO-STO Collaboration Support Office (S. 23–24), S. 24.
  7. Gill, Ritu & Goolsby, Rebecca (Hrsg.). (2022). COVID-19 Disinformation: A Multi-National, Whole of Society Perspective. Springer.
  8. Du Cluzel, François (2021). Cognitive Warfare. Innovation Hub, S. 8.
  9. Gill, Ritu & Goolsby, Rebecca (Hrsg.). (2022). COVID-19 Disinformation: A Multi-National, Whole of Society Perspective. Springer.
  10. Henkel, Luca; Sprengholz, Philipp; Korn, Lars; Besch, Cornelia et al. The association between vaccination status identification and societal polarization. Nat Hum Behav 7, 231–239 (2023). [doi.org]
  11. NATO (8. Dezember 2021). Acceptance speech – by NATO Secretary General Jens Stoltenberg at the “Mihnea Constantinescu” Values-based Leadership Award. Nato.int.
  12. NATO (8. Dezember 2021). Acceptance speech – by NATO Secretary General Jens Stoltenberg at the “Mihnea Constantinescu” Values-based Leadership Award. Nato.int.
  13. Wanless, Alicia & Berk, Michael (2021). Participatory propaganda: The engagement of audiences in the spread of persuasive communications. Social Media and Social Order, 111–139.
  14. Wanless, Alicia & Berk, Michael (2021). Participatory propaganda: The engagement of audiences in the spread of persuasive communications. Social Media and Social Order, 111–139, S. 116–117.
  15. Roozenbeek, Jon & van der Linden, Sander (29. Oktober 2021). Inoculation Theory and Misinformation. NATO StratCom COE; European Commission, Directorate-General for Education, Youth, Sport and Culture (2022). Final report of the Commission expert group on tackling disinformation and promoting digital literacy through education and training : final report. Publications Office of the European Union.
  16. Cull, Nicholas J. (22. April 2019). Nick Cull Answers More Questions on Propaganda. USC Center on Public Diplomacy.
  17. Huxley, Aldous (1958/1998). Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt. Piper
  18. Cole, August & Le Guyader, Hervé (2020). NATO’s 6th Domain of Operations.
  19. Du Cluzel, François (2021). Cognitive Warfare. Innovation Hub, S. 36.


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