Politik

Affront zum Gipfel: Erdogan mischt Nato-Partner auf

Vom Nato-Gipfel in Litauen soll eigentlich ein Signal der Geschlossenheit ausgehen. Den türkischen Präsidenten scheint das allerdings wenig zu interessieren. Gleichzeitig rüstet das Militärbündnis massiv auf.
10.07.2023 20:31
Aktualisiert: 10.07.2023 20:31
Lesezeit: 4 min
Affront zum Gipfel: Erdogan mischt Nato-Partner auf
Recep Tayyip Erdogan (li.), Präsident der Türkei, gibt Ulf Kristersson (re.), Ministerpräsident von Schweden, die Hand, während Jens Stoltenberg, Generalsekretär der NATO, vor einem Treffen im Vorfeld des Nato-Gipfels zusieht. (Foto: dpa) Foto: Yves Herman

Der Nato-Gipfel in Litauen droht von Streit über den geplanten Bündnisbeitritt Schwedens und die Ukraine-Politik überschattet zu werden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan machte die Zustimmung seines Landes zur Aufnahme Schwedens am Montag überraschend davon abhängig, dass der vor Jahren auf Eis gelegte EU-Beitrittsprozess für die Türkei wieder aufgenommen wird. Zudem erteilte Deutschland dem ukrainischen Wunsch nach einer formellen Einladung in die Nato eine klare Absage. „Für eine Einladung der Ukraine, für konkrete Schritte in Richtung Mitgliedschaft (ist) der Zeitpunkt nicht da. Hierfür gibt es auch unter den Verbündeten keinen Konsens“, hieß es aus Regierungskreisen. (Anmerkung der Redaktion: Am späten Montag Abend hat Nato-Chef Jens Stoltenberg getwittert, dass es offenbar eine Einigung mit der Türkei zum Nato-Beitritt Schwedens gäbe).

Nach Angaben von Diplomaten anderer Nato-Staaten stemmt die Bundesregierung sich in den Verhandlungen über die geplante Gipfelerklärung zudem gegen eine Formulierung, dass die Ukraine einen „rechtmäßigen Platz“ im Bündnis hat. Aus deutschen Regierungskreisen hieß es zu der Ukraine-Passage in der Erklärung lediglich, dies sei eine „von fünf, sechs Fragen, die im Moment noch diskutiert werden“.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg räumte am Montag ein, dass noch keine endgültige Entscheidung über die Beitrittsperspektive der Ukraine getroffen wurde. Konsultationen über die Bedingungen für den Weg der Ukraine zur Nato-Mitgliedschaft seien weiterhin im Gang, sagte er nach einem Treffen mit Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda.

In den Hintergrund rückte damit zunächst, dass die Nato mit dem an diesem Dienstag beginnenden Gipfeltreffen in Vilnius eigentlich eine klare Botschaft der Geschlossenheit an Russland Präsidenten Wladimir Putin senden will. Dieser soll nach dem Wunsch des Verteidigungsbündnisses einsehen, dass sein Krieg gegen die Ukraine zum Scheitern verurteilt ist und jede Aggression gegen einen Nato-Staat eine entschlossene Reaktion des gesamten Bündnisses zur Folge hätte.

Erdogan will EU-Beitrittsperspektive

Vor allem für den türkischen Präsidenten Erdogan scheinen nationale Interessen allerdings wichtiger zu sein. Er sagte am Montag vor dem Abflug zum Nato-Gipfel an die EU-Länder gerichtet: „Ebnet zunächst den Weg der Türkei in die Europäische Union, danach ebnen wir den Weg für Schweden, so wie wir ihn für Finnland geebnet haben.“

Erdogan stellte damit neben einem stärkeren Engagements Schwedens im Kampf gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK eine weitere Bedingung für die notwendige Zustimmung seines Landes zum Nato-Beitritt für Schweden. Problematisch ist dies, weil die EU der Türkei seit Jahren vorwirft, demokratische und rechtsstaatliche Standards nicht zu erfüllen. Eine Aufnahme der Türkei gilt deswegen auf Jahre hinweg als absolut illusorisch.

Ob Erdogan es mit seiner neuen Bedingung wirklich ernst meint, blieb am Montag zunächst unklar. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach sich klar gegen eine Verknüpfung des Nato-Beitritts Schwedens mit dem EU-Beitrittsprozess der Türkei aus. Beide Fragen hingen nicht miteinander zusammen, sagte er.

Mehrjähriges Programm zur Unterstützung der Ukraine

Stoltenberg äußerte sich am Montag trotz der Entwicklungen optimistisch, dass die Verbündeten beim zweitägigen Gipfel eine gute, starke und positive Botschaft haben werden. Seinen Angaben zufolge soll bei dem Spitzentreffen unter anderem ein mehrjähriges Programm vereinbart werden, um künftig eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften der Ukraine und des Bündnisses zu ermöglichen. Zudem ist geplant, das bereits 2008 gegebene Versprechen zu erneuern, dass die Ukraine Mitglied der Nato werden kann – vermutlich ohne zuvor das bislang übliche Heranführungsprogramm MAP (Membership Action Plan) absolviert zu haben. Bis dahin ist geplant, die politischen Beziehungen über die Schaffung eines neuen Nato-Ukraine-Rates zu vertiefen.

Länder wie die USA, Deutschland und Großbritannien wollen zudem nach Angaben von Diplomaten einen umfassenden Rahmen für neue Sicherheitszusagen schaffen. So sind die USA nach Angaben von Präsident Joe Biden bereit, der Ukraine nach einem Ende des russischen Angriffskriegs ähnlichen Schutz zu bieten wie Israel. Die USA unterstützen Israel jedes Jahr mit rund 3,8 Milliarden US-Dollar – davon geht ein beachtlicher Teil in die Abwehr von Raketen und Militärtechnik. Deutschland will der Ukraine beim Nato-Gipfel weitere Waffenlieferungen in größerem Umfang zusagen. Es werde dort „sehr substanzielle“ Ankündigungen geben, hieß es aus deutschen Regierungskreisen in Berlin.

Gipfel soll Abschreckung und Verteidigung voranbringen

Bereits am Montagabend nahmen die Nato-Staaten in einem schriftlichen Verfahren neue Pläne für die Abwehr von möglichen russischen Angriffen auf das Bündnisgebiet an. Die Entscheidung soll an diesem Dienstag von den Staats- und Regierungschefs noch einmal bestätigt und dann offiziell verkündet werden.

Die insgesamt mehr als 4000 Seiten starken Verteidigungspläne beschreiben nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur detailliert, wie kritische Orte im Bündnisgebiet durch Abschreckung geschützt und im Ernstfall verteidigt werden sollten. Dafür wird auch definiert, welche militärischen Fähigkeiten notwendig sind. Neben Land-, Luft-, und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen.

Umgesetzt werden sollen die Pläne unter anderem mit Hilfe einer neuen Streitkräftestruktur. So hatte Generalsekretär Jens Stoltenberg bereits beim Nato-Gipfel im vergangenen Jahr angekündigt, dass künftig 300.000 Soldatinnen und Soldaten für mögliche Nato-Einsätze in hoher Bereitschaft gehalten werden sollten. Bislang war bei der Nato für schnelle Kriseneinsätze vor allem die Eingreiftruppe NRF vorgesehen. Für diese stellen die Mitgliedstaaten derzeit circa 40.000 Soldatinnen und Soldaten.

Da der Ausbau der militärischen Fähigkeiten Unmengen an Geld kostet, haben sich die Nato-Staaten bereits im Vorfeld des Gipfels darauf verständigt, das gemeinsame Ziel für die nationalen Verteidigungsausgaben zu verschärfen. Angestrebt wird demnach künftig, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts auszugeben.

Selenskyj als Gast

Unklar ist, wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf den zu erwartenden Kompromiss zur Aufnahmeperspektive reagieren wird. Er hatte zuletzt immer wieder eine konkrete Beitrittseinladung für sein Land gefordert und sein Kommen zum Gipfel von einer offenen Diskussion darüber abhängig gemacht. Selenskyj wird von der Nato an diesem Mittwoch in Vilnius erwartet. Für diesen Tag ist auch das erste Treffen des neuen Nato-Ukraine-Rates auf Ebene der Staats- und Regierungschefs geplant.

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