Sie hießen „Frischepost“, „GetFaster“, „Foodly“ oder „Biorena“. Start-ups, die nach einem schnellen Aufstieg bereits wieder vom Markt oder in der Insolvenz stehen. Oft lautet das oberste Ziel bei aufstrebenden Startups wachsen um jeden Preis. Doch eine Gazelle, so die Bezeichnung derjenigen Unternehmen, die über einen begrenzten Zeitraum hinweg schnelles Wachstum aufweisen, ist in jungen Jahren gefährdet. Die Gefahren lauern besonders, wenn das Unternehmen am Anfang einen Sprint einlegt. Mit der Wachstumsphase ändern sich die Rahmenbedingungen. Geschieht dies schnell, müssen die Gründer auf diese flexibel reagieren und sich schnell anpassen. Doch der interne Lernprozess hinkt oft hinter dem flotten Wachstum hinterher und so kommt es zu Problemen, die für manche Unternehmen unüberwindbar werden.
Je komplexer die Herausforderungen sind, je kritischer steht es um das Überleben. Es ist ein Unterschied, ob ein Manager für drei oder für dreihundert Mitarbeiter verantwortlich ist. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) fand heraus, woran es in der Anfangsphase meist scheitert: unzureichende Kenntnisse in den Bereichen Controlling (39%), Organisation (24%), Marketing (19%), Markt (19%) und Personalführung (14%). Wächst ein Unternehmen gerade in den Anfangsjahren sehr schnell, so kann es seine Flexibilität verlieren. Die Gründer bekommen kaum die Möglichkeit geboten, an dem Wachstum zu lernen. Daher geben Betroffene „strategische Entscheidungen“ als häufig genannte Ursache für Insolvenz an oder für den Marktaustritt.
Am Ball bleiben, sonst wird man überrollt
Diese Erfahrungen durfte auch Mymüsli machen, einstiges Vorzeige-Startup. 2007 gegründet, wuchs das Unternehmen innerhalb weniger Jahre von 400 auf 800 Mitarbeitern. Das führte zu Veränderungen im Management und letztendlich zu einem neuen Mitarbeiterkonzept. 2018 führte Mymüsli das Programm „Petrol“ ein. Ein Konzept der hierarchiefreien Organisation von Frederic Laloux, einem Vordenker der New-Work-Bewegung. Statt Jobbeschreibungen gab es fortan Rollen und Aufgaben, die sich stetig ändern können. Geholfen hat es nur bedingt. Infolge der Corona-Pandemie zog sich der Müsli-Hersteller weitestgehend aus den stationären Geschäft zurück und fokussierte sich auf die Onlinekunden. Ende 2021 schrieb das mittlerweile zum Mittelständler gewachsene Unternehmen dennoch rote Zahlen im Jahresabschluss. Seitdem erweitern die drei Gründer aus Passau stetig das Sortiment, um marktfähig zu bleiben. Snack Kugeln, neue Müslisorten oder eine 2goBottle für die eigene Teemarke „Tree of Tea“ sollen das Interesse der bisherigen Kunden bei Laune halten und neue hinzugewinnen. Gerade der Bereich Marketing spielt eine entscheidende Rolle. Daher hat Mymüsli den Vorstand im Frühjahr 2023 um einen erfahrenen, aber auch umstrittenen Kandidaten in diesem Bereich erweitert. Mit Dr. Henrik Haenecke ist nun der ehemalige Vorstand Finanzen, Digitalisierung und Vertrieb des Berliner Verkehrsunternehmens BVG mit an Bord.
Pandemie als Wachstumsbremse
Nach dem Modell von Joseph Picken, Wirtschaftsprofessor an der University of Texas in Dallas, durchläuft ein Startup in der Regel vier Phasen: Startup, Transformation, Skalierung, Exit. Doch nur vier Prozent schaffen die Transformation zu einem Scale-up, also einem wachstumsstarken Unternehmen. So muss zum Beispiel eine Passung zwischen der Vision der Gründer und ihrem alltäglichen Verhalten und der Kommunikation gegeben sein. Doch bereits an dieser Stelle mangelt es bereits. Neben den eigenen Problemen innerhalb des Unternehmens während der Wachstumsphase müssen sie sich auch den Herausforderungen neuer Wettbewerber stellen, welche stetig hinzukommen können. Sie müssen am Ball bleiben, Innovationen zeigen oder ihre Verfahren und Leistungen weiterentwickeln, wenn sie gegen die Konkurrenz bestehen möchten.
Der weltweite Lieferdienst Delivery Hero, einst Gewinner während der Corona Pandemie, hat nun mit solchen schwierigen Marktbedingungen zu kämpfen. Erst Anfang dieses Jahres musste es vier Prozent seiner Mitarbeiter in der Firmenzentrale in Berlin entlassen. Während der Wachstumsphase schrieb es laut dem Spiegel Verluste in Milliardenhöhe. Auch das Tochterunternehmen „Glovo“ in Spanien wird aktuell vor allem Stellen in der Unternehmenszentrale in Barcelona abbauen. Doch die Schritte seien notwendig, äußert sich Delivery-Hero-Chef Niklas Östberg gegenüber der Medien, wenn man die ehrgeizigen Ziele von 2023 noch erreichen wolle. Ziel sei es, eine schlankere und effizientere Organisation aufzubauen und erstmals Profit zu erwirtschaften. Zwar ist Delivery Hero schon lange kein Startup mehr, es beschäftigt weltweit über 49.000 Menschen. Doch solange das Unternehmen nicht profitabel wirtschaftet und auf externes Kapital angewiesen ist, kann von einem gesunden Unternehmen auf solidem Fundament nicht die Rede sein.
Auch für Ocha-Ocha sahen die Startbedingungen am Anfang gut aus. Der Gründer Christopher Gogolin brachte die Idee für das Unternehmen aus Japan mit. Dort, wie auch in China, sind kalte, ungesüßte Tees in Flaschen oder Tetrapacks beliebte Getränke. 2018 gründete er sein Unternehmen Ocha-Ocha in Augsburg. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten. Noch im gleichen Jahr bekommen sie eine Auszeichnung als innovativstes Start-up. Im Folgejahr läuft alles wie geplant, doch dann im Zuge der Corona-Pandemie 2020/2021 fangen die finanziellen Schwierigkeiten an. „Vertriebler durften die Märkte nicht mehr ansteuern. Wir mussten komplett auf das Onlinegeschäft ausweichen“, sagt Denny Sachs, Chef Media Officer und zuständig für das Marketing. Und das in einem nicht zuvor erprobten Bereich: Getränke online zu vertreiben.
Dank einer Crowdfunding-Kampagne überstehen sie die Krise. Sie wachsen organisch weiter, doch Krieg und Inflation sorgen in der Bevölkerung für eine Kaufzurückhaltung bei den Lebensmitteln. 2023 geraten sie daher erneut in eine finanzielle Schieflage. Aktuell laufen Gespräche mit möglichen Investoren. Weiterhin besteht die Gefahr einer Insolvenz. Aus seiner bisherigen Erfahrung rät Sachs anderen jungen Unternehmern: „Lotet den wahren Kapitalbedarf aus, den eure Firma für die Verwirklichung der Idee braucht und unterschätzt nicht die Macht des Marketings. Massenkommunikation ist King in unserer vernetzten Welt. Darin werdet ihr viel Geld versenken müssen, um voranzukommen.“
Andere, wie das Münchner KI-Startup Helsing, schaffen es innerhalb von nur drei Jahren zum ersten Unicorn Europas aus dem Bereich Militär, Rüstung und Verteidigung aufzusteigen. So werden in der Finanzwelt Unternehmen genannt, die von Investoren mit mindestens 1 Milliarde Dollar bewertet werden. Das DefenseTech-Unternehmen aus dem Gründungsjahr 2021 setzt auf KI-Fähigkeiten für den Sicherheits- und Verteidigungsbereich. Mitgründer Thorsten Reil hatte zuvor „NaturalMotion“, ein Spin-off der Oxford Universität und eines der erfolgreichste Spiele- und Technologie-Start-ups Großbritanniens gegründet. Die bereits gesammelten Erfahrungen waren ihm bei der Gründung seines neuen Unternehmens mit Sicherheit hilfreich. Die Aufträge kommen von höchster Stelle, der Bundesregierung selbst. Im Juni 2023 beauftragte die Regierung das Startup damit, den Eurofighter „für den elektronischen Kampf zu befähigen“, wie es in einer Mitteilung des Unternehmens heißt. Ein schnelles Wachstum ist zu erwarten und dementsprechend spannend bleibt es zu beobachten, vor welchen Herausforderungen Helsing eventuell in naher Zukunft gestellt wird. Mittlerweile verfügt Helsing über vier Standorte in Europa.
Der Kunde bleibt König
Die Wachstumstreiber, die den Weg vom nationalen zum internationalen Markt ebnen, sind laut Ernst & Young Growth Navigator sieben entscheidende Schlüsselkriterien. Dazu gehören an oberster Stelle die Kundenwünsche und -bedürfnisse ins Zentrum aller Bemühungen zu stellen und damit die Kundenbindung zu sichern. Das ist an sich schon schwierig genug für junge Unternehmen. Eine weitaus schwierigere Herausforderung ist es, Risiken bewusst einzugehen und intelligent zu kontrollieren und zu managen. Auch eine Untersuchung von Hans-Otto Eglau aus dem Jahre 2000 über die häufigsten Fehler der Unternehmensgründer kommt zu dem Ergebnis, dass der Kunde und seine Bedürfnisse allzu oft vergessen werden. Hinzu kämen Lücken in der Führung, unpassende „Chemie“ im Gründerteam, fehlender Fokus auf ein klar umrissenes, beherrschbares Marktsegment, Angst vor Kooperationen, zu schnelle „Verbrennung“ des Geldes und zu wenig Rat von erfahrenen Praktikern. In beinahe allen Startups gelangen die Gründer, vornehmlich in den ersten Jahren, an einen Punkt, wo das scheinbar schlüssige Konzept an der einen oder andere Stelle Risse bekommt.
Der aktuelle Krieg in der Ukraine und das dadurch ausgelöste schwierige Marktumfeld hat im vergangenen Jahr für viele junge Unternehmen das Aus bedeutet. Mit Personalabbau wurde versucht der Unternehmenskrise zu begegnen. Knapp die Hälfte von insolventen Unternehmen hoffen damit erstmal über die Runden zu kommen. So sind die Lohnkosten ein wesentlicher Treiber der monatlichen Zahlungsverpflichtungen für junge, in eine wirtschaftliche Schieflage geratene Unternehmen. Zwar verbessert das für eine Weile die Liquiditätssituation, doch oft reicht auch dies am Ende nicht. Helsing ist einer der wenigen Gewinner, die durch eine veränderte Weltlage ihr Potential erkannt und bisher sehr erfolgreich genutzt haben.