Politik

Wohlstand und soziale Sicherheit sind keine Garanten gegen massenweisen Frust

Lesezeit: 6 min
18.11.2023 16:54  Aktualisiert: 18.11.2023 16:54
Hunderttausende gingen in westlichen Ländern auf die Straße um ihre Sympathie mit den Palästinensern zu zeigen. Es ist offenkundig, dass die Sympathie ein Ausdruck der eigenen Frustration im Leben ist, aus der sich eine Verbundenheit mit den Palästinensern ergibt, die ebenfalls Verlierer sind, schreibt DWN-Kolumnist Ronald Barazon - und sucht nach den Ursachen der Frustration.
Wohlstand und soziale Sicherheit sind keine Garanten gegen massenweisen Frust
Nach Ansicht von Ronald Barazon ist auch die Sympathie mit den Palästinensern ein Ausdruck der eigenen Frustration im Leben. (Foto: dpa)

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Hunderttausende gingen in den vergangenen Wochen in westlichen Ländern auf die Straße um ihre Sympathie mit den Palästinensern zu zeigen. Es ist kaum anzunehmen, dass die Demonstranten den Massenmord an 1.200 Israelis durch die Hamas feiern wollten. Vielmehr ist offenkundig, dass die Sympathie ein Ausdruck der eigenen Frustration im Leben ist, aus der sich eine Verbundenheit mit den Palästinensern ergibt, die ebenfalls Verlierer sind.

Diese Welle ist erstaunlich, da in den betroffenen Ländern überwiegend Wohlstand, soziale Absicherung und politische Freiheit herrscht. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass diese drei Elemente nicht, wie lange angenommen wurde, jedenfalls für Zufriedenheit sorgen. In diesem Zusammenhang muss auch an die These erinnert werden, dass die katastrophalen, wirtschaftlichen Verhältnisse in den dreißiger Jahren zum Zweiten Weltkrieg geführt hätten. Es sind nicht nur Armut und Hunger, die die Menschen verzweifeln lassen. Es genügt auch eine negativ erlebte gesellschaftliche Situation, in der etwa ständig die Erfolgreichen mit ihren Millionengewinnen und Liebesabenteuern gefeiert werden und die Masse mit bescheidenen Einkünften, schwierigen Situationen am Arbeitsplatz und in der Familie kämpfen muss.

Die Projektionen des machtgierigen Präsidenten Putin, Xi und Chamenei

Dieses Grundmuster wird durch die viel zu wenig beachtete, umfassende Propaganda verstärkt, die die USA als einen machtgierigen, brutalen Moloch darstellt, der die Welt beherrscht und unterdrückt. Israel wird mit den USA identifiziert, der Nahostkonflikt als Ausdruck der Machtgier des Westens dargestellt und ausgeblendet, dass die Hamas nicht nur Israel, sondern auch Jordanien und Ägypten terrorisiert und den Aufbau eines Palästinenserstaates verhindert, der im Rahmen der im Westjordanland und in Gaza regierenden Autonomiebehörde möglich wäre.

Dass man im Westen für die Propaganda empfänglich ist, zeigen nicht nur die Massendemonstrationen, sondern auch der Umstand, dass der Islamistenanführer Osama bin Laden und seine islamistische „letter to America“ sich derzeit bei Nutzern der Plattform Tik Tok größter Beliebtheit erfreuen. Die zahlreichen Bücher, Prospekte und Artikel, die die Richtigkeit der These von den machtgierigen USA zu beweisen scheinen, verstärken die weit verbreitete Meinung, dass die Welt von geheimnisvollen Mächten gesteuert werde, die sich jeder Kontrolle entziehen. Die vielfältige Propaganda-Literatur, die den Europäern zeigen soll, dass sie nur willfährige Knechte der USA sind, kommt aus Russland, China und dem Iran und ist die Folge einer Projektion. Die drei Präsidenten, Putin, Xi und Chamenei möchten die Welt genau so beherrschen wie sie es den USA unterstellen und können nicht glauben, dass die USA ihre Möglichkeiten nicht nützen, um eine Weltdiktatur zu errichten.

Aus Putins Perspektive hat die NATO den Warschauer Pakt abgelöst

Für Putin hat die Darstellung der USA eine eigene Logik. Die NATO hat zahlreiche Länder aufgenommen, die früher Mitglieder des Warschauer Pakts waren, und von der Führungsmacht des Pakts, der Sowjetunion, als rechtlose Vasallen behandelt wurden. Was soll man also von der Führungsmacht der NATO, den USA, anderes erwarten? Die Unterstützung der Ukraine durch die USA könne nur bedeuten, dass ein weiteres Land dem Diktat aus Washington unterworfen werden oll. Putin, der immer noch in den Denkmustern der Sowjetunion gefangen ist, kann sich nicht vorstellen, dass man in Washington anders denkt als in Moskau.

Für Xi sind die USA die Nachfolger des britischen Empire

Xi Jinping wird nicht müde, an die Opium-Kriege im 19. Jahrhundert zu erinnern. Zuerst wurde China gezwungen, den britischen Opiumhändlern den Zugang zum Markt zu ermöglichen, in einem zweiten Krieg sicherten sich Großbritannien und Frankreich einflussreiche Positionen und Handelsrechte in China. Für XI ist vor allem das britische Weltreich interessant, das tatsächlich seine Macht mit militärischer Gewalt brutal ausübte und die Kolonien unterdrückte. Bereits im ersten Opiumkrieg 1841 wurde Hongkong erobert und zur britischen Kronkolonie erklärt. Xi projiziert die britische Machtpolitik des 19. Jahrhunderts auf die USA von heute.

1953 wüteten in Teheran die CIA und der MI6 gegen den iranischen Premierminister

Im Iran ist das Jahr 1953 präsent, in dem die Geheimdienste der USA und Großbritanniens. CIA und MI6 einen Putsch gegen den damaligen Premierminister Mohammad Mossadegh inszenierten. Mossadegh hatte die Verstaatlichung der Ölindustrie durchgesetzt und damit der Anglo-Iranian-Oil-Company die Geschäftsbasis entzogen. Diese Gesellschaft, der aktuelle Nachfolger ist die BP, wurde zwar von Briten beherrscht, hatte aber auch andere Partner in der internationalen Ölwirtschaft. Iran hatte seit den dreißiger Jahren nur Anspruch auf 20 Prozent an den Gewinnen aus seiner Ölwirtschaft und wollte 50 Prozent. London blockierte daraufhin den Persischen Golf und verhinderte sämtliche Ölexporte aus dem Iran, wodurch die wichtigste Einnahmequelle des Staates versiegte. Da Mossadegh neben anderen Partien auch von den persischen Kommunisten unterstützt wurde, konnte man in Washington die Angst schüren, dass ein weiterer Staat unter das Diktat der Sowjetunion fallen könnte. Eisenhower und Churchill beschlossen, eine gemeinsame Aktion gegen Mossadegh durchzuführen. Die Geheimdienste wandten sich an die zahlreichen Gegner des übermächtigen Premierministers, Washington und London hatten ein grö0ees Budgetbereitgestellt, um Politiker zu bestechen, Demonstrationen zu organisieren, um den damals 71jährigen Mossadegh unter Druck zu setzen. Historiker betonen nach genauer Analyse der Ereignisse, dass CIA und MI6 zwar einen spektakulären Wirbel inszeniert haben, dass aber Mossadegh jedenfalls gestürzt wäre, weil er unter Ausschaltung des Parlaments und des Schahs autoritär regierte.

In Teheran erinnert man noch mit Abscheu an das Auftreten der amerikanischen und britischen Vertreter, die sich benahmen, als hätten sie im Land bereits die Macht übernommen. Somit ist für den Iran das Narrativ von den machthungrigen USA, die die Welt beherrschen wollen, Realität. Auch wenn sich Barack Obama 2009 von der Aktion der CIA distanzierte.

Die besonderen Merkmale anti-amerikanischer Tendenzen in Europa

Die Angriffe gegen die USA finden in Europa vor allem bei gebildeten Personen in gehobeneren Positionen ein positives Echo. Da ist es nicht der vermeintliche Machthunger der USA, der kritische Reaktionen auslöst, sondern vielmehr die Unfähigkeit Europas in vielen Bereichen zu punkten. Im ganz banalen Alltag wird es als unerträglich empfunden, dass amerikanische Unternehmen dominieren. Der lange bedeutungslose Versandhandel wurde durch Amazon zu einem bestimmenden Faktor beim Kauf von Waren. Für das rasche Beschaffen einer Information gibt es sogar ein neues Verb, man googelt im Internet. Die Kommunikation erfolgt über soziale Netze wie Facebook und Twitter. Mit der Welt verbunden ist man über ein Smartphone, auch eine amerikanische Erfindung.

Die Dominanz Amerikas findet nicht zum ersten Mal statt. Als in den vierziger Jahren der Siegeszug der elektrischen Haushaltsgeräte stattfand, hatten die europäischen Unternehmen Mühe, Konkurrenzprodukte auf den Markt zu bringen. Von der Waschmaschine bis zum Mixer, vom Kühlschrank bis zum Schnellkochtopf, vom Staubsauger bis zum Elektroherd, alles kam aus Amerika und die heikle Frage unter Freunden lautete „Habt Ihr auch schon eine amerikanische Küche?“ Diese achtzig Jahre zurückliegende amerikanische Welle ist heute kaum ein Thema, jetzt ist man eher erschüttert, dass kein europäisches Amazon oder Google verfügbar ist.

Vor allem schmerzt der Umstand, dass Europa auf dem geopolitischen Parkett nicht präsent ist. Ohne die USA könnte die EU nicht der Ukraine im Krieg gegen Russland helfen. Mehr noch: Länder, die sich durch Russland bedroht fühlen, tun alles, um im Rahmen der NATO unter den militärischen Schutz der USA zu schlüpfen, wie dies zuletzt auch Schweden getan hat. Die europäische Ohnmacht und Impotenz wird durch die Präsenz der USA überdeutlich und löst nicht eine Ablehnung der USA, sondern eine fundamentale Unzufriedenheit mit der EU aus.

Die europäische Pyramide der Frustration

Die eingangs angesprochene, weit verbreitete Frustration in der europäischen Bevölkerung stellt sich als Pyramide aus vielen Bausteinen dar. Auf den Grundstein war schon zu verweisen. Eine Gesellschaft, die Menschen vor allem schätzt, wenn das Bankkonto prall gefüllt ist und die Zahl der Liebesabenteuer ausreicht, um viele Seiten der Sensationspresse zu füllen, ist für Viele unerträglich, die mit durchschnittlichen Einkommen in regulären Beziehungen leben.

Die bisher geschilderten Faktoren können die große Unzufriedenheit nicht ausreichend erklären. Es gilt, Gruppen zu erkennen, die aus welchen Gründen immer nicht die gewünschte und angemessene Wertschätzung erfahren und sich daher benachteiligt fühlen. – n diesem Zusammenhang sind besonders die Frauen anzusprechen. Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat die Position der Frauen in der Gesellschaft, in Berufsleben und im privaten Bereich grundlegend verändert, dennoch ist die Klage über das schwierige Leben der Frauen in einer immer noch von Männern bestimmten Welt unüberhörbar. Auch schwingt immer die Sorge mit, man müsse, um als Frau zu bestehen, den Männern ähnlich werden und die speziellen Charakteristika des Weiblichen in den Hintergrund rücken, wodurch ein wesentliches Element der Menschlichkeit verloren ginge.

Berufsgruppen, die elementare Aufgaben für die Gesellschaft erfüllen, erfahren nicht immer den ihnen gebührenden Respekt und sind enttäuscht. Dieses Phänomen trifft vor allem Lehrer und Lehrerinnen, die durch die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen die Basis künftiger Entwicklungen legen, ohne dass diese bedeutungsvolle Rolle entsprechend anerkannt wird. Ähnlich ergeht es dem Pflegepersonal, das eine unverzichtbare Aufgabe bei der Versorgung der Kranken und Alten erfüllt, deren Dasein ohne Pflege unerträglich wäre. Die Gesellschaft neigt dazu, die Pflegenden als Hilfskräfte einzustufen, die selbstverständlich verfügbar sind und nicht besonders beachtet werden müssten. Zu den Berufsgruppen, ohne die ein gesellschaftliches Gemeinwesen nicht funktionieren kann und die nicht die angemessene Wertschätzung erfahren gehören neben anderen Bereichen auch die Polizisten. Die wenigen Hinweise zeigen stellvertretend für andere Mängel, wie leicht Personengruppen die gebührende Achtung verweigert wird und wie in einer Gesellschaft Frust entsteht.

Das moderne Arbeitsleben wird entscheidend durch die EDV bestimmt. Nachdem kaum eine Stunde vergeht, in der man sich nicht auf einer Plattform einwählen und eine Reihe komplizierter Zugangsetappen überwinden muss, ist es nicht verwunderlich, wenn Frust entsteht. Auch vergeht kau ein Tag, an dem nicht ein gewohntes und vertrautes Programm durch ein Up-Date verändert und der gewohnte Arbeitsablauf gestört wird und bei den Anwendern Frust bewirkt.

Zur Abrundung des Themas sei daran erinnert, dass Europa seit über hundert Jahren durch Kriege und soziale wie politische Umwälzungen immer wieder in ein Chaos gestürzt wurde, das ganzen Bevölkerungsgruppen die Existenzbasis entzog und gigantische Fluchtbewegungen auslöste. In der Folge gibt es in allen europäischen Ländern Minderheiten, die in ihren Gastländern nur mit Mühe heimisch geworden sind und immer noch die Nostalgie vergangener Gegebenheiten pflegen. Obwohl alle Verfassungen die Berücksichtigung der Interessen der Minderheiten vorschreiben, fühlen sich viele dieser Gruppen vernachlässigt und tragen zum Frustpotential in der Gesellschaft bei.

Fasst man die vielen Faktoren zusammen, die zur Unzufriedenheit in der Bevölkerung beitragen können, dann sind Massendemonstrationen auch in einer demokratischen Wohlstandsgesellschaft mit sozialer Absicherung nicht mehr so erstaunlich.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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