Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können wir mit Ihnen einen Blick in die Zukunft wagen? Gibt es Fortschritte, oder droht ein düsteres Weltuntergangs-Szenario?
Dr. Marc Bovenschulte: Wenn man sich mit der Zukunftsforschung befasst, geht es nicht darum, harte Prognosen abzugeben. Mal passiert dies und jenes, das wäre ein Forecast. Früher wussten wir, alles zwei Jahre verdoppelt sich die Prozessorleistung und halbiert sich der Preis. Das war wunderbar – Das Moore´sche Gesetz der sich verdoppelnden Transistorleistung. Das funktioniert bei einer komplexen Sache wie der Gesellschaft nicht.
Wenn man über die Zukunft spricht und denkt, das wird alles ganz furchtbar, unser Land fährt in den Graben, läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken, man gruselt sich. Für uns am Institut für Innovation und Technologie, die als Politikberater tätig sind, ist diese Sicht untauglich. Wir müssen konstruktive Wege suchen, wie wir Zukunft beschreiben.
Wir treffen daher keine Vorhersagen. Evidenz endet spätestens heute, für morgen haben wir keine harte Evidenz. An ihre Stelle tritt die Plausibilität. Das ist das Feld, auf dem wir uns bewegen. Wie plausibel sind komplexe Zukunftsszenarien? Es gibt verschiedene Spielarten aufgrund vielschichtiger Wechselwirkungen. Und auch disruptive Ereignisse gleichsam einem Meteoriten-Einschlag, der alles verändert, sind möglich. Man bewegt sich im relativen Wahrscheinlichkeitsraum. Es kann so sein, es kann aber auch ganz anders kommen. Wie unsere Zukunft aussehen wird, hängt aber maßgeblich davon ab, welche Entscheidung wir dabei heute treffen. Gerade mit Blick auf die Art der Energieversorgung, Infrastrukturen, das Verkehrssystem haben wir es mit Weichenstellungen und Investitionen zu tun, die oftmals jahrzehntelang wirksam und prägend sind.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Okay, Sie sind kein Wahrsager. Aber Deutschland im Jahre 2040, darüber können Sie schon Prognosen treffen? Wird das Land anders aussehen als heute?
Dr. Marc Bovenschulte: Deutschland wird anders aussehen. Faszinierend, auf der einen Seite wird vieles noch wie heute sein, vieles wird uns bekannt erscheinen. In vielen Bereichen wird es aber auch ganz anders sein. Schauen wir uns die großen Trends an, Klimawandel und Dekarbonisierung. Das wird weiter voranschreiten und auch müssen. Dass der Klima- und Tranformations-Fonds gegen das Grundgesetz verstößt, mindert ja nichts an der Aufgabe, den Umbau der Industriegesellschaft voranzubringen. Wir werden andere Formen der Energieversorgung im Lande haben, wir werden ganz andere Formen der Wertschöpfung erleben.
Stichwort Kreislaufwirtschaft: Die wird bis 2040 zum großen Teil endlich realisiert sein. Das führt zu anderen Abhängigkeiten, aber auch Unabhängigkeiten in der geopolitischen Ausrichtung. Unsere Arbeitswelt wird sich noch mal grundlegend ändern, und natürlich wird dabei die Künstliche Intelligenz (KI) verschiedene Jobs beeinflussen. Die Frage ist, wird die KI uns größtenteils arbeitslos machen?
Nein, eher nicht! Wenn man sich unsere demographische Entwicklung anschaut, können wir doch nur hoffen, dass in verschiedenen Bereichen, etwa in der Verwaltung, die KI einige Arbeitsplätze überflüssig macht. Wir haben gar nicht genug Leute, um all diese Tätigkeiten zu erledigen. Wir bekommen mit dem Werkzeug und Denkzeug KI vielmehr die Möglichkeit, menschliche Arbeitskraft zu multiplizieren, um die ganze Arbeit, die man machen muss, auch tatsächlich erledigen zu können. Das ist in jedem Fall ein großer Schritt.
Stichwort Arbeit: Die demographische Entwicklung trifft ja nicht nur Deutschland, sondern auch andere Weltregionen. Unser Nachbar-Kontinent ist Afrika. Der sollte uns eigentlich am Herzen liegen, oft liegt er uns auf dem Magen. Afrika ist der Kontinent mit der am schnellsten wachsenden Bevölkerung. Da haben wir jetzt noch 1,5 Milliarden Menschen, 2050 sollen es bereits 2,5 Milliarden und 2100 wohl 4,8 Milliarden sein. Gleichzeitig ist Afrika der Kontinent, der am stärksten vom Klimawandel betroffen ist. Das heißt unter dem Strich, weniger Ressourcen für deutlich mehr Menschen. Ob diese alle eine Perspektive innerhalb Afrikas finden, dahinter kann man ein Fragezeichen machen. Verständlich, wenn Menschen dort nach dem Motto der Bremer Stadtmusikanten agieren: „Etwas besseres als den Tod finden wir überall.“ Der Migrations-Druck auf Europa wird noch steigen, da sollte man sich bei uns im Lande keine falschen Vorstellungen machen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das bereitet den Bürgern natürlich Sorgen…
Dr. Marc Bovenschulte: Im Moment läuft die Diskussion ja eher darauf hinaus, wie viele wir abschieben können. Da kommt man dann auf 20.000 Leute, was ja nicht sonderlich viel ist. Wir werden sehr wahrscheinlich eine Migrations-Bewegung beobachten, die unsere Erfahrungen von 2015 deutlich übersteigt. Ich verstehe, dass das viele Leute überfordert.
Wir müssen trotzdem zur Handlungsfähigkeit zurückfinden. In der ganzen Diskussion um eine Obergrenze von Migranten kann es doch nicht um eine Zahl gehen, die man physikalisch ermittelt. Das ist vielmehr ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess. In dessen Verlauf wird sich entscheiden, ob Europa die Zugbrücke hochzieht und den Flüchtlingen an den Außengrenzen sich selbst überlässt. Oder ob es einen Weg gibt, einen versöhnlichen Mechanismus für alle Seiten zu etablieren.
Das ist das andere Thema am Arbeitsmarkt: Jenseits der KI geht es natürlich um die Frage, wo die Arbeitskräfte sonst herkommen sollen, wenn nicht aus dem Ausland. Und vielleicht ist das eine Perspektive, die Menschen anders zu integrieren. Gut möglich, dass dies eine extreme Belastungsprobe für die Demokratie, wie wir sie kennen, bedeutet. Erste Anzeichen, sehen wir jetzt schon. Das wird das Gesicht von Deutschland 2040 in die eine oder andere Richtung stark verändern. Aber ich bin da alles andere als hoffnungslos.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Für Sie sind es also eher gesellschaftliche Umwälzungen, die uns erwarten, nicht die technischen Dinge aus der Science Fiction, die das Bild der Smart City bestimmen?
Dr. Marc Bovenschulte: Derlei Dinge gibt es auch. Im Grunde genommen, ist Deutschland nun einmal schon gebaut. Wohl richtig, dass derzeit tausende Wohnungen fehlen und die Bundesregierung da handeln muss, aber derlei Ergänzungen im Bestand werden das Land nicht fundamental verändern. Neuerungen in diesem Bereich sind wahnsinnig teuer. Das haben China und andere Länder uns tatsächlich voraus, da wird regional oft erstmals überhaupt eine Bahnstrecke errichtet, die ist dann natürlich tipptopp. Bei uns war die Bahnstrecke vor 100 Jahren ja auch tipptopp. Andere Länder, andere Startbedingungen.
Natürlich wird sich das ganze Thema Smart City bei uns etablieren. Die Frage dabei ist aber, was Smartness eigentlich ist. Kommt das nur cleveren Geschäftsmodellen und internationalen Plattform-Unternehmen zugute? Oder hilft es auch den Bewohnern, die in den Städten leben? Da ist für mich die Stadt Barcelona ein positives Beispiel. Wir möchten, wie dort, dass es den Leuten besser geht, dass der öffentliche Raum besser genutzt wird, die Daten, die von Privatunternehmen erhoben werden, auch der Stadt zur Verfügung stehen, um besser planen zu können. Das geht so weit, dass die oberste Planerin dort forderte „Holt euch eure Daten zurück!“
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie könnte eine Smart City in Hamburg, München oder Berlin künftig aussehen? Mehr Hochhäuser? Weniger Autos? Oder doch besser Fahrrad fahren?
Dr. Marc Bovenschulte: Der städtische Bereich ist bei uns sehr verdichtet. Wir haben aber viele Verkehrsflächen wie Straßen und Parkplätze in Reserve. Da wäre es schon die Frage, ob das noch smarte Mobilität ist und wir uns das leisten können, wenn jeder mit zwei Tonnen Stahl um sich durch die Gegend fährt. Ich habe inzwischen auch meine Zweifel, ob die Shared mobility, eine Lösung ist. Es gibt da gegenläufige Tendenzen am Markt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Und wird es Magnetschwebebahnen geben, wie es derzeit in Berlin geprüft wird?
Dr. Marc Bovenschulte: In einer aktuellen Debatte ist es eher schwierig, auf eine Vision von 2040 zu schließen. Aber ich will das ja gar nicht verteufeln. Wenn es gute Gründe gibt und Konstellationen, unter denen eine Magnetschwebebahn besser ist als jedes andere Verkehrsmittel, dann soll man sie doch nehmen. Bloß wird man sich dem Wettbewerb stellen müssen. Ich entsinne mich, als es vor mehr als 20 Jahren um die Frage ging, den Berliner Flughafen BER zu bauen. Da haben einige gesagt, warum nutzt man nicht in Tempelhof das Terminal zum Einchecken und fährt mit dem Transrapid nach Leipzig direkt ans Gate, immerhin ein Airport mit 24-Stunden-Flugbetrieb, ohne Nachtflugverbot.
Schwierig ist doch nur, wenn man an Sonderlösungen bastelt, die mit nichts kompatibel sind. Selbst in China, wo es ja auch eine Magnetschwebebahn gibt, scheint es so zu sein, dass sich das Hochgeschwindigkeits-Netz der Bahn mit konventioneller Rad-Schiene-Technik durchgesetzt hat und sich der Transrapid auf Vorzeige-Strecken beschränkt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Also geht es künftig gar nicht mehr so vordringlich um technische Neuerungen und Innovationen, sondern um die Umwelt?
Dr. Marc Bovenschulte: Natürlich, aber Technik gehört zum Grünwerden auch dazu. Wie wird mit Energie umgegangen? Das Speichern von Energie in der Zukunft, wie gehen Städte mit Hitzestress um? Das Thema der so genannten Schwammstädte, die das Mehr an Wärme aufnehmen können. Die natürliche Kühlung, das gehört alles mit rein in die Diskussion. Es wird sich in dem städtischen Bild einiges ändern, ganz klar.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Und die Menschen steuern ihr Leben mit Brillen statt mit dem Handy?
Dr. Marc Bovenschulte: Da ist mittlerweile der Weitwurf eröffnet. Inzwischen gibt es ja am Markt schon einen Clip, den man sich ans Revers heftet, der das Handy ersetzen soll. Der hat einen Mini-Projektor, soll damit Inhalte auf der Handfläche projizieren. Dann gibt es Smart-Glasses, aber da gab es schnell große Ablehnung, als Google die auf den Markt gebracht hat. Man kann das nur schwer antizipieren, was wird wirklich angenommen?
Das ist der Unterschied zwischen gut und gut gemeint. Aber ich gehe schon davon aus, wir werden noch andere Formen technischer Devices bekommen, die uns dann mit Informationen versorgen und uns als digitaler Kompagnon begleiten. Eine smarte Technologie, die uns umgibt gewissermaßen, das ist ja auch die Kernvision von Smart Cities. Smart devices in smart Environments! Intelligente Gegenstände in einer intelligenten Umgebung, die miteinander kommunizieren und für den einzelnen das Optimum herausholen. Dort wird man navigiert, bekommt Angebote, die man besonders gerne mag. Die Algorithmen werden geradezu heiß laufen, das ist ein gefundenes Fressen für datengetriebene Geschäftsmodelle. Und deshalb noch mal die Frage: Wem gehören nachher die Daten. Ist es wirklich Smartness, wenn die Googles, Amazons und Apples dieser Welt den Vorteil haben in einem Smart-City-Home oder die Bewohner selbst.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ist die Vision, wenn Robocopter durch die Gegend fliegen, zu sehr Science Fiction oder tatsächlich realistisch?
Dr. Marc Bovenschulte: Einfache Wachroboter, die nachts in Lagerhallen fahren oder auf dem Werksgelände, die gibt es ja heute schon. Im Bereich der Sensorik wird da relativ viel passieren. Ob wirklich autonom in kritische Situationen eingegriffen wird von Robotern oder roboterartigen Geräten, das erwarte ich bis 2040 nicht. Dass Drohnen über uns schwirren, das wird es schon geben. Hängt davon ab, wie gut oder wie schwach das Sicherheitsempfinden in Städten ausgeprägt sein wird. Wenn sich die Leute total sicher fühlen und nichts zu befürchten haben, dann werden sie Drohnen über sich ablehnen. Wenn sie aber von Unsicherheit geprägt sind, dann beruhigt vielleicht so eine Drohne, die mich auf meinem Heimweg begleitet und sofort Alarm auszulösen hilft. Wenn man schon zweimal überfallen worden ist, wird die Hinnahme-Bereitschaft größer ausfallen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wird unser Land noch eine Ideenschmiede sein, oder haben wir in technischen Dingen den Wettbewerb gegen China und die USA schon verloren?
Dr. Marc Bovenschulte: Es gibt immer wieder die Diskussion, das Thema KI wird zwischen China und den USA ausgemacht, andere Nationen hätten da nichts mehr zu melden. Und wenn man es sich genauer anguckt, die zentralen Entwicklungen, gerade mit Blick auf Patente, kommen nicht aus Deutschland. Und das ist auch in vielen anderen Bereichen zu sehen, da haben sich andere Nationen längst in den Vordergrund geschoben.
Was wir jedoch immer haben, ist eine exzellente Grundlagenforschung, aus der müssen wir einfach besser schöpfen. Das ist der übliche Transfer in Industrie, die Vermarktung, sie kennen die alte Leier am Beispiel MP3: in Deutschland erfunden, aber in den USA und Fernost in einen Milliardenmarkt überführt. Dass Deutschland jetzt im Innovations-Wettbewerb ganz stark hinterherläuft, lässt sich aus den Indikatoren für Innovationen im Moment freilich nicht ablesen. Es gibt zwar Tendenzen, die nach unten zeigen. Aber es ist nicht so, als würden wir da durchgereicht. Ich drehe die Frage mal um, was bleibt uns denn anderes übrig, als eine Ideenschmiede zu sein? Mich fuchst, wenn ich so Kataloge wie „Deutschland – Land der Ideen“ in der Hand halte – das ist alles aus dem letzten Jahrhundert. Ich warte bei uns auf das Fax oder das Gummibärchen oder eine Art von neuem Motor im 21. Jahrhundert. Das würde ich mir wünschen, dass Deutschland so was noch einmal erfinden könnte.
Dabei gibt es ein Feld, das ganz naheliegend ist und von der industriellen Struktur her sehr gut zu Deutschland passt, zwar eine Injektion neuer Ideen braucht, aber ein großes Anwendungspotenzial finden wird: ein neues fortgeschrittenes System-Engineering.
Das konnten Deutsche schon immer ganz gut, Systemlösungen mitsamt der ganzen Mechatronik, die Mikrosystem-Technik, der gesamte Maschinen- und Anlagenbau, Deutschland hat ja – und macht es immer noch – die Welt automatisiert. Und jetzt kommen neue Anforderungen durch die Dekarbonisierung. Die chemische Industrie muss ihre Prozesse weitgehend elektrifizieren, was bisher immer noch mit Gas und Öl befeuert wurde. Die ganze alternative Kreislaufwirtschaft, da müssen sowohl Sachen sortiert und auseinander gebuddelt werden. Die benötigen eine entsprechende Sensorik, aber auch Qualitätskontrollen, das sind hochkomplexe Prozesse.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Also der gesamte Automatisierungsprozess…
Dr. Marc Bovenschulte: Genau, aber natürlich hinterlegt mit viel digitalen Steuerungs- und Regelungstechniken, und da ist sicherlich auch jede Menge KI erforderlich. Viele Geschäftsmodelle werden sich noch mal verändern, weil das ganze flexibler und agiler gestaltet werden muss. Aber das sind große Chancen für den hiesigen industriellen Kern Deutschlands, sich in die Zukunft zu wandeln. Und die riesigen Märkte weltweit, die sind gekennzeichnet von anstehenden Prozessrevolutionen. Da müssen ganz andere Mechanismen etabliert werden. Produktions- und Rohstoff-Gewinnungs-Prozesse gibt es oftmals noch gar nicht. Da ist ein weites Feld für die deutsche Industrie, da kann sie aus dem Vollen schöpfen
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Dass die Deutschen gut organisieren und managen können, behält Gültigkeit? Was sollte die Politik unternehmen, um endlich schneller zu reagieren auf Veränderungen?
Dr. Marc Bovenschulte: Mal wieder ein Blick nach Amerika. Es ist nicht das Allheilmittel, und man kann das von der Rechtskultur auch nicht eins zu eins übertragen, aber man könnte über den Tellerrand hinausblicken. In den USA sind sie innovativer und risikoaffiner, und da ist Regulierung oftmals nur Laissez-faire. Nach dem Motto: Macht mal, geht um mit der Verantwortung. Wenn ein Produkt jedoch Schaden anrichtet, ist dies stark strafbewehrt. Die Leute lassen sich trotzdem drauf ein. Wobei man nicht so tun sollte, als würde es in den USA gar keine Regulierung geben. Die Zulassung von Arzneimitteln etwa, durch die FDA, die Food and Drug Administration, ist so ziemlich das härteste Regime, dem man begegnen kann. In vielen anderen Bereichen lassen sie es unter Beobachtung erst einmal laufen.
In Deutschland hingegen versuchen wir immer, schon vorab über alle Eventualitäten nachzudenken und es in ein Regelwerk zu gießen, und oft klappt das eben nicht. Da wäre es besser, am Anfang lieber den Rahmen offener zu gestalten und erst nachzusteuern, wenn die Sache negativ verläuft. Das wäre ein lernender Gesetzgebungs-Prozess, aber ganz ehrlich, bei uns werden Gesetze natürlich auch angepasst, wie man derzeit am Gebäude-Energiegesetz (GEG) erleben kann.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ich denke, die Bürger interessiert sehr, wie es künftig um ihre medizinische Versorgung bestellt ist. Die elektronische Patientenakte lässt immer noch auf sich warten. Es gibt an der Börse Firmen für Tele-Medizin, doch wer wird bei uns tatsächlich schon am Bildschirm untersucht?
Dr. Marc Bovenschulte: Das wird sich deutlich ändern – und auch ändern müssen. Dafür sorgt allein der Kostendruck, der aus der demographischen Entwicklung erwächst. Wir haben immer mehr Leute, die sind multimorbid, stark versorge- und pflegebedürftig. Demgegenüber verfügen wir über zunehmend weniger Personal, das diese Leistungen erbringen kann. Auch hier werden wir einen starken Digitalisierungs-Impuls setzen müssen, da führt kein Weg dran vorbei. Wir sehen, die öffentliche Hand kommt mit der elektronischen Patientenakte nicht aus dem Knick, und so fangen Krankenkassen an, eigene Lösungen zu entwickeln. In der demografischen Situation und auch in der Zeitenwende brauchen wir eben neue Lösungen.
Nehmen wir den Fachkräftemarkt: Im Bereich Solar und Photovoltaik gibt es Unternehmen, die Solardächer montieren, Batteriespeicher in die Keller stellen und Wärmepumpen installieren, und dafür ungelernte Arbeitskräfte einstellen, also gar keine Installateure oder Dachdecker. Die Abnahme der Anlagen übernehmen natürlich Fachleute – der Meister, womit die Verantwortung geklärt ist. Das läuft gut, zumal es Garantieansprüche gibt. Wenn die Firma bereit ist, das Risiko zu übernehmen, ist das eine praktikable Lösung. Und jeder Auszubildende im zweiten Lehrjahr lernt ja auf dieselbe Art und Weise. Das Prinzip wird nur ausgeweitet. Die duale Berufsausbildung wird keinesfalls ersetzt, das ist gut und richtig so, sollte Goldstandard bleiben, wo immer es geht. Aber wo es nicht reicht, muss es neue Wege in die Berufsfachlichkeit geben.
Die Erfahrung zeigt uns ja, wenn ich mich den ganzen Tag mit einer Sache beschäftige, werde ich es durch Learning by doing irgendwann auch handwerklich beherrschen. Die angelernten Kräfte müssen trotzdem ordentlich bezahlt werden und Aufstiegsmöglichkeiten haben. Der Haken ist nur, dass wenn sie als Mitarbeiter ihre spezielle Firma verlassen, sie oft kein übergreifend gültiges Zertifikat haben. Da müssen Lösungen geboten werden. Auch für künftige Einwanderer aus dem Ausland, die werden womöglich nicht erst drei Jahre Berufsausbildung ableisten, um sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Noch mal zur Gesundheit. Werden wir länger leben oder länger arbeiten müssen?
Dr. Marc Bovenschulte: Das eine hat ja mit dem anderen nur bedingt zu tun. Ich weiß nicht, wie viel höher unsere Lebenserwartung noch ausfallen wird; die Entwicklung wird vermutlich nicht bis 120 Jahre weitergehen. Wovon ich überzeugt bin, ist, dass wir bis zum Jahre 2040, einen riesigen Fortschritt in der Behandlung von Krebs erleben werden. Wir sehen das jetzt schon bei Biontech und ModeRNA, wie diese an Impfungen gegen Krebs arbeiten, oder was die City of Hope, das Krebs-Institut in Kalifornien, für einen Wirkstoff entwickelt hat, der bei gut 60 Weichteil-Tumoren offenbar Aussichten zur Heilung bietet. Da werden wir sicherlich große Fortschritte erleben. Und natürlich gibt es auch eine Verbesserung der Lebensqualität. Die Länge des Lebens ist das eine, das andere, wie gut lebe und erlebe ich die Jahre im hohen Alter. Wenn Krebs endlich seinen großen Schrecken verlieren würde! In der Vergangenheit war es doch so, wenn jemand die Diagnose Lungenkrebs erhalten hat, bedeutete dies sein Todesurteil. Das ist heute nicht mehr zwangsläufig so. Heutzutage können wir demjenigen immer noch fünf oder sieben Lebensjahre schenken. Das ist ein echter Zugewinn! Manche werden sogar ganz geheilt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie zählen wie viele Ingenieure zu den Fortschrittsoptimisten…
Dr. Marc Bovenschulte: Gerade im medizinischen Bereich werden wir sicherlich noch den einen oder anderen Durchbruch erleben. Meine große Hoffnung ist, dass dies insbesondere bei der Antibiotika-Resistenz der Fall sein wird. Es gibt auch hier zwei Seiten. Zum einen, dass man diesen exzessiven Missbrauch von Antibiotika einschränkt und das Entstehen multi-resistenter Keimen reduziert wird, auf der anderen Seite, ganz neue Antibiotika künftig unsere letzte Verteidigungs-Linie bilden.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Fit bleiben wollen die Menschen im Alter, trotzdem scheinen sie Schwierigkeiten zu haben, ihren Hang zur schlechten Ernährung zu überwinden, passt das zusammen?
Dr. Marc Bovenschulte: Die Ernährung ist ein gutes Beispiel und zeigt, der Mensch handelt keineswegs nur rational. Wenn das so wäre, würde niemand rauchen oder Alkohol konsumieren, fettes Grillfleisch essen. Da lauern andere Gemütslagen, die die Rationalität aushebeln. Vieles an dieser Diskussion nehmen die Leute – wie den Fleischkonsum – als Versuch der Umerziehung oder sogar als Verbot wahr. Wir sehen allerdings durchaus sich wandelnde Ernährungstrends, hin zu Fleisch-Ersatzprodukten am Markt. Ob das alles wirklich gesund ist, so hoch prozessiert, wird sich zeigen. Ich glaube, dass der Fleischkonsum zurückgeht, auch aus ökologischen Gründen, Tierwohl-Erwägungen oder dem Wunsch, sich gesünder zu ernähren. Ich bin da überhaupt nicht hoffnungslos.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Manche technologischen Neuerungen kommen ganz überraschend über das staunende Publikum. Die Künstliche Intelligenz in Form der erst 2022 am Markt verbreiteten ChatGPT war lange bestenfalls was für Wissenschafts-Insider. Nun ist es das Must-have für jedermann, die es für Bewerbungsschreiben nutzen oder Liebesbriefe.
Dr. Marc Bovenschulte: Das ist wie mit Handy oder Laptop, an die haben wir uns auch rasch in unserem Leben gewöhnt. Das sieht man schon bei der Verbreitungswegen. Es wird in die Suchmaschinen integriert, Microsoft will es nun in sein Office-Paket bauen. Das dreht man auch nicht mehr zurück. In der Arbeit am Institut nutzen wir es nicht. Aber im privaten oder ehrenamtlichen Bereich wirkt die Nutzung der App so, als wären gleich zwei weitere Kollegen am Start für frische Ideen. Das ist so wie mit der Informationserschließung durch Google vor nicht allzu langer Zeit, plötzlich konnte jeder das Internet nutzen, musste nicht mehr extra in eine Bibliothek gehen. Es gibt Stimmen, die sagen, dadurch würde akademisches Wissen entwertet. Das finde ich überhaupt nicht.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sind Sie überrascht, wie schnell das ging mit der Künstlichen Intelligenz?
Dr. Marc Bovenschulte: Wir hatten schon vor zwei oder drei Jahren einen Artikel geschrieben über künstliche Kreativität, das ist ja im Grunde genommen, generative KI. Der Bericht fand damals noch vergleichsweise wenig Widerhall, aber es schien uns wie ein zwangsläufiger Schritt. Folgerichtig also, dass den Bildern aus Algorithmen bald die Deep Fakes im Fotobereich folgten. Für mich ist es ein bisschen so wie die Autokorrektur im Handy, bloß dass nicht nur das einzelne Wort berücksichtigt wird, sondern all die anderen Worte davor auch. Damit ist das im Ergebnis wieder eine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie werden wir 2040 bezahlen? Mit Euro, Bitcoin oder etwa wieder mit D-Mark?
Dr. Marc Bovenschulte: Mit dem Euro, ganz klar. Wir schauen mal, ob der digitale Euro kommt. Es wird auch künftig noch einen gewissen Teil an Bargeld-Transaktionen geben. Wir werden auch mit weiteren elektronischen Zahlungsmitteln operieren, so wie heute schon mit Apps verschiedener Zahlungsdienst-Anbieter wie Visa oder Paypal. Und wenn jetzt noch der digitale Euro dazu kommt, werden wir auf dem Handy so eine Art Portemonnaie oder Wallet haben, wo dann 500 digitale Euro drin sind, die man direkt transferieren kann. Hoffentlich auch offline, so dass man nicht immer auf Netz-Kontakt angewiesen ist.
Schließlich muss man sehen, welches Zahlungsmittel in welcher Situation praktisch den größten Vorteil bietet. Die Frage des digitalen Euros ist doch, ob man sich dauerhaft von digitalen Zahlungsanbietern abhängig machen will. Hier geht es ein Stück weit auch um die Zahlungssouveränität Deutschlands gegenüber ausländischen Plattformen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Der Datenschutz? Verändert sich da allmählich was? Weichen ideologische Bedenken und die Sorge vor der Datenkrake Staat dem Pragmatismus, seitdem wir am Computer jeden Tag bereitwillig die Cookie-Einstellungen akzeptieren, ohne uns groß Gedanken zu machen, wie unser persönliches Bewegungsprofil weiter verwertet wird?
Dr. Marc Bovenschulte: Das ist ja ein totales Paradox in Deutschland. Man sagt immer Big brother und hat den Staat im Hinterkopf, macht ein Gestampfe, wenn es eine Volkszählung gibt. Dabei sind die wirklichen Datenkraken ja Firmen. Dort sind wir für ein paar lächerliche Pay-back-Punkte bereit, datentechnisch die Hose runterzulassen, während wir beim Staat, der hochgradig reguliert ist, ein Tamtam veranstalten. Das passt nicht gut zusammen. Mir sind meiner Erinnerung nach nicht wirklich viele Datenmissbrauch-Skandale des Staates bekannt, wobei der Einsatz von Algorithmen in der Verwaltung auch zu Diskriminierung etc. führen kann. Man sollte auch hier sensibel bleiben, aber die großen Datenkraken sind nicht staatliche, sondern privatwirtschaftliche Akteure.
Noch mal ein Gedanke zum Geld: Ich glaube nicht, dass wir eine umfassende Renaissance des Bargeldes erleben werden. Es wird aber dauerhaft bestimmte Marktsegmente, Situationen und auch Bevölkerungsgruppen geben, für die Bargeld wichtig bleiben wird. Sei es wegen der Inklusion, sei es wegen der Anonymität von Bargeld.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ist das nicht auch, was in Wirklichkeit hinter dem Bitcoin-Hype steckt?
Dr. Marc Bovenschulte: Bitcoin ist ja keine Währung, sondern ein Krypto-Asset mit Zahlungsfunktion. Der steigt und schwankt im Wert, da habe ich im Grunde gar nichts Verlässliches in der Hand. Das geht munter rauf und runter, da werden Verkäufe gemacht und ich stehe plötzlich nur noch mit der Hälfte da. Es muss auch nicht nur auf Darknet oder semi-zwielichtige Bereiche beschränkt sein, aber im Rang einer Währung ist es überhaupt nicht. Facebook hat es mit Libra versucht und hat sich doch zurückgezogen. Ich sehe eher Anläufe, digitales Zentralbank-Geld auf den Markt zu bringen, da sollte Europa im Wettbewerb mithalten können, um nicht überrannt zu werden. Ich muss mir nur überlegen, ob ich hier irgendwann wirklich mit dem digitalen Dollar oder Yuan bezahlen möchte.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Noch ein letztes Thema. Wie wird das mit der Atomkraft sein im Jahr 2040. Gerade rudert Schweden wieder zurück und führt sie wieder ein. Was glauben Sie?
Dr. Marc Bovenschulte: Am Ende geht es um Kosten und Geld. Regenerativer Strom ist billiger! Das ist eine Frage des Marktes. Atomkraftwerke sind Milliardeninvestitionen, von den Folgekosten der Endlagerung ganz zu schweigen. Und der Strom ist trotzdem teurer. In England hat man ein Konstrukt gewählt, wo der Staat einen festen Preis pro Kilowattstunde für Atomstrom garantiert, der deutlich über dem Marktpreis liegt. Und das auf 35 Jahre.
Die Betreiberfirmen müssen in die Hände klatschen vor Freude. So ein Kontrakt ist wie eine Gelddruckmaschine. Wenn etwas Ideologie-getrieben ist, ist es nicht die regenerative Energie, sondern, den Atomstrom mit der Brechstange durchzusetzen. Ökonomisch sinnlos.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das heißt, wir müssen nur das Zeitfenster überbrücken. Wie ist Deutschland da aufgestellt, auch seit dem Regierungswechsel, bei Solar besser, beim Wind weniger gut?
Dr. Marc Bovenschulte: So ist es. PV übererfüllt die Ausbauziele, Wind bleibt hinterher. Das muss man natürlich ändern. Es hängt viel mit Genehmigungen zusammen, aber ein Teil des deutschen Ausbaus bei Windenergie geschieht ja auch mit Anlagen aus dem Ausland und zum großen Teil auch aus Fernost. Wir müssen verdammt aufpassen, dass die deutsche Windenergie-Branche nicht das gleiche Schicksal erleidet wie vor zehn Jahren die Solarenergie. Wir haben in Deutschland heute keine Wind-Rotorblatt-Produktion mehr. Die letzte ist Ende 2022 in Rostock zugemacht worden. Bedauerlich, so sollte es in Zeiten der Dekarbonisierung nicht sein.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie entgegnen sie den notorischen Zukunftspessimisten?
Dr. Marc Bovenschulte: Es fehlen denen vielleicht ein bisschen die positiven Bilder im Kopf, sich einfach vorzustellen, dass auch eine andere Welt erstrebenswert ist. Unser Land wird sehr ähnlich sein zu dem von heute. Aber gleichzeitig auch ziemlich anders sein. Ich vergleiche das gerne mit der Einführung und Nutzung des Smartphones, das hat doch vieles drum herum verändert, dass wir alles digital erledigen, einkaufen, Tickets bestellen. Aber unsere Umwelt sieht dennoch sehr vertraut aus.
Schwarzmalen oder es positiv sehen? Man kann auch ein naiver Fortschrittsoptimist sein, ich weiß nicht, ob ich den Fortschrittsglauben für mich reklamieren würde, Ich bin aber ganz grundlegend positiv gestimmt, was die Entwicklung angeht, wenn der Druck nur hoch genug bleibt. Aufgeben ist keine Option, und die Hände in den Schoß legen auch nicht. Als Politikberater kann man Auftraggebern nicht sagen, Leute, egal was ihr macht, das wird nichts. Man muss versuchen, Lösungen zu finden, wie es besser wird.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Vielen Dank, Herr Bovenschulte, für das Gespräch.
Zur Person: Dr. Marc Bovenschulte ist Leiter des Bereichs Demografie, Cluster und Zukunftsforschung der Innovationsagentur VDI/VDE-IT und Mitglied im Lenkungskreis des Instituts für Innovation und Technik. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Geotechnologie-Politik und die Auswirkungen des technologischen und gesellschaftlichen Wandels auf Wertschöpfung und Beschäftigung. Bovenschulte arbeitet u. a. für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und das Kanzleramt.