Früher war auf beiden Seiten der Heidestraße in Moabit, dem verarmten westlichen Nachbar-Quartier von Berlin-Mitte, nur Terra incognita. Eine laute unansehnliche Durchgangsstraße mitten durch das von Albert Speer einst für Hitlers wahnwitzige Germania-Pläne freigeräumte Niemandsland im Spreebogen.
Hier sollte die Welt-Hauptstadt mit ihrem gigantomanischen Kuppel-Dom entstehen. Was von den Plänen blieb, waren die Schweizer Botschaft gegenüber vom neuen Kanzleramt und reichlich Brachen für Berlins neues Regierungsviertel, das nun allmählich Fassung bekommt und die angrenzenden Stadtteile organisch miteinander zu verbinden sucht.
Main-Station - allerdings lange Zeit ohne Bahnhofsviertel
Nach der Wiedervereinigung ging es mit Abriss zunächst sogar weiter. Der Lehrter Bahnhof musste für den Bau des neuen Berliner Hauptbahnhofes weichen. Es entstand Europas größter Umsteige-Bahnhof, ein Mobilitäts-Knoten freilich ohne Bahnhofsviertel. Meinhard von Gerkans berühmte Bahnschlange glänzte als einsames gläsernes Leuchtfeuer inmitten eines sonst noch brachliegenden Gewerbegebietes, das Jahrzehnte als Container-Umschlagsplatz hergehalten hatte.
Was seither auf den insgesamt 60 Hektar entstanden ist, erhielt den hochtrabenden Namen Europa-City. Die Wüstenei mit nur spärlich verbliebenen Restbauten wurde per Masterplan unter maßgeblicher Beteiligung der Bahn-Immobilien in Blocks aufgeteilt. Mit den markanten Gewerbebauten hinter dem Hamburger Bahnhof, der neu entstandenen Nationalgalerie für Gegenwartskunst, fing es an.
Blickfang ist bisher die 50-Hertz-Firmenzentrale
Erst kamen die Bahnhofs-Hotels, das waren sichere schnelle Investments zur Unterstützung des Infrastrukturprojekts Umsteige-Bahnhof. Dann wurde die neue Stadt in nördliche Richtung am westlichen Ufer des Hohenzollernkanals (Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal) und dem quadratischen Becken des Humboldt-Hafens fortentwickelt. Sehenswert (aus der S-Bahn) ist hier vor allem der Wartestellen-Bereich an der Straßenbahnstrecke mit seinen beiden geschwungenen Dächern - Gruber-Popp zeichneten hier mit ihrer Beton-Konstruktion die Verkehrsströme nach - und den Abschiedsgruß per Taschentuch.
Über 3000 neue Wohnungen in trostloser Europa-City
Seit 2010 ist der gesamte Bereich quasi Dauerbaustelle. Über 3000 Wohnungen sind sukzessive entstanden - und nicht wenige Berliner fragen sich bis heute, wer denn eigentlich in die ziemlich gesichtslosen Wohnblocks eingezogen ist. Allmählich gibt es auch eine funktionierende Nahversorgung per Supermarkt und Späti.
Sehenswertes 51 Meter großes Hochhaus war lange Jahre einzig die Unternehmenszentrale des Stromübertragungs-Betreibers 50Hertz aus der Feder des Grazer (und mittlerweile zugleich in Berlin ansässigen) Büros Love Architecture and Urbanism. Gemeinsam mit dem Türmchen von Total, dem französischen Mineralöl-Konzern, der einst das alte DDR-Tankstellen-Netz übernommen hatte und seither in Berlin präsent ist, bilden beide Gebäude das südliche Entree in das neue Stadtquartier.
Stadtplatz und Mittelpunkt des fremdartigen Stadtteils
Nun könnte die Europa-City ein neues Zentrum bekommen an der Heidestraße 46-52 - mit dem Bechstein-Campus. Es soll ein Kultur-, Gewerbe- und Einzelhandelsstandort werden - ein Anziehungspunkt mit möglicher Stadtplatz-Funktion. Man wird sehen, wie es hier im Viertel angenommen wird.
Die Hoffnungen sind groß. Immerhin hat sich das Büro Graft unter anderem gegen Kleihues & Kleihues und Staab Architekten durchgesetzt, die in der Hauptstadt ganz erheblich zur architektonischen Fragwürdigkeit beigetragen haben. Graft setzt mit dem Entwurf ein Ausrufezeichen für den weltweiten berühmten Flügel-Hersteller C. Bechstein.
Klaviersäle für Europas größte Pianoforte-Fabrik
Im neuen Campus sollen zwei Konzertsäle entstehen, Übungs- und Tagungsräume und natürlich ein Flagship-Shop für die teuren Klaviere, Pianos und Konzertflügel. Immerhin ist die bereits anno 1853 gegründete C. Bechstein Pianoforte AG aus Berlin ein Aushängeschild für Klang und Handwerk aus Deutschland weltweit. Das Unternehmen ist tatsächlich heute der größte Klavierhersteller Europas und eine Klammer zwischen dem historischen Berlin und der neuen Metropole.
Wer weiß, vielleicht treten im Bechstein-Campus bald Virtuosen der Klangkunst wie Igor Levit auf oder finden sogar regelmäßige Klavierabende statt - eine ziemlich aufregende Vision für den bisher fast unbeachtet gebliebenen Transitraum.