Politik

Die Dauerkrise des Liberalismus - eine Analyse

Lesezeit: 11 min
20.01.2024 15:50
Seit dem Doppelschock des Jahres 2016 – als die britischen Wähler für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union stimmten und die Amerikaner Donald Trump zu ihrem Präsidenten wählten – wird uns erzählt, dass der Liberalismus in der Krise stecke. Aber welcher Liberalismus?
Die Dauerkrise des Liberalismus - eine Analyse
Flaggen der Europäischen Union wehen im Wind vor dem Berlaymont-Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel. Steckt der Liberalismus wirklich in der Krise?
Foto: Arne Immanuel Bänsch

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Sprechen wir hier von einer Reihe Ideale, oder von Institutionen wie der viel kritisierten „liberalen Weltordnung“, oder nur von den jüngsten in einer Reihe westlicher Länder verfolgten politischen Strategien, die mit einer nachvollziehbar als Liberalismus bezeichneten politischen Philosophie womöglich wenig zu tun haben?

Ähnliche Fragen können wir bezüglich des Wortes „Krise“ stellen. Verweisen die Autoren aus der inzwischen entstandenen Heimindustrie zur „Liberalismuskrise“ auf einen Moment, bei dem es – wie in der ursprünglichen griechischen Bedeutung – um Leben und Tod geht, oder auf etwas Alltäglicheres wie das Scheitern einer politischen Strategie?

Jüngste Bücher stecken mögliche Antworten ab. Der Politiktheoretiker Patrick J. Deneen von der University of Notre Dame begrüßt die Krise und hofft, dass sie zum ideologischen und praktischen Niedergang des Liberalismus führen wird. Er glaubt, dass der Liberalismus durch etwas völlig anderes ersetzt werden sollte, und möchte sein Buch als Handbuch für eine neue „Elite“ – eine „Partei der Ordnung“ – verstanden wissen, um einen „Regimewechsel“ herbeizuführen und die „Partei des Fortschritts“ zu überwinden.

Für den begabten Polemiker Samuel Moyn, Historiker und Professor für Rechtswissenschaft in Yale, ist der Liberalismus in der Welt der Ideen und als praktischer politischer Ansatz vom rechten Weg abgekommen. Sein Niedergang habe viel früher begonnen, als traditionelle Diagnosen das nahelegen. Laut Moyn geht es nicht nur darum, dass der Triumphalismus der 1990er Jahre seine populistische Quittung erhielt. Er ist vielmehr der Ansicht, dass die Liberalen ihre Ideale bereits in den Anfangsjahren des Kalten Krieges zu verraten begannen. Einen zuversichtlicheren Liberalismus für die heutige Zeit zu gestalten erfordere eine Neufokussierung auf das Ziel eines Lebens freier Selbsterschaffung.

Die deutsche Philosophin Elif Özmen ist optimistischer. Sie vertritt die Ansicht, dass der Liberalismus während des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts eine in sich schlüssige Position dargeboten habe. Während er mit Sicherheit blinde Flecken aufweise, könnten diese durch Rückgriff auf Ressourcen von innerhalb der liberalen Tradition selbst behoben werden. Die Liberalen müssten jeder Versuchung widerstehen, die Allgemeingültigkeit ihrer Ideale aufzugeben; stattdessen sollten sie der Gültigkeit des „Trio liberale“ aus Individualismus, Freiheit und Gleichheit neue Geltung verschaffen. Dieser letzte Punkt scheint besonders relevant für jüngere, der Linken zuneigende Kritiker, die beiläufig annehmen, dass der Liberalismus lediglich ein untoter Zentrismus sei, der durch seine früheren Beziehungen zum Kapitalismus und Kolonialismus hoffnungslos kompromittiert sei.

Meuchler des Liberalismus

Deneen erlangte 2018 schlagartige Bekanntheit mit seinem Traktat Why Liberalism Failed (Deutsch 1919: Warum der Liberalismus gescheitert ist). Dieses von selbsterklärten Zentristen beworbene und von niemand Geringerem als Barack Obama empfohlene Buch schien eines jener Bücher zu sein, die deutlich öfter zitiert als tatsächlich gelesen werden. Und da viele noch immer von der Wahl Trumps geschockt waren, diente es – neben stärker persönlichen Schilderungen wie der Hillbilly-Elegie von J.D. Vance – als perfektes Requisit für eine öffentliche Zurschaustellung liberaler Zerknirschung.

Das Buch von Vance entwickelte sich zum praktischen Handbuch für „Trump-Safaris“, bei denen sich Liberale ins exotische Hinterland aufmachten, dessen örtlich verwurzelte „Somewheres“ angeblich ein Gefühl tiefer Entfremdung gegenüber all jenen herablassenden kosmopolitischen „Anywheres“ empfanden. (Diese vom britischen Journalisten David Goodhart geprägte oberflächliche Gegenüberstellung jener, die an einen Ort gebunden sind, und jener, die ihren Laptop überall aufklappen können, wurde von Liberalen, die versuchten, aus unserer angeblichen „Ära des Populismus“ klug zu werden, begeistert aufgegriffen.)

Deneens Buch dagegen war eher ein Leitfaden zum Verständnis antiliberalen Denkens. Seine gewagteste, aber völlig implausible Behauptung lautete, dass sich praktisch jedes heutige Problem nicht auf das Scheitern des Liberalismus, sondern auf seinen Triumph zurückführen lasse.

Laut Deneen ist der Liberalismus mit seiner verderblichen individualistischen Ideologie – die mit stabilen Gemeinschaften, echter Moral und auch dem Schutz der Umwelt unvereinbar sei – ein gemeinsames Band, das anderweitig widerstreitende Gruppierungen eint. Demokraten und Republikaner seien lediglich die progressiven und libertären (oder marktverrückten) Flügel des Liberalismus, der mit John Locke begonnen habe. Angesichts dieser scheinbar völligen Dominanz des Liberalismus konnte Deneen lediglich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und den Rückzug in kleine, einer antiliberalen Lebensweise verbundene Gemeinschaften empfehlen.

Ein halbes Jahrzehnt später hat sich Deneens Rezept geändert. Er inzwischen Mut geschöpft durch die angebliche globale populistische Revolte und den Erfolg antiliberaler Regime dabei, zur Durchsetzung ihres eigenen Moralverständnisses rücksichtslos die öffentliche Macht einzusetzen. Das Regime des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán – mit seiner natalistischen Politik und seinem öffentlichen Bekenntnis zum Christentum – wird dabei regelmäßig als Vorbild angeführt. Unter anderem möchten Deneen und andere „Integralisten“ anscheinend die Frage wieder aufgreifen, warum es überhaupt eine Trennung von Staat und Kirche geben sollte.

Konservative Revolution

In Regime Change: Toward a Postliberal Future wiederholt Deneen diese Vorwürfe. Der Liberalismus in seinen „progressiven“ und „klassischen“ Ausprägungen sei allmächtig, lasse die amerikanischen Städte verkommen und in „stumpfer Langeweile und psychischer Verzweiflung“ untergehen, während die ländlichen Gebiete immer mehr „Tode aus Verzweiflung“ erlitten. Das einzig Neue im Vergleich zu seiner früheren Darstellung ist womöglich, dass sich das heimliche Einverständnis der nominell linken und rechten Gruppierungen jetzt laut Deneen auch auf einen „woken Kapitalismus“ erstreckt: ein Projekt, in dem eine ruchlose Manager- und Technokratenklasse die Identitätspolitik als Waffe einsetze, „um die Unterschicht zu kontrollieren“.

Wie andere US-amerikanische Verbreiter moralischer Panik scheut Deneen nicht davor zurück, das heutige Leben als „totalitaristisch“ zu beschreiben. Das liberale Regime möge „erschöpft“ sein, doch es stelle weiterhin zunehmend totalisierende Ansprüche an seine Bürger, die im Namen der Befreiung auch den letzten Rest sozialer Stabilität zerstörten.

Wenn die Menschen höllisch wütend seien und die Lage nicht länger hinnähmen, sei die Zeit für eine von einer neuen Elite herbeigeführte konservative Revolution gekommen. Ohne auf lästige soziologische Komplexitäten einzugehen erklärt Deneen, dass alle politischen Gemeinwesen immer in die Wenigen und die Vielen unterteilt seien und das auch immer bleiben würden, wobei Letztere Zufriedenheit aus „Stabilität“ und „Kontinuität“ zögen. Ohne irgendwelche empirischen Belege vorzulegen, behauptet er schlicht, dies sei, neben einem „Gefühl von Dankbarkeit für die Vergangenheit und von Verpflichtung gegenüber der Zukunft“, „was die meisten gewöhnlichen Leute instinktiv anstreben“.

Wie ein guter Leninist glaubt Deneen freilich nicht, dass die „ungewaschenen Massen“ zum „friedlichen, aber kraftvollen Sturz einer korrupten und korrumpierenden liberalen herrschenden Klasse“ in der Lage seien (wobei sich die Frage stellt, wie ein kraftloser Umsturz aussehen würde). Die Menschen würden die unheilige Allianz aus „klassischen Liberalen“, „progressiven Liberalen“ und „Marxisten“, die – trotz offensichtlicher Unterschiede – alle ein „Ideal transformativen Fortschritts“ teilen, womöglich verabscheuen. Doch könnten sie auf sich allein gestellt nur unartikulierte, ungeformte Verbitterung zum Ausdruck bringen. Sie bräuchten eine neue Elite, um dem liberalen „Smart-Set“ die „Botox-geglättete meritokratische Maske“ wegzureißen und den Weg hin zu einem echten Konservatismus (im Gegensatz zum unechten Konservativismus der Geldgeberklasse der Republikanischen Partei) abzustecken.

Laut Deneen legt die politische Ideengeschichte zwei Möglichkeiten nahe, wie die Wenigen und die Vielen miteinander interagieren können. Einerseits zeige Machiavelli, dass sie einander unter Kontrolle und im Gleichgewicht halten können, was eine freie Lebensweise ermögliche, indem es verhindere, dass eine Seite ein dauerhaftes Übergewicht erreiche. Andererseits lege Aristoteles nahe, dass ein politisches Gemeinwesen statt eines Gleichgewichts der Kräfte eine „gemischte Verfassung“ und eine Form des „Verschnitts“ benötige: so etwas wie eine große, aus der Vermischung von Elite und Plebs herrührende „Mittelschicht“ (womöglich durch Rückbesinnung auf die gute alte Zeit, in der der Chef seine Sekretärin heiratete). Im Idealfall würde das Gemeinwesen als Ganzes dann eine Vision eines „auf das Gemeinwohl ausgerichteten Konservatismus“ verfolgen. Dies ist eine von dem Professor für Rechtswissenschaft Adrian Vermeule aus Harvard (einem differenzierteren Befürworter des neuen Antiliberalismus als Deneen, der freilich keine geringere Begeisterung für Orbáns kleptokratische Autokratie an den Tag legt) propagierte Theorie.

Nachdem er für den „Verschnitt“ optiert hat, verwendet Deneen viele weitere Seiten darauf, zu erklären, warum die Massen zu ihrem Schutz vor den Progressiven und ihren eigenen schlimmsten Instinkten eine wahrhaft „gleichgerichtete“ Elite brauchen. Er kontrastiert dieses Szenario mit der aktuellen Situation, in der die Wenigen und die Vielen im jeweils anderen das Schlechteste zum Vorschein brächten. Während die Botox-geglätteten „Anywheres“ von ihren Sitzen in der Business Class auf die ungewaschenen Massen herabschauen, erscheinen Letztere – in Deneens Darstellung: „das Volk“ – seltsam passiv.

Selten hat sich ein Autor so herablassend über die „gewöhnlichen Leute“ ausgelassen, deren Leben und „Anstandsformen“ er angeblich wertschätzt. In Deneens Darstellung sind die „Kontinuität“ schätzenden und in organischen Gemeinschaften lebenden alltäglichen Leute nicht einmal der Aufgabe gewachsen, ihre eigenen Traditionen weiterzugeben. Sie brauchen hierfür eine „Elite“ als „Verteidiger der kulturellen Traditionen, die weitgehend eine Entwicklung von unten ausgehender Praktiken sind“.

Weil die Menschen derart hilflos und ohne Hoffnung seien, verlange die Situation nicht bloß nach einer „populistischen Revolte“, sondern nach der festen Etablierung eines „aristopopulistischen Regimes“, das die gemeinen Leute anleite. Die Menschen brauchen laut Deneen „eine bessere, durch einen robusten Populismus hervorgebrachte Aristokratie und dann anschließend eine Emporhebung des Volkes durch eine bessere Aristokratie“.

Wer muss so etwas hören? Vielleicht wird Regime Change ein nützliches Manifest für andere selbsterklärte Rechtspopulisten, die dem Neoliberalismus zugunsten einer staatlich durchgesetzten konservativen Moral abgeschworen haben. Doch muss sich diese Gruppe nicht wirklich noch weitere altersgraue Vorträge über die zeitlosen Lehren Aristoteles’ anhören; vielmehr bedarf sie dringend einer auf einer echten sozialen Bewegung gründenden politischen Partei.

Schließlich stecken die Republikaner noch immer im Griff von Parteispendern, die viel mehr an Steuersenkungen interessiert sind als an Abkürzungen hin zu einem Regimewechsel. In ähnlicher Weise war die Tea Party, die letztlich den Trumpismus hervorbrachte, ein Ausdruck des „klassischen Liberalismus“, von dem sich Deneen so leidenschaftlich distanziert („Nehmt eure staatlichen Finger weg von meinem Medicare!“). Einflussreiche rechts stehende Denkfabriken halten an dem Dogma fest, dass „die Regierung das Problem ist“. Und wenn „das Volk“ selbst Deneens Abhandlung liest, dürfte es sich vermutlich von seiner – in den zutreffenden Worten eines Kritikers – „atemberaubenden“ Herablassung abgestoßen fühlen.

Zurückgespult

Moyn stimmt mit Deneen darin überein, dass sich beim liberalen Projekt alles um Befreiung drehe. Doch er ist der Ansicht, dass die Liberalen selbst dieses Ideal aufgegeben haben. In seinem kurzen, aber fesselnden Buch Liberalism Against Itself: Cold War Intellectuals and the Making of Our Times argumentiert er, einflussreiche Liberale hätten das zentrale Versprechen des Liberalismus verraten, als sie auf die schrecklichen Umstände des Kalten Krieges mit einer Senkung ihrer politisch-moralischen Erwartungen reagierten und sich Einstellungen und Ideen verschrieben, die sich am besten schlicht als konservativ einordnen lassen.

Laut Moyn mutierte das zuversichtliche Credo des Liberalismus mit seinem Ideal kreativer Selbsterschaffung zu etwas, das die verstorbene Politiktheoretikerin Judith Shklar von der Universität Harvard als „Liberalismus der Angst“ bezeichnet hat. Ziel der Politik sei es nicht gewesen, ein Höchstmaß an Gerechtigkeit zu verfolgen, sondern das Schlimmste (laut Shklars Darstellung: Grausamkeit) zu vermeiden.

Der Staat sei gemäß dieser Sichtweise grundsätzlich zu fürchten, weil er den Weg hin zu einem neuen Totalitarismus bereiten könne. Statt ein grundlegendes Muster aufzuzeigen, das Hoffnung für die menschliche Emanzipation bieten könne, sei die Geschichte bedeutungslos. Alle Geschichtsphilosophien (die „Geschichte“) seien abzulehnen, da sich aus ihnen ein Freibrief ableiten ließe, Menschen in der Gegenwart dem Wohle einer fernen Utopie zu opfern.

Dies mag eine vereinfachte Darstellung sein, aber es ist keine Karikatur. Es gab wirklich einen Gedankenstrang, der sich mit gewisser Berechtigung als Liberalismus des Kalten Krieges beschreiben lässt, und er wies einige der Eigenschaften auf, die Moyn so eloquent beklagt. Hierzu gehörten ein Misstrauen gegenüber der Demokratie und politischer Massenmobilisierung (die bei Denkern mit direkter Totalitarismus-Erfahrung dunkle Erinnerungen heraufbeschwor), eine negative Konzeption von Freiheit (Freiheit vom Staat) statt einer positiven (Freiheit, sich um Ausschöpfung des eigenen Potenzials zu bemühen, was staatliche Mittel erfordern kann) und eine Tendenz, das Leben als unweigerlich tragisch zu betrachten (eine Abkehr vom früheren liberalen Fortschrittsglauben).

Philosophisch erwuchs die tragische Neigung des Liberalismus des Kalten Krieges aus dem Wertepluralismus: Da nicht alle guten Dinge im Leben gleichzeitig verwirklicht werden können, seien harte Entscheidungen unvermeidlich. Zwei von Moyns Protagonisten – die Philosophen Isaiah Berlin und Karl Popper – teilten diese Ansicht. Andere von ihm porträtierte Personen passen schlecht in seine Liste hinein, und manche lassen sich schwerlich überhaupt als Liberale bezeichnen. Hannah Arendt etwa war eine erbitterte Kritikerin des Liberalismus, und die Historikerin Gertrude Himmelfarb (die Mutter von Bill Kristol) war eine prominente Neokonservative.

Hätte Moyn einen Erzliberalen des Kalten Krieges wie den französischen Philosophen Raymond Aron mit aufgenommen, wäre es zudem schwer, wenn nicht gar unmöglich für ihn gewesen, sein Argument aufrechtzuerhalten, dass sich die Liberalen des Kalten Krieges alle irgendwie gegen die Aufklärung gewandt hätten, eine absolute Feindseligkeit gegenüber Karl Marx empfanden oder sämtlich genau die gleiche Beziehung zum Zionismus hatten. Es ist ein Problem, wenn ein Buch Belege weglässt, die seinen wichtigsten Behauptungen widersprechen, doch bietet Moyns Darstellung der Entwicklung von Traditionen einen Hinweis darauf, warum er dies getan haben könnte. Es komme, so suggeriert er, nicht bloß auf Kanonisierungen an, sondern auch auf „Rekanonisierungen“, die die Galerie der „Engel“ und „Dämonen“ wiederherstellen. Füge man genügend Dämonen hinzu, könne das eine Tradition sehr wohl diskreditieren.

Das Buch diskutiert Ideen nicht allzu detailliert. Ein faszinierendes Kapitel über den amerikanischen Literaturkritiker Lionel Trilling zeigt sowohl Moyns Subtilität als Geistesgeschichtler als auch seine Fähigkeit, die psychologischen Komplexitäten der Positionen der Liberalen des Kalten Krieges zu würdigen. Größtenteils jedoch werden die Leser rasch zu Beobachtungen über die Folgen von Ideen weitergeleitet. So stellt Moyn etwa die quasi-empirische Behauptung auf, die Bereitschaft der Liberalen des Kalten Krieges, den Wohlfahrtsstaat „unverteidigt“ den Neoliberalen zu überlassen, habe „katastrophale“, „schicksalshafte“ und „entsetzliche“ Resultate gezeitigt.

Aber war das wirklich so? Man könnte bei der Lektüre des Buches den Eindruck gewinnen, dass wir in einer völlig anderen Welt leben würden, wenn nur jemand wie Berlin einen großen öffentlichen Vortrag über die vom Neoliberalismus (ein Begriff, der für viele Menschen damals nicht viel Sinn ergeben hätte) ausgehende Bedrohung gehalten hätte. Das hätte in etwa 1969 passieren müssen, denn 1971 schien der Kampf für einen echten Sozialliberalismus bereits verloren. Schließlich war dies das Jahr, in dem der liberale amerikanische Philosoph John Rawls sein Opus magnum, Eine Theorie der Gerechtigkeit, veröffentlichte, das eine Verteidigung des angeblich unverteidigten Wohlfahrtsstaates umfasste.

Obwohl Moyn zu Recht die vielen Liberalen unserer Tage kritisiert, die in ihrer Verzweiflung über den Wahlsieg Trumps auf so etwas wie eine minimalistische Kalter-Kriegs-Version des Credos zurückverfielen, teilt er ihre Annahme, dass sich alles um den Liberalismus und die Handlungen und Unterlassungen der liberalen Eliten dreht. Doch wie das Beispiel Rawls zeigt, geht es womöglich – nur womöglich – nicht immer nur um Liberale und die von ihnen getroffenen Entscheidungen.

Um fair zu sein: Moyn sagt viele vernünftige und erfrischende Dinge über die Fehler der Liberalen seit Ende des Kalten Krieges. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die liberalen Intellektuellen zu eifrig darauf bedacht, im Namen der Geltendmachung eines Zentrismus „verantwortungsbewusster Erwachsener“ oder, schlimmer, der Billigung der Folter Kompromisse mit den Neoliberalen einzugehen (weil tragische Entscheidungen unvermeidbar sind).

Liberalismus: Zurück zu den Grundlagen

Lässt sich der authentische Liberalismus, den die Liberalen des Kalten Krieges angeblich verrieten, wiederherstellen? Die Frage ist teils empirischer und teils philosophischer Art. Moyn beschreibt den älteren Liberalismus als „perfektionistisch“ und „progressivistisch“: Er habe ein Vertrauen in die Geschichte als „Forum der Chancen“ bekundet. Vom Praktischen her scheint eine derartige Einstellung im Jahre 2024 schwer verkäuflich. Doch auf einer grundlegenderen Ebene ist es nicht offensichtlich, dass Liberale, um ihre Positionen zu vertreten, daran glauben müssen, dass die Geschichte ihnen Anschub verleiht.

Mit „perfektionistisch“ meint Moyn, dass das liberale Projekt früher einmal eine konkrete Vorstellung guten Lebens umfasste, in dessen Mittelpunkt „kreatives und selbstmächtiges freies Handeln“ stand. Doch während dies als attraktive Vorstellung erscheint, entspricht es womöglich nicht jedermanns Neigung. Liberale, die auf eine derartige konkrete Vision drängen, verstoßen gegen etwas, das Özmen als Bekenntnis des Liberalismus zur Neutralität und Unparteilichkeit verteidigt. In Was ist Liberalismus?, ihrer fesselnden und stringent argumentierten Neudarlegung grundlegender liberaler Prinzipien, verteidigt sie diese Werte als unverzichtbar, um es dem Einzelnen zu gestatten, seine eigenen Ideale davon zu verfolgen, was ein gut gelebtes Leben ausmacht.

Keine konkrete Vorstellung des Gemeinwohls – ob religiös oder weltlich – könnte je die grundlegende Anforderung des Liberalismus erfüllen, dass die politische Ordnung für alle, die in ihr leben, gerechtfertigt sein müsse. Dieser Vorbehalt ist vermeidbar, wenn Ihr Ausgangspunkt der von Deneen ist: Sie verfügen dann einfach, was das Kollektivwohl ist. Doch aufgrund des irreduziblen Individualismus des Liberalismus muss dieser auf dem Vorrang der – durch das Recht abgesicherten – gleichen Freiheit jedes Einzelnen beharren, sein Leben nach eigener Fasson zu leben (was zu etwas mit der herkömmlichen Moral im Einklang Stehendem führen mag oder auch nicht, oder, was dies angeht, zu etwas „Kreativem“).

Özmen beharrt unerschütterlich auf der objektiven Gültigkeit dieser Konzeption politischer Ordnung und wendet sich gegen Theoretiker, die den Liberalismus auf eine einzige Lebensform reduziert hätten, die ungefähr in den letzten Jahrhunderten rein zufällig in einigen Ländern aufgekommen sei. Sie nimmt dabei unter anderem den späteren Rawls ins Visier, nachdem dieser die Abkehr weg von der Betonung eines Liberalismus mit universellen Aspirationen vollzogen hatte, und den Philosophen Richard Rorty, der den „bürgerlichen Liberalismus“ als überaus attraktive, aber letztlich zufällige Reihe von Überzeugungen betrachtete.

Der Liberalismus ist sicher keine metaphysische Wahrheit, doch er ist, so Özmen, auch kein bloßer geschichtlicher und kultureller Zufall. Es sei schlicht so, dass keine andere Konzeption politischer Ordnung je für jeden in ihr lebenden Menschen gerechtfertigt sein könnte. Der Liberalismus erreiche diese Zustimmung, indem er in der Frage der Neutralität eben nicht neutral sei – indem er eine Ordnung verteidige, die es den Einzelnen ermögliche, ihr eigenes Ding zu machen. Dieses Prinzip sei erforderlich, um jegliches Bekenntnis zur Freiheit aufrechtzuerhalten, was – dies muss man hinzufügen – auch die Freiheit umfasst, kein Leben kreativer Handlungsfähigkeit zu leben.

Özmen sagt kaum etwas zu den konkreten politischen Herausforderungen, doch das könnte teilweise der Punkt sein. Viel zu viele Diagnosen der „Krise“ verwechseln konkrete Einzelheiten wie etwa schädliche wirtschaftliche Gegebenheiten mit grundlegenderen moralischen Verpflichtungen, obwohl Letztere mit Ersteren wenig zu tun haben. Wie auch Moyn argumentieren würde, ist die Logik des Neoliberalismus im Liberalismus als Solchem nicht irgendwie festgeschrieben.

„Im Zweifel für den Liberalismus!“ ist Özmens abschließende Empfehlung. Das kann nach jener Art von minimalistischem, desillusioniertem Liberalismus klingen, der nach Ansicht von Moyn zu unambitioniert ist. Doch mit seiner philosophischen Klarheit und moralischen Kraft ist ihr Buch ein nützlicher Leitfaden für jene, die geneigt sind, den Liberalismus beiläufig als selbstgefällige Ideologie für wirtschaftliche „Gewinner“ oder für grausame Formen des Kapitalismus und Kolonialismus abtun würden. Angesichts der Tatsache, dass einige Autoren die Aufoktroyierung einer konservativen moralischen Orthodoxie von oben empfehlen, täten wir gut daran, uns der Alternativen zu vergewissern.

Jan-Werner Müller, geboren 1970 in Bad Honnef, lehrt Politische Wissenschaften an der renommierten Princeton University. 


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