Wertpapierhandel und Rohstoffhandel ähneln sich sehr. Jedoch nur auf den ersten Blick und nur, wenn man lediglich den börslichen Teil betrachtet, an dem standardisierte Terminkontrakte genutzt werden. Diese börslich gehandelten Verträge sind stets bindend, im Falle eines Verkaufs muss entweder der zugrunde liegende Rohstoff geliefert oder, um vorzeitig aus dem Geschäft auszusteigen, der aktuelle Kontraktpreis an der Börse gezahlt werden. Geschäfte an den Rohstoffbörsen sind Wetten auf Preisveränderungen, selten geht es um die tatsächliche Lieferung oder den Bezug der zugrunde liegenden Ware. Und vor allem sind sie durchsetzbar, denn es gibt eine Clearingstelle, die den Geldtransfer zwischen Gewinnern und Verlierern sicherstellt. Rohstofftransaktionen, deren Hintergrund die tatsächliche physische Lieferung ist, werden jedoch überwiegend bilateral abgeschlossen. Solche Lieferverträge umfassen im Falle von Energierohstoffen, wie Erdöl, Erdgas oder LNG, nicht selten Zeitspannen von mehreren Jahrzehnten und sind, auf Grund der naturgemäßen Unmöglichkeit von Preisprognosen über diese lange Zeit, kompliziert verformelt, an verschiedene Indizes und Proxy-Rohstoffe gekoppelt und in jeder Hinsicht vollkommen frei verhandelt. In diesem Metier sind, neben bester Marktkenntnis, ein gutes Rechtsverständnis Voraussetzung. Dass ebenfalls notwendige Vertrauen gilt grundsätzlich als vorausgesetzt, gerade im Börsenhandel reicht seit je her das gesprochene Wort, der Handschlag oder das Handzeichen als verbindliche Willensbekundung. Wer darauf auch im Wilden Westen der Rohstoffwelt baut, erlebt jedoch gelegentlich sein blaues Wunder.
Kriege und Krisen treiben Rohstoffpreise in die Höhe
Dass die Rohstoffbranche nicht unbedingt über ein Saubermann-Image verfügt, liegt nicht allein an den in verschiedener Hinsicht schmutzigen Produktionsmethoden oder den Verbrennungsrückständen fossiler Energieträger. Die Branche ist nicht zimperlich im Umgang mit Konkurrenten und weiß sich stets auch in den Regionen dieser Welt zu behaupten, in denen nur mit Ellenbogeneinsatz und in gesellschaftlich wie rechtlich gerade noch akzeptablen Grauzonen agiert werden kann. Das Korruptionsproblem der Branche ist mehr als nur ein offenes Geheimnis, zahlreiche Gerichtsverfahren und Verurteilungen führender Rohstoffhändler zeugen davon. Gewahr wird man im Allgemeinen wenig darüber, die Dickschiffe der Branche residieren in der Schweiz, in Genf oder in Zug, sind in privater Hand und lassen sich kaum in die Karten schauen.
Jüngstes Beispiel für das in der Branche durchaus übliche Verständnis für vertrauensvolle Geschäftsbeziehung ist Gunvor Group Ltd., eines der weltweit führenden Handelshäuser für Energierohstoffe mit Sitz in Genf. Als mit Beginn des Ukraine-Krieges die Preise für Energierohstoffe in die Höhe schossen, suchten die Marktteilnehmer naturgemäß nach Möglichkeiten, um von dieser Entwicklung profitieren zu können, Gunvor entschied sich dabei für einen äußerst kreativen Weg. Bei dem durchschnittlichen LNG-Preis der Jahre 2010 bis 2020 konnte eine einzelne Tankerladung Flüssigerdgas auf dem Spotmarkt für etwa 30 Mio. Dollar verkauft werden. Plötzlich lag das Potenzial bei über 150 Mio. Dollar und im Hause Gunvor wurde man bei der Suche nach einem „marginalen“ Kunden fündig: ein mit Pakistan bestehender Langfristvertrag sah die bevorstehende Entsendung von fünf LNG-Tankern in das asiatische Land vor. Doch daraus sollte nichts mehr werden.
Wie die Schiffsverfolgungsdaten zeigen, schickte Gunvor die Ladungen stattdessen nach Europa, wo die Käufer den Spot- oder Marktpreis zahlten. Wäre das Gas wie ursprünglich geplant nach Pakistan geliefert worden, hätte sich der Wert der Verkäufe nach Berechnungen von Businessweek auf etwa 200 Mio. Dollar belaufen. Nach denselben Berechnungen haben die Gunvor-Händler das Gas jedoch für mehr als 600 Mio. Dollar entladen. Einige von ihnen hätten für das Jahr siebenstellige Boni erhalten, die höchsten in ihrer Karriere. Das Ausmaß des Gewinns wurde deutlich, als Gunvor seine Finanzergebnisse für 2022 vorlegte. Unter anderem dank seiner LNG-Händler hatte das Unternehmen einen Rekordgewinn von 2,4 Mrd. Dollar erzielt.
Gut für Gunvor, aber sehr schlecht für Pakistan, das auch auf Grund dessen („auch“, da der italienische Energiekonzern Eni SpA zeitgleich ähnlich agierte und dem Land ebenfalls Gaslieferungen strich) in eine veritable Energiekrise schlitterte, die bis dato anhält. Neben dem Haushalten und Fabriken fehlenden Erdgas zum Heizen und zur Produktion von Industriegütern bedrohte die drastisch reduzierte Produktion von Düngemitteln die Nahrungsmittelversorgung und trieb das Land durch die dann um ein vielfaches teurer gewordene Ersatzbeschaffung an den Spotmärkten an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Der IWF musste mit einem Rettungspaket einspringen.
Vertrag mit Schlupflöchern
Angesichts des zu erwartenden enormen Profitpotenzials durch den Verkauf der bereits kontrahierten Gasmengen am in die Höhe schnellenden Spotmarkt scheute sich das Schweizer Handelshaus nicht, einen ihrer langjährigen Kunden buchstäblich über die Klinge springen zu lassen. Nach interner rechtlicher Bewertung kündigte Gunvor den pakistanischen Vertrag mit der Begründung, das Land habe für eine seiner LNG-Lieferungen zu wenig bezahlt – was Pakistan bis heute jedoch bestreitet.
Unstrittig ist, dass Lieferungen storniert wurden, begründet mit „höherer Gewalt“. Da die pakistanischen Verträge die Produktions- bzw. Verschiffungsstätte, aus der die Lieferung erfolgen sollte, nicht genau spezifizierten, bezog sich Gunvor auf Probleme in Äquatorial Guinea – einer winzigen zentralafrikanischen Diktatur -, auch, wenn Gunvor nur sehr selten Gas von dort nach Pakistan lieferte. Ein juristischer Taschenspielertrick, der die Logik der Regelung vollkommen verdreht, denn deren Intention ist selbstverständlich nicht, dass eine Störung an einem beliebigen Ort das Recht beinhaltet, die Lieferung von anderswo zu stornieren, bloß, weil keine konkrete Quelle angegeben sei. In den folgenden Monaten erklärte Gunvor bei zwei weiteren Lieferungen höhere Gewalt und lieferte eine weitere nur teilweise. Gleichzeitig verkaufte Gunvor nach Angaben von Händlern, die an diesen Geschäften beteiligt waren, weiterhin große Gasmengen zu Spotpreisen an wohlhabendere Länder. Pakistan hat den Rechtsweg beschritten, jedoch mahlen die Mühlen bekanntlich langsam, das Erdgas jedoch wird trotzdem sofort benötigt. Wüstenemirat Katar sprang gerne ein und half aus, allerdings zu einem Preis, der mindestens 230% über dem des Vertrages mit Gunvor lag.
Masche der Branche
Obige Anekdote werden Branchenvertreter als bedauerlichen und sicherlich moralisch verwerflichen Einzelfall abtun, die Wahrheit ist jedoch, dass es zum Standard gehört, Lieferverträge mit entsprechenden Hintertürchen auszustatten. Dass dies die Energieversorgung eines ganzen Staates betrifft ist bislang zum Glück die Ausnahme, industrielle Abnehmer werden jedoch nicht selten Opfer derartiger Praktiken. Dass so etwas auch Profis treffen kann, mussten jüngst auch die Energieriesen BP und Shell erfahren. Ihnen enthält das US-Unternehmen Venture Global LNG seit 20 Monaten die vertragsgemäße Lieferung von Flüssiggas vor – und exportiert dieses stattdessen höherpreisig an andere. Die Begründung ist maximal fadenscheinig. So gibt Venture Global LNG an, erst dann vertraglich zur Lieferung verpflichtet zu sein, wenn die Produktionsanlage fertiggestellt ist. Irgendetwas an dieser Anlage ist also offenbar noch nicht fertig. Es reicht zwar, um LNG zu produzieren und zu exportieren, aber so ganz fertig ist sie eben noch nicht… Man kann nur hoffen, dass die hiesigen Energieexperten, die regierungsseitig mit der bundesdeutschen Erdgasversorgung befasst sind, aus vergleichbarem Holz geschnitzt sind, wie ihre Lieferanten. Pakistanische Verhältnisse in Sachen Energie fehlen uns gerade noch.