In der SPD scheinen Teile der Parteiführung bereits jegliche Hoffnung auf einen Wahlsieg aufgegeben zu haben - für Brüssel sowieso, aber scheinbar auch für Berlin im Jahr 2025. Die Suche nach einem neuen Gewährsmann hat begonnen. Das ist nicht schön, so kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament.
Franz Müntefering, der langjährige SPD-Parteichef, hat als erster Mitte Mai treudoof im Gespräch mit Markus Feldenkirchen vom „Spiegel“ darüber geschwafelt, dass die Frage, wer eigentlich Kanzlerkandidat der SPD im kommenden Jahr wird, völlig „unklar“ sei. Prompt grätschte Agnes Strack-Zimmermann, die Spitzenkandidatin der FDP für die Europawahl, in die eigentlich zum jetzigen Zeitpunkt überflüssige Debatte und sprach als Koalitionär des amtierenden Kanzlers Olaf Scholz eine Empfehlung für den sozialdemokratischen Verteidigungsminister Boris Pistorius aus. Mehr als nur ein Seitenhieb! Strack-Zimmermann, berüchtigt für Klartext, gibt wohl nur das Votum der Ampelregierung zu Protokoll. Für alle drei Parteien scheint klar: Scholz kann es nicht!
Vor einer wichtigen Europawahl sollte man das freilich die Wahlbürger nicht offen wissen lassen. Zumindest nicht die Partei des Kanzlers, möchte man meinen. Das macht die plötzlich aufkeimende Diskussion so brisant! Sie kommt zur Unzeit, es sei denn, jemand glaubt, er könne sich tatsächlich vorzeitig in Stellung bringen. So viel sei verraten: Pistorius ist zwar ehrgeizig und möchte sicherlich gestalten, aber er hat nicht die Chuzpe, seinen eigenen Kanzler so bloßzustellen und zu demontieren. Da mag der Olaf seinen Boris noch so oft in Sachen Bundeswehr auflaufen lassen.
Pistorius ist loyal und von der alten Schule. Wenn er noch was wird, dann Kraft seiner Ursuppe, bestimmt nicht mithilfe fragwürdiger Intrigen und Durchstechereien. Inzwischen hat der Seeheimer Kreis die Parteilinke zu mehr Respekt verdonnert. Angeblich wird Scholz die SPD auch in den Bundestagswahlkampf führen, hieß es.
Der Intriganten-Stadl vom Willy-Brandt-Haus
Kann da man wirklich sicher sein, angesichts des Eigenlebens der SPD-Trutzburg in Berlin-Kreuzberg? Der Intriganten-Stadl sitzt bekanntlich in der Partei-Zentrale an der Stresemannstraße, wo sonst! Da hat Parteichefin Saskia Esken mit ihrem früheren „HiWi“ Kevin Kühnert vermutlich mehr Einfluss, als manch einer in der alten Kanalarbeiter-Fraktion (1982 im Seeheimer Kreis aufgegangen) denkt.
Die „Eskia woiß“: Ihr Kevin hat in Berlin-Lankwitz immerhin schon sein Abitur bestanden und hat sich durch jahrelanges Jobben im Call-Center bei „My Toys“ empfohlen; und sein abgebrochenes Publizistik-Studium an der FU Berlin qualifiziert ihn ohnehin für höhere Partei-Weihen in der Kaderschmiede der Arbeiterschaft. Nur: Dass es so schnell im Fahrstuhl der Macht nach oben gehen könnte, hat er sicher nicht gedacht, als er als Handballer beim VfL Lichtenrade noch wie jeder kleine Junge von einer großen Sportlerkarriere träumte. Seiner Mutter schwebte übrigens der Fußballer Kevin Keegan vom Hamburger SV vor, verriet sie, als sie den Sohn 1989 nach dem mal beliebtesten Spieler Englands benannte.
Was also läuft da hinter den Kulissen? Von den Funktionären darf das natürlich keiner so direkt sagen. Shakuntala Banerjee von „Berlin direkt“ im ZDF indessen schon. Da hat die Redaktion die überraschende Debatte dankend angenommen und bereits am Sonntagabend den Anbruch der Kanzler-Dämmerung ausgerufen. Offiziell bleibt es zwar vorerst bei Pensionären wie Müntefering und Gerhard Schröder, die das Feuer in der SPD rücksichtslos entfachen. Oder auch Kandidaten auf dem Absprung - aus dem Bundestag, aus Brüssel oder sonst wo auf dem Abstellgleis. Das ZDF hatte da den einen oder anderen O-Ton zusammengetragen, dem wenig überraschend ein Rückzieher folgte.
Es gibt manchen Realpolitiker in der SPD, der das - Achtung: Ironie! - rhetorische Feuerwerk des Kanzlers nicht mehr ertragen mag und sich darauf gefasst macht, im nächsten Parlament keinen Platz mehr zu finden.
Die Umfrage-Ergebnisse haben letzte Woche wieder neue Tiefstände erreicht für die Sozis – und den Kanzler. Nicht nur Friedrich Merz liegt weit vor ihm in der Wählergunst, sondern davor sogar Markus Söder und Hendrik Wüst. Und selbst der grüne Unglücksrabe Robert Habeck.
Wer will dem Hamburger Scholz also – Cum-Ex (sic!) – etwas ans Zeug flicken, dass er die Europawahl womöglich schon verloren geben muss, bevor votiert und ausgewählt wurde? Vielleicht will ja Katarina Barley, die EU-Frontfrau für Europa, die Kanzlerfrage beantworten?
Zar und Zimmermann: Strippenzieher „Kuehnikev“
Ja, gerne! Barley hält es nur lieber mit der Bildsprache, die lässt sich nicht so unverblümt dechiffrieren. Selbst für Presserechtler ist es schwer, die Schmähkritik zu entlarven. Barley kokettiert derzeit deutschlandweit auf dem gemeinsamen Wahlplakat mit Olaf Scholz mit ihrem Ebenbild als „Katarina die Große“ (von Europa). Was sicherlich kein Zufall ist, bei der Preisklasse der zuständigen Kommunikationsagentur. Die Ähnlichkeit mit dem als Vorlage ausgewählten Ölgemälde des Porträtmalers Christoph Grooth (anno 1740 bis 1745) ist schlicht so frappierend, das das politische Berlin sich bereits das Maul darüber zerreißt, was sich der verantwortliche SPD-Generalsekretär, Kevin Kühnert, dabei wohl gedacht haben mag. Zumal Kühnert ein Video nachgeschoben hat, indem Kanzler und stellvertretende EU-Präsidentin mit roten und schwarzen Schachfiguren, aggressiven Bauern-Attacken und vermeintlichem Weitblick über mehrere Züge hinweg den Ausgang in Europa auf dem Spielbrett bestimmen.
Der Mann neben Barley auf dem Wahlplakat wäre demnach (im Russland der Zaren-Zeit) Fürst Peter, der auf die Nachfolge von Kaiserin Elisabeth als Herrscherin in Sankt Petersburg warten musste, während seine Vermählte „Katharina“ bekanntlich ganz eigene Pläne schmiedete.
Wie die Sache historisch ausging, steht in allen Geschichtsbüchern: Katharina, 1729 als Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst geboren, von ihrem Ehemann angewidert (wie jeder am Hofe wusste), hat ihren Geliebten Grigori Grigorjewitsch Orlow angestachelt, im Jahre 1762 den Gatten Zar Peter III. erst vom Rücktritt zu überzeugen und wenig später um die Ecke zu bringen. Daraufhin hat Katharina den Thron selbst bestiegen und sich zu Lebzeiten stets als „die Große“ anreden lassen.
Was der historische Exkurs mit der Kanzlerfrage in Berlin zu tun hat? Folgt man dem Historiker und Experten für osteuropäische Zeitgeschichte, Prof. Jan Claas Behrends von der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, liegt die Kampagne ganz klar in Verantwortung des Willy-Brandt-Hauses. Wo es offenkundig darum geht, einen neuen SPD-Kandidaten für das Kanzleramt in Position zu bringen. Barley ist in dem Spiel wahrscheinlich nur Mittel zum Zweck, und der Kanzler hat es mal wieder nicht gemerkt. Wenn die SPD die Sache also am Sonntag tatsächlich vergeigt, darf Scholz sicher sein, dass Brutus im Haus August Bebels unterwegs ist.
Unglaublich ist nur, dass Kevin Kühnert offenbar ernsthaft meint, sich selbst für die Kandidatur empfehlen zu können. „Der Mann, der durch die Talkshows tingelt und die Anti-Ukraine-Politik der Ampel verteidigt, no matter what“, so Behrends. „Verbreitet Angst vor dem russischen Militär, rechtfertigt, dass der Taurus nicht kommt und deutsche Waffen nicht russische Infrastruktur treffen dürfen.“ Hat Kühnert je die zerstörte Infrastuktur in der Ukraine betrauert? Was den Historiker prompt auf die Idee brachte, im jüngsten Podcast „Ostausschuss der Salonkolumnisten“, dem kleinen „Kuehnikev“ (so Kühnerts legendäres Instagram-Kürzel) angewidert den „Egon Bahr der Woche“ zu verleihen.
Drama aus dem Katharinenpalast in Zarskoje Selo
In der Folge des Podcasts ging es um Georgien – und gar nicht um die SPD. Trotzdem horchten viele im politischen Berlin auf, als Prof. Behrends sich über Kühnerts zahlreiche Geschmacklosigkeiten echauffierte. Das Spektrum war breit gefächert. Zum einen, angesichts des Krieges Putins, über Frieden in Europa zu schwadronieren (wie auf dem ersten Wahlkampf-Plakat). „Statt über Freiheit und Sicherheit“ nämlich, so der Salonkolumnist honoris causa, womit der frühere „radikale Marxist“ und „Talkshow-Kevin“ die SPD endgültig „in einer Linie mit AfD und dem BSW Sahra Wagenknechts eingereiht“ habe.
Zum anderen Kühnerts ungebildete Gesellschaft-absolutistische Einschätzungen zur „Sylt-Debatte“. Als seine Kampa „Deutschland den Deutschen“ postete – eine vermeintlich ironische Reaktion auf den Skandal, worauf aber das Plakat wegen des Shitstorms postwendend eingestampft werden musste. Schließlich dann jene Barley-Schmonzette, die wohl noch etliche Jahrgänge angehender Kunsthistoriker verblüffen wird. Denn so ikonografisch hat man die Malerei des 18. Jahrhunderts im Katharinenpalast in Zarskoje Selo (Puschkin) vermutlich nie zuvor betrachtet an den Kunsthochschulen.
Und was heißt das nun für Olaf Scholz – den Erfinder der Zeitenwende in Berlin? Er wird sich klarmachen müssen, dass seine Zeit abläuft und die Tage im Kanzleramt gezählt sind. Ob die SPD sich jemals wieder aus dem Loch befreien kann, das die Führung der Partei (160 Jahre nach ihrer Gründung) eifrig und entschlossen ausgehoben hat? Mitten im Spree-Bogen, wo Scholz eigentlich für die nächste Amtszeit gerade sein Kanzleramt um einen Neubau erweitern lässt? Es erscheint höchst fraglich.