Es ist abgedroschene Anekdote vom Tiger und dem Bettvorleger, aber sie stimmt mal wieder. Erschrocken und verängstigt vom russischen Überfall auf die Ukraine erkennen wir, dass sich Deutschland mit Abschaffung der Wehrpflicht und dem Raubbau an der Bundeswehr geradezu schutzlos in der Mitte Europas wiederfindet – außer dem fragwürdigen US-Atomschirm schützt uns praktisch nichts mehr. Boris Pistorius wollte das möglichst schnell ändern und hat dabei stets klare Ansagen gemacht. Es gehe um die „Kriegstüchtigkeit“ unseres Landes gegebenenfalls, beschwor er die Bürger.
„Es ist notwendig, auch durch die richtigen Begriffe deutlich zu machen, worum es geht“, entgegnete Pistorius zuletzt vor allem den gurrenden Friedenstauben in seiner Partei. „Vorbereitet zu sein auf das Schlimmste“, so der Minister, „um nicht damit konfrontiert zu werden“. Dass es ohne „verpflichtende Elemente“ für künftige Rekruten seiner Einschätzung nicht geht, hat Pistorius in den letzten Monaten immer wieder durchblicken lassen. Doch er ist mit seiner Strategie offenkundig nicht durchgedrungen.
In Trippelschritten zu einem immer noch nicht näher definierten Ziel
In dieser Woche schlug Deutschlands beliebtester Politiker kleinlaut im Verteidigungsausschuss vor, erst mal nur einen Fragebogen an die jährlich 400.000 jungen Männer eines Jahrgangs zu verschicken. Erste Trippelschritte zu einem noch nicht näher definierten Ziel. Um Zeit zu gewinnen – und nicht mit leeren Händen vor der Truppe dazustehen, werde alles „unternommen, was in dieser Legislaturperiode machbar erscheint“, sagte er. Ziemlich dünn nach so vielen Erkundungsmissionen nach Schweden etwa und in andere Partnerländer, um herauszubekommen, wie es andere mit der Wehrpflicht halten.
Immerhin soll nun wenigstens theoretisch ermittelt werden, wer sich für den Wehrdienst eignet – wenn denn die Bundesrepublik wirklich die Volte übt und in die Zeiten vor 2011 zurückkehrt, als die Regierung Angela Merkels Wehrpflicht und damit zugleich den Zivildienst aussetzte.
Wobei es in der akutellen Koalition dafür offenkundig weder Mehrheiten noch nachhaltige Unterstützung zu geben scheint. Die Exkulpation für ein schnelles Handeln lautet: Die Strukturen seien unwiederbringlich zerstört, ohne Kreiswehrersatzämter keine Musterung und Einberufung! Schuld sei ja der ehemalige CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg – nicht SPD, Grüne oder FDP. Außerdem gehe es inzwischen auch um Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Deswegen sei unbedingt erst eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich, um das Wehrpflichtgesetz sowie das Soldatengesetz zukunftsfähig auszugestalten und rechtlich abzusichern.
Wie wichtig der Faktor Zeit und Schnelligkeit ist, wird immer wieder unterschätzt
In der SPD glauben die derzeit maßgeblichen Größen wie die beiden Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil ohnehin nicht an eine wirkliche Bedrohungslage. Saskia Esken philosophiert wolkig: „Für mich ist das Erleben von Selbstbestimmung ganz entscheidend für die Akzeptanz der Demokratie.“
„Ich finde, wir sollten es freiwillig probieren, indem wir die Bundeswehr noch attraktiver machen“, findet wiederum Lars Klingbeil, der selbst im Verteidigungsausschuss sitzt. Bedrohungslagen gibt es nur in der Ukraine. Doch wie schnell können Angreifer nach Mitteleuropa vordringen? Zu Zeiten des Kalten Krieges war dies einmal eine Maßeinheit für Resilienz und militärische Ertüchtigung. Aber wer soll das heute noch wissen? Welchen Faktor Zeit und Schnelligkeit bei sicherheitspolitischen Entscheidungen spielen, ist ja schon bei der Bewaffnung der Ukraine im vergangenen Jahr erkenntnistheoretisch untergegangen.
Grüne glauben nicht, dass Wehrpflicht gebraucht wird – Jugend schon genug gebeutelt
Grünen-Parteichef Omid Nouripour, ganz der Fachmann, hat zu Protokoll gegeben: „Ich glaube nicht, dass die Wehrpflicht gebraucht wird.“ Anton Hofreiter scheint unterdessen zum Schweigen verurteilt, lange her, dass er der eigenen Partei den Spiegel vorgehalten hat. Stattdessen gibt die g´Grüne Jugend in Richtung vor. „Junge Menschen dürfen nicht zum Notnagel der verfehlten Personalpolitik der Bundeswehr werden“, sagt Co-Bundessprecherin Svenja Appuhn mit größtmöglichem Weitblick. „Unsere krisengeschüttelte Generation muss gerade schon genug mitmachen.“
Von der FDP wurde Pistorius daür im Ausschuss immerhin die „Bereitschaft zu einer konstruktiven Diskussion“ in Aussicht gestellt. Doch selbst die Liberalen sind zwiegespalten. Unter den Verteidigungsexperten der Fraktion folgt man der Sichtweise von Parteichef Christian Lindner, dass es bei der Bundeswehr um „Qualität und nicht die Quantität“ gehen soll. Experten müssen ausgebildet werden, nicht eingezogen werden. Die Bundeswehr als Arbeitgeber, der in Konkurrenz zur Wirtschaft bestehen muss? Auch das Gebot der Wehrgerechtigkeit wird bei der FDP gerne ins Feld geführt: Schon in der Vergangenheit habe die Wehrpflicht stets zu mehr Rekruten geführt, als tatsächlich gebraucht wurden und in den Kasernen Verwendung fanden. Nur die Zeit abzusitzen, das könne sich in unserer Gesellschaft heutzutage aber niemand mehr leisten. So sprechen Wirtschaftsliberale, für die Sicherheit eine Ware zu sein scheint.
Was soll Pistorius da schon machen? Die ausgestreckte Hand der CDU/CSU-Fraktion ergreifen? Johann Wadephul, Fraktions-Vize der Union, hält Pistorius „eine vertane Chance“ vor. „Statt eines großen Wurfes, eine Verpflichtung auch für Frauen im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht vorzuschlagen, macht Pistorius einen halbgaren Vorschlag, der die Personalprobleme der Bundeswehr nicht löst.“ Die CDU-Spitze verweist darauf, dass ja auch bereits das Sondervermögen der Bundeswehr mit Unterstützung und Zustimmung der Union zustande gekommen war. Die nötige Verfassungsänderung für die Frauen ins Feld zu führen, sei unaufrichtig und verschleiere nur, wo die wahren Widerstände den Minister in den eigenen Reihen ausbremsen. Florian Hahn, verteidigungspolitischer Sprecher der CSU, witzelte, dass der Kanzler wohl seinem Pistorius „die Luft rausgelassen“ habe, in den vergangenen neun Monaten.
Die Realität ist, dass die Personalstärke der Bundeswehr „auf den tiefsten Stand seit 2018 gefallen“ ist, warnt Oberst André Wüstner vom Bundeswehrverband. Wüstner fordert sarkastisch endlich eine „Erkenntniswende“ der Bundesregierung ein, nach der berühmten Zeitenwende-Rede des Kanzlers, gleich am Tag nach Putins Angriff. Trotz einer Personaloffensive, mit bundesweiten Plakataktionen und breit gestreuter Werbung untersetzt, schieben aktuell nur noch 181.500 Soldaten (und auch Soldatinnen) Dienst beim Bund. Beschränkt verteidigungsbereit, nennt man das bestenfalls.
Militärexperten gehen von einem Bedarf von insgesamt mindestens 460.000 Soldaten in Deutschland aus. Stehende Streitkräfte von deutlich über 200.000 Soldaten, hinzu die derzeit zur Verfügung stehenden 60.000 Reservisten und weitere 200.00o Reservisten, die nach und nach gewonnen werden müssen. Diese Zahl wird im übrigen auch von der Nato als Zielmarke genannt. Wenn es nach Pistorius geht, sollten deshalb schnellstens 40.000 Kandidaten gemustert werden, um wenigstens im ersten Anlauf 5.ooo bis 7.000 Mann Verstärkung zu bekommen – für einen sechs- oder zwölfmonatigen Dienst oder gar eine zusätzliche (17 Monate währende) freiwillige Dienstzeit. Der Verteidigungsminister nennt dies einen „Auswahl-Wehrdienst“ – Freiwilligkeit ist eine der Leitplanken (aus dem SPD-Parteiprogramm von Saskia Esken), das faktische Interesse der jungen Generation die andere, so die Hoffnung des Verteidigungsministers. Pistorius gibt sich betont zuversichtlich, die Bundeswehr mache seiner Meinung nach ganz attraktive Angebote. Über 1800 Euro Wehrsold sind im Gespräch – plus gewisse Prämien, angeblich bis zu 5000 Euro. Ob das liebe Geld allein ausreicht, wird sich zeigen.
Ob es nicht überdies auch sinnvoll wäre, in Zukunft wieder ganze Jahrgänge mit dem altbewährten Begriff der „Staatsbürger in Uniform“ vertraut zu machen, eine andere. „Für Aufwuchs zu sorgen“, verspricht Pistorius, und die Kapazitäten jedes Jahr ein bisschen zu erhöhen. Ohne breite Akzeptanz der Bundeswehr in der Gesellschaft wird es freilich nicht gehen. Pistorius hat jedenfalls bereits den Reportern in den Block diktiert, dass er gerne „auch in der kommenden Legislaturperiode an gleicher Stelle“ an der Problembewältigung weiter arbeiten wolle. Für die Restlaufzeit dieser Ampelregierung sind die Möglichkeiten (auch für ihn) scheinbar ausgeschöpft.
Das Jahr 2029 ist für Boris Pistorius das angestrebte Datum bis zur Kriegstüchtigkeit – wollen wir hoffen, dass sich Putin auch die Zeit lässt.