Politik

Patriots made in Germany: Wie die Zeitenwende des Kanzlers jetzt bei der Luftverteidigung Europas sichtbar wird

Lesezeit: 11 min
17.02.2024 17:17
Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat Europa in Angst und Schrecken versetzt. Insbesondere Deutschland sonnte sich lange Jahre in dem Gefühl, glücklich den Kalten Krieg überwunden zu haben. Das Land sparte die Bundeswehr zu Grunde und schaffte sogar die Wehrpflicht ab. Die Amerikaner würden uns schon retten – das war die Versicherungspolice. Plötzlich jedoch haben wir in einer Art Schock-Therapie erkennen müssen, dass wir militärisch einer drohenden Aggression Putins blank gegenüberstehen. Eine Krise für Deutschlands Sicherheit, die jetzt allmählich zur Chance wird. Die Zeitenwende hat begonnen. Es bewegt sich was.

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Es war der 27. Februar 2022, drei Tage nach dem Angriff Russlands auf sein Nachbarland Ukraine, als Kanzler Olaf Scholz den Begriff „Zeitenwende“ in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag einführte. Seitdem gehört er zu den am häufigsten benutzten Vokabeln des politischen Berlins. Ganz ernst genommen wurde der Begriff lange Zeit nicht. Doch das ändert sich gerade – wenn man die Nachrichtenlage der vergangenen Wochen etwas genauer verfolgt.

Die Meldung ging im Weihnachtsgeschäft fast unter beim Ärger über erzwungene Heizungen, den durch die Ampel eigenmächtig verursachten Haushaltsschock, klägliche Einsparversuche und dadurch provozierte Streiks allerorten. Es war eher eine Fußnote des 13. Dezember: Der Verteidigungs- und Haushaltausschuss hatten drei Milliarden Euro für die Beschaffung von 500 Patriot-Raketen freigegeben. Mal wieder so ein typisches Rüstungsgeschäft, mochte man meinen, doch diesmal mit erstaunlichen Konsequenzen. Erst im neuen Jahr wurde langsam offenkundig, dass dies nur den Grundstock für einen NATO-Großauftrag zur gesamt-europäischen Luftverteidigung bildet.

In Sachen Luftverteidigung hat Deutschland ein Heimspiel

Deutschland hat es geschafft, dass das erfolgreiche US-amerikanische Waffensystem Patriot erstmals überhaupt außerhalb der USA produziert wird. Und zwar im bayerischen Schrobenhausen beim Rüstungskonzern MBDA. Indem sich zugleich auch Rumänien, Schweden, Spanien und die Niederlande an der Gemeinschafts-Order des NATO-Logistik-Dienstleisters (NSPA) beteiligten, wird die neue Produktionsstätte in der Nähe von Ingolstadt mit der Herstellung von 1.000 Flugkörpern nicht nur gut ausgelastet. Es manifestiert sich allmählich die Umstellung der Rüstungsbetriebe auf die in Folge der Zeitenwende bedingte Kriegswirtschaft. Dies wird in Bayern „zum Ausbau der Kapazitäten“ führen, versprach MBDA-Geschäftsführer Thomas Gottschalk. Während Raytheon-Präsident Thomas Liberty sich überzeugt gab, dass die geplante Erweiterung des Patriot-Programms in Europa „die Abschreckung durch die NATO stärkt und die Einsatzbereitschaft sicherstellt“.

Gut 100 der Patriot-Missiles werden auch zur Unterstützung der Ukraine benötigt, wo sie nach Angaben von Präsident Wolodimir Selenskyj „zu den wichtigsten Schutzmaßnahmen der Ukraine“ und den größten Posten der umfangreichen Unterstützung durch Deutschland zählen. Die deutsche Regierung hat erkannt, dass auch die Bundesrepublik als NATO-Partner mehr für die Verteidigungsfähigkeit Europas beitragen muss. Die Ampel hat der Ukraine deshalb Patriots aus Bundeswehr-Beständen geliefert. Und in Polen wurde ein Jahr lang mit drei Kampfstaffeln die Sicherung eines Bahnknotens an der östlichen NATO-Flanke unterstützt – die Mannschaften sind erst im November in langer Militärkolonne über die Autobahn A20 zu ihrem Standort bei Bad Sülze in Mecklenburg-Vorpommern zurückgekehrt.

Schon in den 1980er-Jahren verfügte die Luftwaffe über Patriot-Raketen

Deutschland hat langjährige Erfahrung mit dem System Patriot gesammelt – zunächst am früheren Ausbildungs-Standort der vor 66 Jahren in El Paso/Texas gegründeten und erst 2023 nach Schleswig-Holstein verlegten Raketenschule der Luftwaffe. Und seither immer wieder beim regelmäßigen Übungsschießen auf der griechischen Insel Kreta.

Die deutsche Luftverteidigung hatte bereits während des Kalten Krieges eine Schlüsselrolle für die NATO eingenommen: Mit einst mehr als 30 Stellungen der Flugabwehr-Raketen Nike und Hawk entlang des Eisernen Vorhangs sorgte die Luftwaffe einst für die flächendeckende Abschirmung der östlichen NATO-Grenze. Ende der 1980er-Jahre wurden diese Raketen gegen Patriots ausgetauscht. In technisch verbesserter Form bilden diese noch heute das Rückgrat der hiesigen Air Defence. Die Bundeswehr war mit dem amerikanischen Waffensystem so gut vertraut und eingeübt, dass sie einst mit anderen NATO-Partnern die Fundamente für Israels Iron-Dome legen half.

Waffensysteme bilden einen Verbund zur Abschirmung des Luftraums

Doch mit Patriots allein ist kein Land mehr verteidigungsfähig. Die Angriffe werden heutzutage nicht mehr allein von Flugzeugen oder Kampfdrohnen geflogen. Weitere neue Waffensysteme bilden nun in puncto Reichweite und Anwendungsspektrum ein Schichten-System. Dazu zählen auch die beim Eurofighter für Kurzstrecken eingesetzten Luft-Luft-Lenkflugkörper des Typs IRIS-T der Rüstungsfirma Diehl vom Bodensee. Ein weiteres Unternehmen, das derzeit unter Beweis stellt, wie sich in Deutschland allmählich alle industriellen Stakeholder wieder in Stellung bringen.

Mit den von der Ukraine so sehnsüchtig gewünschten Taurus Marschflugkörpern verfügt Deutschland tatsächlich im Bereich des Luft-Boden-Einsatzes über eine weitere technisch anspruchsvolle High-Tech-Lenkwaffe, die sogar vergleichbare Waffen wie die parallel entwickelten Storm Shadow und Scalp von Briten und Franzosen in den Schatten stellen. Sie wird ebenfalls in Schrobenhausen (sowie Spanien und Süd-Korea) hergestellt – von der Taurus Systems GmbH, einem deutsch-schwedischen Gemeinschaftsprojekt von MBDA und der Saab Dynamics AB in Karlskoga.

Sie wären im Einsatz (etwa im Ukraine-Krieg) vermutlich so gefährlich für den Gegner, dass die Bundesregierung weiterhin davor zurückschreckt, diese an Kriegsparteien weiterzugeben. Wer soll verbindlich einschätzen können, ob mit dieser Wunderwaffe nicht eine weitere Eskalationsstufe genommen wird – was Deutschland tief in internationale Auseinandersetzungen hineinziehen würde. London schaltete sich deshalb jüngst in die Debatte mit einer denkbaren Rochade ein, bei der NATO-Partner die Taurus erhalten sollen, während Verbündete wie Großbritannien oder Frankreich der Ukraine im Ringtausch Storm Shadow und Scalp zur Verfügung stellen, um die schon seit Mai 2023 währende Hängepartie endlich zum Abschluss zu bringen.

Deutsches Vertrauen in Israel kommt uns nun als Schutz zugute

Weitgehend unbeachtet geblieben im Lande ist die wohl wichtigste Meldung: Beim Schutz vor Interkontinental-Raketen wiederum hat die Bundesrepublik im Sommer 2023 tatsächlich mittlerweile grünes Licht aus den USA und Israel für die Anschaffung des Raketenabwehrsystems Arrow 3 erhalten – ein Milliardenauftrag zum Schutz vor womöglich atombestückten RS-24-Langstrecken-Raketen der Russen, die in den obersten Ebenen des Luftraums abgefangen werden müssen und daher für die herkömmlichen Systeme der deutschen Luftverteidigung bislang unerreichbar wären.

Entsprechende Verhandlungen hatte die Bundesregierung sofort nach dem Angriff Russlands aufgenommen mit Israel, deren Aerospace Industries mit den Amerikanern das anspruchsvolle System entwickelt haben. „Das Besondere daran ist, dass es sich um das erste antiballistische System handelt, welches in der Stratosphäre in einer Höhe von 100 Kilometern eingesetzt werden kann“, sagt Agnes Strack-Zimmermann, die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP. „Es wird in Zukunft dazu beitragen, Deutschland und unsere Nachbarstaaten vor Luftangriffen zu schützen.“

Nicht alles wird die deutsche Wirtschaft selbst herstellen können. Doch es scheint so, als würde das sogenannte Sondervermögen der Bundeswehr von zunächst einmal 100 Milliarden Euro nach und nach mit Aufträgen unterlegt. So auch für ein leichtes Flugabwehr-System im Nah- und Nächst-Bereich, wie dies heißt. Hier wird das Verteidigungsministerium wohl mehr als eine Milliarde Euro bei einer Arbeitsgemeinschaft der Rüstungskonzerne Rheinmetall, Hensoldt und Diehl aufwenden müssen, um den veralteten und in der Praxis beim Einsatz von Krisenreaktions-Kräften ungeeigneten Ozelot mit Stinger-Raketen ausgestattet und auf Basis des früher vom Heer eingesetzten Waffenträgers Wiesel 2 montiert zu ersetzen. Es geht hierbei vor allem darum, Truppenverbände und bewegliche strategische Ziele bei Luftangriffen mittels Drohnen schützen zu können.

Wo Bürger gegen Sprengstoff-Fabriken aufstehen

Bekanntlich gilt Deutschland als ein Rüstungsproduzent und Waffen-Exporteur von weltweiter Relevanz. Doch befinden wir uns wirklich schon im geforderten Zustand der Kriegswirtschaft? Die Bürger erschrecken sich bereits bei der von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) offensiv genutzten Wortwahl. Bemerkenswert, dass selbst der sonst immer scharf gestellte bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) konsequent auf den Begriff Verteidigung abhebt und der Kriegswirtschaft wörtlich ausweicht. Wobei Söder die wirtschaftlichen Herausforderungen und Chancen klar vor Augen hat. Deutschlands große Waffenschmieden haben sich ja vornehmlich im Süden Deutschlands angesiedelt, wo sie nun ihre Kapazitäten ausbauen.

Wie schwierig das andernorts ist, hat sich jüngst beim geplanten Bau zweier neuer Munitionsfabriken gezeigt, die von Partikular-Interessen erschüttert und konterkariert wurden. Im rheinischen Troisdorf scheiterte die Firma Diehl mit der geplanten Erweiterung des seit über 100 Jahren alteingesessen Sprengstoffwerks ihres Tochterunternehmens Dynitec an massiven Anwohner-Protesten. Und Rheinmetall wiederum wurde im sächsischen Großenhain bei Meißen brüsk abgewiesen, weil sie dort auf dem ehemaligen Militärflughafen eine dringend benötigte Pulverfabrik errichten wollte.

Kein Wunder, dass nicht nur der Ukraine die Munition ausgeht, sondern absehbar auch in deutschen Bundeswehr-Depots bestenfalls Munition für ein paar Tage vorrätig sein dürfte. Wer will schon Milliarden in Waffen stecken, statt in Sozialmaßnahmen oder Bildung zu investieren? Alles Militärische ist heftig umstritten in Deutschland, vor allem in den neuen Bundesländern.

In der Regierung immerhin herrscht inzwischen weitgehend Konsens. Die verteidigungspolitischen Sprecher von Ampel und CDU sind voll im Bilde, was da auf Deutschland zukommen könnte. Wohl nur die AFD, Ex-Kanzler Gerhard Schröder und die unbelehrbare Sarah Wagenknecht halten Putin immer noch für einen lupenreinen Demokraten und Freund der Deutschen.

Wie Deutschland erst langsam wieder Resilienz lernen muss

Dabei ist der Ukraine-Konflikt nur das eine düstere Szenario am östlichen Horizont. Tatsächlich schreitet die technologische Entwicklung und die daraus resultierende Bedrohungslage so rasant voran, dass es längst um alle aufkeimenden internationalen Konflikte geht, die die Sicherheit Europas, von Unternehmen und Bürgern auch bei uns jederzeit gefährden könnten. Resilienz ist erforderlich und mehr Aufgeschlossenheit bei Bürgern wie Institutionen – dort muss die Zeitenwende des Kanzlers erst noch verstanden werden. Sich einen drohenden Krieg vorzustellen und nicht nur vom ewigen Frieden zu träumen, fällt den Deutschen sichtlich schwer. Vor allem mag sich hier keiner ausmalen, was da im Fall der Fälle wirklich auf uns zukommt.

Die Bilder von Soldaten in olivgrünen Uniformen, die mit Gewehren aufeinander schießen wie früher einmal, sind an naiver Vorstellungskraft kaum mehr zu übertreffen. Selbst moderne Kriegsführung sind für uns, vom Fernsehen geschulten Laien, bestenfalls die Präzisionsschläge der Amerikaner bei CNN. Doch das ist auch schon wieder eine Ewigkeit her. Was einmal anno 2001 mit dem Einsatz amerikanischer Drohnen im Irak und in Afghanistan angefangen hatte, die bis zu 24 Stunden in der Luft lauern können, bevor sie ein Ziel angreifen, ist überhaupt nicht mehr mit den heutigen anspruchsvollen Aufklärungs-, Einweg- und sogar Kamikaze-Drohnen zu vergleichen, über die wir nur sehr vereinzelt Meldungen bekommen.

Beleuchtete Drohnen-Formationen zu Silvester am Nachthimmel

Während früher Soldaten noch operativ die Einsätze ihrer (zum großen Teil noch Segelflugzeug großen) Flugobjekte wie dem Predator oder der Reaper-Kampf-Drohne per Joystick aus der Ferne steuerten, ist es heutzutage in Zeiten der Künstlichen Intelligenz (KI) gut denkbar, dass hunderte oder gar tausende kleine Mini-Bomber in Schwärmen angreifen – mittels Killer-Algorithmen programmiert, die unbeirrt ihre tödliche Last ins gegnerische Ziel tragen. Wer Silvester 2023 im Fernsehen die Bilder von KI-gesteuerten Drohnen am Nachthimmel etwa über London gesehen hat, mag einen ersten Eindruck der beängstigenden militärischen Einsatz-Möglichkeiten bekommen haben. Es waren da Hunderte von Lichtpunkten, zu sehen, die präzise ihre Formation veränderten und analoges Feuerwerk wie Böllerschüsse aus der Vergangenheit aussehen lassen haben.

„Das ist alles keine Science-Fiction mehr“, warnt Oberstleutnant Michael Karl vom German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) an der Bundeswehr-Führungsakademie Hamburg. Anders als bei Raketen, bei denen Zielkoordinaten eingegeben werden müssen, verfolgen diese Art Drohnen ihr Ziel eigenständig, ohne sich per Schall oder Funk stören und umleiten zu lassen (Jamming von Signalen oder Spoofing der Koordinaten).

Man kann inzwischen einen Schwarm handelsüblicher Drohnen so programmieren, dass sie selbständig ohne Fernsteuerung eine Kampfpanzer-Formation angreifen und ausschalten. Diese War-Birds – so der Name der Ukrainer für ihre einst in der Landwirtschaft entwickelten Flugkörper – verfügen zwar nicht über die Feuerkraft von Kampfflugzeugen, sind aber ungleich viel billiger in der Herstellung. Während Drohnen (aufgrund ihrer eher geringen Schwierigkeit) bislang von einer qualifizierten Flugabwehr ausgeschaltet werden konnten, wäre der Einsatz teurer Patriots gegen Billigdrohnen völlig unverhältnismäßig. Plötzlich haben deshalb auch Mörser wieder Konjunktur – Rheinmetall hat zusammen mit Norwegen sogar eigens einen Mörser für 120mm-Geschosse entwickelt.

Früherer Google-Chef versucht Ukraine bei Drohnen zu helfen

Die Ukraine verwendet in großen Mengen bereits selbst entwickelte Saker Scout-Drohnen, die bislang gut drei Kilo Sprengstoff tragen können und 12 Kilometer weit fliegen. Sie können mit Hilfe von Maschen-Intelligenz eigenständig mindestens 64 verschiedene militärische Zeile oder Waffensysteme der Russen im Feld identifizieren und angreifen. Und sie lernen ständig dazu, weiß Eric Schmidt, von 2011 bis 2015 Google-Chef, der in der Ukraine inzwischen dabei mithilft, der Ukraine auf der Zeitachse des Krieges einen technologischen Vorteil zu verschaffen. Schmidt behauptet: „Der Ukraine gelingt es kontinuierlich ihren Gegner mit Entwicklungen zu überlisten.“ Er ist überzeugt: „Die Zukunft von Kriegen wird mittels Drohnen bestimmt und durchgeführt.“ Manche Drohnen kommen auf 25 Kilo Nutzlast.

Der Ukraine-Konflikt ist in dieser Hinsicht der erste Konflikt, in dem dies täglich erprobt und verfeinert wird – auf beiden Seiten natürlich. Auch die Russen haben mit der Orlan-10-Aufklärungs- und Lancet-Angriffs-Drohne ihre Fähigkeiten aufgebessert. Der Ukraine-Krieg gleicht einem Experimental-Labor, das über kurz oder lang unbeteiligten Ländern vor Augen führt, weiche Herausforderungen in Sachen Verteidigungsfähigkeit zu bewältigen sind. Allerdings ist Deutschland ebenfalls nun besser aufgestellt als zuvor.

Erfolgreiche Drohnen-Abwehr aus einem kleinen Eifeldorf

So produziert in Strickscheid, einem kleinen Eifel-Dorf, die Firma Aaronia ein Drohnen-Abwehrsystem namens Aartos. Die Bundeswehr nutzt es, das österreichische Heer, die Australier, und angeblich ist es auch in Kiew im Einsatz, was von der dortigen Firmenleitung nicht kommentiert wird. Auch im Zivilbereich bildet das Unternehmen aus, zum Beispiel zum Schutz von Flughäfen oder auch des G20-Gipfels in Bali. Praktisch geht es um mobile Kommandozentralen, Computer-Arbeitsplätze, die in einen Transporter untergebracht werden können, die mit Frequenz-Überwachung, Thermal-Kameras und Radar den Luftraum überwachen können. Hier zeigt sich die Größe der Aufgabe. Bislang gebe es nämlich „kein Abwehrsystem, das hundertprozentigen Schutz bietet“, sagt Gary S. Schaal, der KI-Experte und Vorstand der Bundeswehr-Denkfabrik GIDS in Hamburg. Über alles wird kreativ nachgedacht, selbst über Low-Tech wie Abfangnetze. Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations betont, dass selbst Pazifisten im Prinzip eine deutsche Counter-Drohnen-Abwehr befürworten müssten.

Wie Drohnen-Schwärme bekämpft werden könnten, ist unklar

„Für Drohnen-Schwärme oder Ähnliches haben wir bisher keine Idee, wie man sie systematisch abschießen kann.“ Allerdings wird mit Hochdruck auch bei uns daran gearbeitet. So hat die Bundeswehr die Firma Quantum Systems und das Rüstungsunternehmen Airbus damit beauftragt ein System zu entwickeln, das mit Kampfflugzeugen einen Verbund bildet und sich nahtlos in die Luftverteidigungs-Architektur Deutschlands einfügt.

Oberstleutnant Karl als Experte für moderne Kriegsführung an der Denkfabrik der Helmut-Schmidt-Hochschule ahnt, dass dies bald den internationalen Terrorismus bestimmen könnte. „Es geht nicht nur um den Schutz unserer Soldaten vor Drohnen, sondern auch um den Schutz der Zivilbevölkerung.“

Das hat sich in Bergkarabach beim Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan im kleineren Maßstab vor Jahren bereits angedeutet. Und das zeigen jetzt gerade täglich die hinterhältigen Angriffe der jemenitischen Huthi-Rebellen auf die Schifffahrtswege am Golf, wo vergleichsweise billige Drohnen aus iranischer Herstellung die Weltwirtschaft bedrohen und selbst eine Weltmacht wie die USA in Atem halten. Die Verhältnisse haben sich völlig verschoben, es kommt nicht mehr allein auf die Milliarden schwere Waffentechnik wie Flugzeugträger oder Kampfjets an, sondern die vergleichsweise kostengünstige Programmierung von Software. Geradezu apokalyptische Aussichten: Praktisch wird schon bald ein jeder derartige Kriegsanwendungen aus dem Netz herunterladen können, um sie mit handelsüblichen Drohnen aus vornehmlich chinesischer Massenfabrikation einsetzen zu können – in der Landwirtschaft, aber leider auch im Krieg.

Markus Söder fordert 100.000 Drohnen für Deutschland

Die Hoffnung ist, dass auch die deutsche Wirtschaft, junge Ingenieure und Programmierer im Land sich dieser Herausforderung stellen. Allmählich scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass wir die Bundeswehr nicht zwingend aufrüsten müssen mit Panzern und der Wiedereinführung der Wehrpflicht, sondern nach Vorbild des kleinen Staates Israel begrenzte finanzielle Mittel in technologische sinnvolle Verteidigungsprojekte investieren sollten. „Auch Deutschland wird 100.000 Drohnen vorhalten müssen“, meinte unlängst Markus Söder in einer Talkshow und hat damit wohl die letzte friedliebende Taube auf dem heimischen Sofa zum Flattern gebracht. Statt wie früher Generationen von Wehrdienstleistenden einzuziehen, benötigt die Bundeswehr gutbezahltes Personal und versierte Experten für die Zukunft – Männer und Frauen gleichermaßen. Es herrscht jetzt auch hier Zeitenwende.

Die Defizite liegen wie so oft derzeit in der Kommunikation und mangelnden Offenheit beim Angst-Thema Verteidigung. Vor allem SPD-Politiker wie Fraktionschef Ralf Mützenich tun sich sichtlich schwer, wahre Worte zu finden und den Bürgern die Augen zu öffnen. Verteidigungsminister Pistorius hat da weit weniger Scheu. Und der Kanzler spricht seine tiefgreifenden Erkenntnisse nicht gern offen aus, sondern lieber an geeigneter Stelle in der NATO etwa oder auch bei den Gesprächen der Ramstein-Kontaktgruppe, wenn es dort mit den Amerikanern um Lieferungen an die Ukraine geht.

Olaf Scholz hat Schutzschild für Europa versprochen

Denn Olaf Scholz hat nicht nur seine „Zeitenwende“ angekündigt, sondern im Oktober 2022 unseren Nachbarn versprochen, dass Deutschland die Führungsrolle einer European Sky Shield Initiative (ESSI) übernehmen wird, den Aufbau eines umfassenden Raketenschutz-Schirms. Und der wird nicht nur NATO-Mitgliedsländern zugutekommen, sondern er umfasst bereits 19 Länder Europas. Zunächst 15 Staaten waren auf Anhieb dem Vorstoß Deutschlands gefolgt – Belgien, Bulgarien, Estland, Finnland, Großbritannien, Lettland, Litauen, Niederlande, Norwegen, Rumänien, Slowakei, Slowenien sowie Tschechien und Ungarn. Später folgten noch Dänemark, Schweden, Österreich und die stets um Neutralität bemühte Schweiz. Bemerkenswert wer nicht von der Partie ist: Die Polen fehlen, die womöglich noch auf Sonderbehandlung von Donald Trump hoffen. Aber auch Italien und vor allem unser wichtigster Partner in Europa: Frankreich, die immer etwas beleidigt auftreten, wenn sie das Gefühl haben, nicht die erste Geige zu spielen.

Häufig geht es ja auch nicht ganz uneigennützig zu – beim Buhlen um die milliardenschweren Wirtschaftsaufträge. Das viele Geld im Wehr-Etat weckt Begehrlichkeiten und ruft Lobbyisten in fast allen Hauptstädten des Kontinents auf den Plan. In Sachen Patriots hatte man sich in Schrobenhausen bereits 1987 darauf strategisch eingestellt, als mit der Firma Comlog ein Joint Venture von MBDA und dem amerikanischen Patriot-Hersteller Raytheon gegründet wurde. US-Präsident Ronald Reagan hatte damals erstmals weitsichtig vom „Krieg der Sterne“ gesprochen, woraufhin ihn die deutsche Friedensbewegung schlicht für verrückt erklärte. Die Technik hat sich nicht aufhalten lassen durch Friedensaktivisten und Protestketten.

Inzwischen ist klar, dass bei der Luftverteidigung mit Flak-Geschützen nur noch wenig auszurichten ist. Das weltweite Waffenarsenal der Zerstörung reicht von Mini-Drohnen über Jets und Marschflugkörper bis hin zu Hyperschall-Waffen, die atomar bestückt und mit einer Geschwindigkeit von bis zu 15.000 Kilometern pro Stunde und verschwindend geringen Reaktionszeiten einschlagen könnten. China verfügt über derartige Mittelstreckenraketen, die in nur Minuten Flugzeugträger pulverisieren können. Wie will man sich davor schützen? Nicht nur die Amerikaner glauben an Laserwaffen, womit wir wieder beim „Krieg der Sterne“ wären und der Notwendigkeit, Abschreckungspotenzial aufzubauen – auch bei uns.

                                                                            ***

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.

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