Die negativen Meldungen über Chinas Wirtschaft reißen nicht ab. Von der rückläufigen Geburtenrate und dem drohenden demografischen Kollaps des Landes bis hin zur schwachen Inlandsnachfrage, der Immobilienkrise und den drakonischen Strafzöllen auf seine Exportgüter in den USA— die Zeiten des chinesischen Aufstiegs scheinen seit den quälenden Corona-Jahren zum Stillstand gekommen zu sein. Doch ist das wirklich so?
Einige Ökonomen vermuten, dass ein neuer China-Schock bevorsteht. Ein „China-Schock“ bezeichnet die schlagartige Überschwemmung von Märkten mit günstigen chinesischen Produkten. Der erste Schock dieser Art traf in den frühen 2000er Jahren insbesondere die USA, doch dieses Mal könnten Europas Kernindustrien einen nachhaltigen Schaden davontragen. Denn anders als vor 20 Jahren fokussieren sich die chinesischen Produzenten jetzt auf hochwertige Branchen und setzen auf ein gewachsenes Lieferkettennetzwerk, um ihre Fabrikate in die ganze Welt zu exportieren.
Made in China: Billigware erobert den Westen
Der erste China-Schock erfasste hauptsächlich die USA in den frühen 2000er Jahren. Die schlagartige Überschwemmung des nordamerikanischen Marktes mit billigen Textilien, Unterhaltungselektronik und weiteren Massenwaren Made in China kostet die Vereinigten Staaten bis heute rund 5,7 Millionen Jobs. Europas Volkswirtschaften blieben von dem Schock weitgehend verschont, denn Produkte aus dem Maschinenbau und der Auto- und Chemieindustrie waren zu spezialisiert und zu teuer, um von China ersetzt zu werden. Das sieht indessen anders aus.
Im Vergleich zu den frühen 2000er Jahren könnte ein China-Schock heute Europas Kernindustrie empfindlich treffen. Dieses Mal handelt es sich nämlich um fortgeschrittene Technologien und rare Rohstoffe, die Peking im Westen absetzen möchte. Besonders gefährdet wäre dabei der Wirtschaftsstandort Deutschland, konstatiert der Ökonom Sander Tordoir vom Centre for European Reform. Das liegt seiner Ansicht nach an folgenden Gründen:
Peking hält an der Überproduktion fest
Peking wird attestiert, es könne seine marode Wirtschaft nur auf zwei Arten lösen: durch die Stimulation der Binnennachfrage oder den Absatz seiner Güter im Ausland. Doch dabei wird verkannt, dass letztere Praxis schon lange von der Kommunistischen Partei Chinas favorisiert wird. Seit den 1980er Jahren beruht Chinas Wachstumsmodell laut Tordoir auf chronisch niedrigem Konsum im Inland und einer permanenten Überproduktion von Waren für das Ausland.
Einerseits will China sich zwar unabhängig von ausländischen Importen machen und versucht daher, Kerntechnologien wie Halbleiter, Elektroautos oder KI-Modelle möglichst gut zu kopieren. An seinen Exporten ins Ausland hält das Land aber fest und stützt diese mit massiven Subventionen.
Produkte aus China werden spezieller, besser und günstiger
Angesichts der drohenden Immobilienkrise setzt Xi Jinping alles daran, die Auto-, Chemie-, die Halbleiterindustrie und den Maschinenbau zu fördern. Und das mit Erfolg: So kamen 2,3 Prozent aller weltweiten Exporte des verarbeitenden Gewerbes im Jahr 1991 aus China; 2013 waren es bereits 19 Prozent. Und dieser Trend reißt nicht ab: Allein die Exporte von Fahrzeugen aus China haben sich seit 2020 versechsfacht. Player wie BYD und NIO holen technologisch auf und können westliche Produzenten nicht nur in preislicher, sondern auch in qualitativer Hinsicht herausfordern. In Australien löste BYD bereits Tesla als meistverkaufte E-Auto-Marke ab, eine Entwicklung, die sich auch in Europa wiederholen könnte.
Hinzu kommt, dass China in elementaren Feldern wie der Künstlichen Intelligenz und der Robotik aufholt. Bereits jetzt lässt sich beobachten, wie chinesische Robotikhersteller in den deutschen Markt drängen und dort günstige, hochwertige Produkte absetzen. Auch konnte sich auf Pekings Initiative hin ein solider Markt für Halbleiter entwickeln. Die chinesische Forschung setzt alles daran, hochmoderne NVIDIA-Chips zu ergattern und zu kopieren.
Auch im Bereich der erneuerbaren Energien können die Chinesen aufholen und überholen. Nicht nur sind etwa Windkraftanlagen in der Produktion um 65 % günstiger als in Europa, auch sind sie qualitativ nahezu gleichwertig. Ähnlich sieht es bei PV-Anlagen und Wärmemaschinen wie Wärmepumpen aus; diese werden zunehmend in China hergestellt. Die Zeiten, in denen Länder wie Deutschland als führend in der Entwicklung solcher Technologien galten, sind längst vorbei.
Chinesische Produktionsstätten und Servicenetzwerke werden in Europa ausgebaut
Immer mehr chinesische Produzenten errichten ein Servicenetzwerk auf europäischem Boden und verlagern auch ihre Produktion direkt in die Nähe ihrer westlichen Absatzmärkte, so etwa die Fabriken von BYD und CATL in Ungarn.
Somit entsteht nicht nur ein Produktions-, sondern auch ein hervorragendes Servicenetzwerk in Europa, das sich mit den einheimischen Anbietern messen kann. In Verbindung mit äußerst effizienten Lieferketten werden weitere Hürden abgebaut, die westliche Kunden vormals vom Kauf abhielten.
Washington will Protektionismus, Brüssel nur De-Risking
Washington will einen erneuten China-Schock unbedingt vermeiden und greift deshalb auf rigorose Mittel zurück. Dazu zählen etwa Strafzölle von 100 % auf chinesische E-Autos, um eigene Marken vor Pekings günstigeren und oft gleichwertigen Fahrzeugen zu schützen. Brüssel hingegen fokussiert sich auf das De-Risking, also die Unabhängigkeit von Chinas Marktmacht. Um aber gleichzeitig die eigenen Exporte nach China zu schützen, wird von allzu hohen Strafzöllen abgesehen.
Diese Strategie ist laut Tordoir besonders riskant, da sie Chinas Exporteuren genug Raum böte, die eigenen Produkte günstig in Europa abzusetzen. Sinkende Absatzzahlen zeigen zudem, dass europäische Produkte in China selbst zunehmend verdrängt werden, wie der kometenhafte Aufstieg von BYD zulasten Teslas und VWs deutlich gemacht hat.
Mario Draghi: Ohne Wettbewerbsfähigkeit stirbt Europas Industrie einen langsamen Tod
Lohnt es sich also überhaupt noch, die eigene Kernindustrie zu schützen? The Economist titelte, Europa sollte günstige Güter aus China kaufen, um die Energiewende zu vollziehen und somit wenigstens einen Vorteil aus dem „chinesischen Vorstoß“ zu ziehen. Ökonomen wie Sander Tordoir und Mario Draghi halten dagegen.
So konstatiert Tordoir, mit gezielten Zöllen und Einfuhrbeschränkungen könnte Europa seine Kernindustrien noch beschützen. Insbesondere beschäftigungsintensive Sektoren wie die Autoindustrie und die Windkraft müssten geschützt werden, damit die EU einer kompletten Deindustrialisierung entgehe. Andere Sektoren wie die Solartechnik hingegen seien schon fest in chinesischer Hand und bedürften deshalb keiner schwerwiegenden Zölle. Es sei wichtig zu verstehen, dass China seinen Zugang zum amerikanischen und europäischen Markt nicht aufgeben könne, und dass der Spielraum der EU zum Schutz ihrer Industrien nicht unterschätzt werden dürfe.
Mario Draghi hielt am 9. September eine lang erwartete Rede in Brüssel und forderte, die EU müsse wettbewerbsfähig bleiben, da ihre Industrie sonst in Agonie verfallen werde. Es seien öffentliche und private Investitionen vonnöten, um die EU wettbewerbs- und verteidigungsfähig zu machen, so Draghi. Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank mutmaßte, es seien etwa 800 Milliarden Euro jährlich für die Stärkung von Industrie und Verteidigung vonnöten, was etwa 5 Prozent des BIP der EU entspricht. Zum Vergleich: Der Marshallplan der USA umfasste weniger als 2 Prozent des europäischen BIP.
Ob die EU diese gewaltigen Summen aufbringen will und wird, bleibt aber vorerst ungewiss. Doch ein energisches Handeln scheint besonders dringlich zu sein, denn je angeschlagener Chinas Wirtschaft ist, desto aggressiver wird Peking versuchen, Europas Industrie abzuhängen und den Block mit seinen eigenen Produkten zu überschwemmen.