Bundeskanzler Olaf Scholz hat der SPD-Fraktion mitgeteilt, dass er eine eigene Mehrheit für die geplanten Verschärfungen in der Migrationspolitik erwarte. Ob er dabei eine Vertrauensfrage in den Raum stellte, bleibt umstritten. Hat Scholz tatsächlich gedroht, das Kanzlerprivileg der Vertrauensfrage auszuspielen, oder reichte ein klar formuliertes Machtwort des Regierungschefs? Vielleicht handelte es sich auch lediglich um den zarten Hinweis, dass Scholz eine eigene Mehrheit innerhalb der Fraktion für seine Gesetzesvorhaben erwartet? So oder so – es gab wohl einen Wink mit dem Zaunpfahl.
Die Interpretationen der Ereignisse im SPD-Fraktionstreffen am Dienstag gingen denn auch prompt auseinander. Sicher ist nur, dass es ein bemerkenswerter Vorgang war – und vielleicht ein Wake-up-Call für die Genossen. Bisher standen ja hauptsächlich die Konflikte zwischen SPD und FDP im Vordergrund, die die Ampel belasteten und die Bürger zur Opposition treiben. Nun jedoch hat Scholz plötzlich auch mit vermehrten Spannungen in den eigenen Reihen zu kämpfen. Als Frage bleibt: War seine deutliche Ansprache tatsächlich notwendig in einer Entscheidung, die bislang als relativ gesichert galt? Man glaubte bislang, es brennt andernorts in der SPD.
Sicherheitspaket im Fokus
Es dreht sich alles um das sogenannte Sicherheitspaket der Koalition. Dieses wurde rasch nach dem Solinger Attentat vorgelegt und umfasst Messerverbote, zusätzliche Befugnisse für die Sicherheitsbehörden sowie Kürzungen von Sozialleistungen für sogenannte Dublin-Fälle. Damit sind Asylbewerber gemeint, deren erster Antrag in einem anderen EU-Land gestellt wurde. Besonders bei den Grünen, aber auch bei der SPD-Linken regt sich massiver Widerstand, selbst nachdem das Paket bereits durch die Ampelfraktionen entschärft schien.
Juso-Chef Türmer sieht Drohkulisse
Natürlich wurde das Thema auch in der Fraktionssitzung am Dienstag intensiv diskutiert. Bundesinnenministerin Nancy Faeser lobte zunächst – pro domo – das Sicherheitspaket, bevor nach und nach zahlreiche kritische Stimmen laut wurden. Schließlich ergriff Scholz selbst das Wort und betonte Teilnehmern zufolge, dass eine eigene Mehrheit für das Paket unumgänglich sei - und aus seiner Sicht zwingend. Mehrere Teilnehmer deuteten dies gegenüber Medienvertretern so an. Scholz fügte demnach hinzu, er werde, falls das Paket keine Mehrheit finde, von den „mir zur Verfügung stehenden Mitteln Gebrauch“ machen. Was auch immer das in der Praxis bedeutet.
Diese Bemerkung sorgte offenkundig für große Verwunderung bei den Sozialdemokraten. Einige empfanden die Äußerung als reichlich überzogen und vermuteten, dass Scholz, zunehmend dünnhäutig, damit eine Drohung aussprach, sollte es bei der Abstimmung am Freitag im Bundestag nicht wie gewünscht laufen. Andere sahen darin lediglich ein leidenschaftliches Plädoyer für das ganze Paket. Ein Abgeordneter, der die Worte des Kanzlers milder einstuft, meinte, er habe Scholz selten so engagiert und detailliert argumentieren gehört. Scholz empfinde das gegenwärtige Asylsystem als zutiefst ungerecht und habe deshalb so eindringlich gesprochen. So wie ihn die Bürger zu selten erleben.
Noch Dienstagabend dementierte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch prompt: „Er hat nicht mit der Vertrauensfrage gedroht.“ Doch die Diskussion darüber hält an. Juso-Vorsitzender Philipp Türmer erklärte öffentlich, Scholz wolle seine Kritiker einschüchtern. Er forderte die SPD-Fraktion auf, das Sicherheitspaket am kommenden Freitag abzulehnen. „Das Paket der Ampel schikaniert Geflüchtete statt Islamisten“, so Türmer. Er ist Mitunterzeichner eines Briefs, in dem SPD-Abgeordnete aufgefordert werden, das Paket in Gänze abzulehnen. Ist die Büchse der Pandora in der SPD damit eröffnet worden?
Ungünstiger Zeitpunkt für die SPD
Bereits in den vergangenen Wochen gab es einen intensiven Austausch offener Briefe. Die SPD-Spitze scheint dabei offenkundig das Ausmaß des Unmuts in der Partei unterschätzt zu haben. SPD-Unterhändler Dirk Wiese zeigte sich nach der Einigung mit Grünen und FDP am Freitag noch zuversichtlich, dass die Fraktion mit dem Kompromiss zufrieden sein könne. Jetzt gaben sich die Strippenzieher zerknirscht.
Am Mittwochmorgen versuchte Katja Mast, Parlamentsgeschäftsführerin der SPD, die Worte von Scholz indessen noch einmal ganz anders zu deuten: „Das war keine Drohung“, sagte sie. Vielmehr habe der Kanzler die Ernsthaftigkeit der Debatte unterstreichen wollen. Alles nur Rhetorik und Überzeugungskunst? Zuerst habe Scholz auf die Chancen für Migranten als Fachkräfte in Deutschland hingewiesen, erst danach auf die Notwendigkeit einer besseren Steuerung illegaler Migration. Geschickte Gesprächsführung also?
Abstimmung mit vielen Gegenstimmen
Anfang der Woche hatte bereits eine Probeabstimmung in der SPD-Fraktion stattgefunden. Offenbar stimmten dabei 20 bis 25 Abgeordnete gegen das Sicherheitspaket. Dennoch scheint die Mehrheit der Ampelkoalition bisher nicht ernsthaft gefährdet zu sein – wenn nicht Abweichler bei den Grünen und Liberalen die Sache strategisch ausnutzen. Mast erklärte, dass einige Abgeordnete schließlich im Plenum zustimmen wollten. Sie äußerte keinen Zweifel daran, dass die Mehrheit am Freitag bestehen werde, betonte jedoch, dass dafür noch weitere Gespräche nötig seien. Zeit für erste innige Gespräche im Betstuhl.
Die Verunsicherung innerhalb der SPD bleibt jedoch groß. Die Frage drängt sich auf, ob Scholz angesichts schlechter Umfragewerte und der wachsenden Spannungen innerhalb seiner Koalition allmählich nervös wird. Oder verliert der Kanzler möglicherweise einfach die Geduld mit den eigenen Fraktionsmitgliedern? Zudem bleibt offen, was Scholz mit seinem Hinweis meinte, er werde auf die „ihm zur Verfügung stehenden Mittel“ zurückgreifen. Sollte dies nicht die klare Androhung der Vertrauensfrage gewesen sein, bleibt unklar, was er dann wirklich damit bezweckte. Oder war es nur schlechte Tagesform auf der Kanzel? Eines ist jedoch sicher: Der innerparteiliche Streit um das Sicherheitspaket kommt für Scholz zur Unzeit. Die Parteiführung ist gerade darum bemüht, in der Migrationspolitik eine härtere Linie zu fahren und die Bürger zurückzugewinnen, während gleichzeitig die Kritik an dieser Verschärfung innerhalb der SPD immer lauter wird. Klingt beinahe nach ersten Vorboten einer Spaltung, wie es die Linke mit Sahra Wagenknecht erlebt hat und prompt innerlich zerrissen hat. Vielleicht hat der Schrecken aber auch etwas Positives, Konstruktives – man wird sehen.