Weltwirtschaft

Argentinien am Abgrund – verschärft Javier Milei die Krise?

Lesezeit: 6 min
26.10.2024 15:53  Aktualisiert: 26.10.2024 16:08
Argentinien, einst eine der reichsten Nationen der Welt, steckt heute in einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise. Gaby Weber, die seit den 1980er Jahren in Buenos Aires lebt, schildert die Lebensbedingungen der Bevölkerung und die politischen Versäumnisse, die zu diesem Niedergang geführt haben. Im Interview erklärt sie, warum der neue Präsident Javier Milei für Argentinien keine wirkliche Lösung bietet und welche geopolitischen Entscheidungen das Land in den kommenden Jahren prägen könnten.
Argentinien am Abgrund – verschärft Javier Milei die Krise?
Rentner protestieren gegen die Entscheidung der ultraliberalen Regierung von Präsident Milei, die Mindestrenten nicht zu aktualisieren (Foto: dpa).

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DWN: Sie leben seit vielen Jahren in Argentinien und haben dort einige Filme gedreht, darunter auch einen über den Niedergang des Landes. Wie lebt es sich also in Argentinien - und wie hat sich das Land in den letzten Jahren wirtschaftlich entwickelt?

Gaby Weber: Ja, ich lebe seit Mitte der Achtzigerjahre am Río de la Plata, zunächst in Montevideo, dann auf der anderen Seite in Buenos Aires. Für einen Touristen oder für jemanden, der einen ausländischen Arbeitgeber hat, ist die Metropole einfach klasse. Hier ist viel los, viel Kultur, viele Unis, viel Gastronomie, und das Land ist riesig und besitzt alle Klimazonen. Aber für Leute, die auf einen Lohn/ Gehalt angewiesen und damit eine Familie ernähren müssen, ist es von Jahr zu Jahr schlimmer geworden. Während die Einkommen und Renten nur langsam steigen, rasen die Preise jeden Monat nach oben. Die Mittelschicht weiß nicht mehr, wie sie eigentlich noch über die Runden kommen soll, die Leute geben ihre Krankenversicherung auf, nehmen die Kinder von den Privatschulen, sparen beim Essen. Im August ging der Konsum um 17 Prozent zurück. Die Supermärkte und Kneipen sind leer, selbst die Touristen meiden das Land, denn da der Dollar künstlich niedrig gehalten wird, bekommt man für einen Euro selbst auf dem Schwarzmarkt nur noch mickrige 1300 Pesos, und dann überlegt man sich, ob man nicht lieber in einem billigeren Land Urlaub machen will.

DWN: Argentinien war noch vor hundert Jahren eines der reichsten Länder der Welt. Wie konnte es zu so einem Niedergang kommen?

Gaby Weber: Ja, hierher kamen aus Südeuropa die Saisonarbeiter zur Ernte, um gutes Geld beim Obst- und Gemüsepflücken zu verdienen. Damit ist schon lange Schluss. Und dafür gibt es interne und externe Gründe. Die Argentinier zitieren gerne die externen, das ist ja auch so bequem, alles auf den Internationalen Währungsfonds und den Imperialismus zu schieben. Da ist natürlich etwas dran, denn seit Mitte der 50er Jahre fielen die Rohstoffpreise und stiegen die Kosten für verarbeitete Industriegüter. Dann kam die Schuldenkrise ab den 70er Jahren mit der Militärdiktatur, und die Rezepte des IWF führten das Land in eine immer größere Spirale der Abhängigkeit. Dazu kommen die innenpolitischen Gründe. 1955 wurde General Juan Perón aus dem Amt geputscht, und man kann gegen diesen autoritären Herrscher viele Argumente ins Feld führen, aber zumindest hatte er versucht, das Land zu industrialisieren, eine Infrastruktur aufzubauen und die Universitäten zu stärken. Danach kamen verschiedene Militärregime oder sehr schwache zivile Präsidenten. Und es gab ja in Südamerika nur wenige Versuche, den Kontinent wirtschaftlich zu einen. Nicht einmal Perón dachte in kontinentalen Kategorien und wandte sich etwa den Blockfreien erst zu, als er selbst im Exil war.

DWN: Jetzt ist Javier Milei der Präsident Argentiniens. Welche drängenden Probleme hat er versprochen anzugehen und was davon konnte er bisher in die Tat umsetzen?

Gaby Weber: Milei wurde nicht gewählt, weil er die Argentinier von seinen Vorschlägen überzeugt hatte. Es war eine Protestwahl, die Leuten hatten einfach genug von den korrupten Peronisten, die sich als „progressiv“ und „sozial“ darstellen, aber das Land weiter in den Abgrund führten. Was er machen will, hat man in Argentinien schon in den 90er Jahren erlebt, als der Peronist Carlos Menem acht Jahre lang wie wild privatisierte und den Peso an den Dollar band. Milei ist noch etwas radikaler und sucht auch keine Verbündeten, legt sich mit den Frauen, den Studenten, den Unternehmern, den Gewerkschaften und eigentlich ziemlich allen an. Auch er wollte Argentinien wieder dollarisieren, um die Inflation zu kontrollieren und damit die Kochtöpfe wieder zu füllen. Erfüllt von seinen Versprechungen hat er so gut wie nichts. Beginnen wir bei der Währungspolitik. Für einen Neoliberalen ist es ein heiliges Gesetz, die Währung floaten zu lassen. Er tut das genaue Gegenteil und gibt sein Geld für einen künstlich niedrig gehaltenen Wechselkurs aus. Heute liegt der Dollar bei 1200 Pesos, würde er freigegeben werden, könnte er auf das Dreifache steigen, sagen Experten, und damit eine Inflation nie gekannten Ausmaßes auslösen. Milei konnte zwar mit einigen Notstandsdekreten (für die er sich im Kongress eine Mehrheit kaufte) das Verbot von Finanzoperationen in ausländischer Währung aufbrechen, wie etwa bei den Mieten. Künftig können diese in Dollars bezahlt werden. Aber zum einen war die argentinische Wirtschaft, zumindest der Einzelhandel, schon lange dollarisiert, da jeder Verkäufer den Verkaufspreis eines Produktes von seinem Einkaufspreis in Dollars errechnete. Es war also eher eine nachträgliche Korrektur eines Zustandes. Aber die gesamte Wirtschaft wird er nicht dollarisieren können. Da hätte er vielleicht mal, bevor er vollmundig etwas daher schwafelt, einen Blick in die Verfassung werfen können. Darin steht, dass die nationale Währung der Peso ist, und für eine Verfassungsänderung hat er nicht die Stimmen.

DWN: Aber hat er nicht die Inflation auf unter 4 Prozent monatlich drücken können? Das ist doch ein Erfolg, wenn man sieht, dass diese im Dezember noch 25 % betragen hat?

Gaby Weber: Ja, das steht so in manchen Blättern. Aber wenn Sie die Zahlen genau ansehen, relativiert sich das. Milei hat bei seinem Amtsantritt im Dezember erst einmal den Wert des Pesos praktisch um die Hälfte reduziert. Also abgewertet. Das wirkte sich natürlich sofort auf die Preise aus, die sich ebenfalls verdoppelten oder verdreifachten. Insofern ist der Referenzwert 25 % Inflation, der sich daraus ergeben hat, nicht hilfreich. Und natürlich ist es so, dass bei einem Rückgang des Konsums die Leute nichts mehr kaufen können und jeden Peso umdrehen. Und wenn er jetzt wieder abwerten sollte – und die Presse und die Unternehmer fordern dies offen – wird auch die Inflation wieder steigen, bzw. explodieren.

DWN: Aber immerhin hat er eine ausgeglichene Bilanz, er hat mehr eingenommen als ausgegeben?

Gaby Weber: Ja, das steht so in der Zeitung. Verschwiegen wird dabei, dass durch seine Amnestie für die Steuerbetrüger 15 Milliarden Dollar ins Land geflossen sind; die wurden als Einnahmen verbucht. Aber wenn man sich anschaut, welche Schulden er in seinen zehn Monaten seiner Amtszeit aufgenommen hat, dann sieht die Rechnung anders aus. Als der peronistische Präsident Alberto Fernández im Dezember das Amt an Milei übergab, hatte Argentinien 370 Milliarden Dollar Schulden, hat gerade der sehr angesehene Ökonom Alejandro Olmos vorgerechnet. Davon waren 54 % in ausländischer Währung, der Rest in Pesos. Heute hat das Land 460 Milliarden Dollar Schulden, also 90 Milliarden mehr. Das hängt im Wesentlichen mit der Aktualisierung der Staatsobligationen zusammen, sowie mit internen Umschichtungen der Zentralbank; dazu kommen neue Kredite, da für die internationale Finanzwelt das Land ja angeblich wieder kreditwürdig ist.

DWN: Gleichwohl musste er die Inflation irgendwie in den Griff kriegen. Was sonst könnte er tun?

Gaby Weber: Dass es Einschnitte in bestimmten Bereichen geben musste, war ja allen klar. Viel Geld versickerte durch die Korruption oder schlichte Unfähigkeit, und viele hatten ihren Job aufgrund des Parteibuches bekommen. Wenn er dort aufgeräumt hätte, wäre das sicher auf Wohlwollen gestoßen, aber das hätte Einzelfall für Einzelfall geprüft werden müssen. Aber darum ging es ihm nicht, er hat kein neues Modell, sondern zerstört nur. Er löst bestimmte Kontroll-Institutionen einfach auf, hat den Universitäten radikal den Haushalt gekürzt und Kultureinrichtungen praktisch aktionsunfähig gemacht.

DWN: Eine Zeit lang schien es, als sei Argentinien für das chinesische Projekt der „Neuen Seidenstraße“ offen, doch jetzt vollzieht Argentinien auch geopolitisch einen Schulterschluss mit den USA. Ist dieser Eindruck richtig?

Gaby Weber: So sah es zumindest bisher aus. Er hat ja die beiden größten Handelspartner Brasilien und die Volksrepublik China als „Kommunisten“ beschimpft, mit denen er nichts zu tun haben will. Das Angebot, in das BRICS-Bündnis aufgenommen zu werden, will er nicht annehmen. Sagt er jedenfalls. Und die USA freuen sich über ihren neuen Gefolgsmann, der bereits einen Antrag auf Aufnahme in die NATO als „Globaler Partner“ gestellt hat. Er soll auch dem Wunsch des Pentagon positiv gegenüberstehen, in Feuerland eine Militärbasis zu errichten. Aber Milei ist wenig zurechnungsfähig. In den letzten Wochen scheint er sich über seine neuen Freunde in den USA geärgert zu haben, weil diese ihm beim IWF und Weltbank in der Schuldenfrage nicht weitergeholfen haben und US-Richter das Land weiter zu Zahlung hoher Entschädigungszahlungen verurteilen lassen. Mit den Chinesen hingegen konnte er, lobte er öffentlich, innerhalb von 24 Stunden eine Einigung über die Nutzung der Swaps (Anm. d. Red.: Währungstauschgeschäfte zwischen Zentralbanken) erreichen, die in seiner Zentralbank lagern.

DWN: Sie glauben also, dass Argentinien Chance auf einen BRICS-Beitrag vertan hat?

Gaby Weber: Im Moment geht hier das Gerücht umher, dass in naher Zukunft die allmächtige Schwester des Präsidenten nach Peking reisen wird, um die Bedingungen auszuhandeln. Geht alles gut, dann wird Javier Milei persönlich fahren und vielleicht die Erfahrung machen, die vor ihm bereits Bolsonaro gemacht hatte. Der frühere brasilianische Staatschef war ja anfangs ebenfalls gegen diese „Kommunisten“ eingestellt, ließ sich aber von den ihm vorgelegten Zahlen überzeugen und wurde zum besten Freunde nicht nur der Chinesen sondern auch von Putin, von wo er seinen Dünger bezog. Und von dem hängt nun mal der Erfolg der Landwirtschaft des Amazonasstaates ab. Vielleicht hilft das auch bei den Geschwistern Milei.

Info zur Person: Gaby Weber ist promovierte Lateinamerikanistin und seit Mitte der achtziger Jahre als Auslandskorrespondentin in Südamerika für diverse deutschsprachige Medien tätig. Kürzlich ist ihr neues Buch „Drei Kreise des Abgrunds“ erschienen.



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