Es heißt, Helmut Kohl habe für seinen „Inner Circle“ eigens Champagner bestellt und geköpft, um gebührlich zu feiern, dass die umstrittene Kürzung der Lohnfortzahlung auf 80 Prozent anno 1996 im Deutschen Bundestag abgenickt wurde. Zum 1. Oktober mussten sich die Arbeitnehmer damals auf Abschläge einrichten, wenn sie sich krankgemeldet haben. Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, der „Herz-Jesu-Marxist“ der CDU, musste es allen verklickern und seinen Kopf vor die Fernseh-Kameras halten. Vergnügungssteuer für den Schampus im Bonner Kanzler-Bungalow: null!
Norbert Blum musste ran: Der „Herz-Jesu-Marxist“ war Kohls Überbringer der schlechten Nachrichten
Das sorgte in den Betrieben zwar anfangs für dicke Luft, aber am Arbeitsmarkt und für die Wirtschaft wirkte es Wunder. Es war ein radikaler Schnitt, natürlich auch in der Christlich-Sozialen Arbeitnehmerschaft (den CSA-Ausschüssen) ein Ärgernis, was Kohl aber auf die ihm typische Art in Kauf genommen hat. Kohl war mal wieder ganz „Birne“, nicht der allseits beliebte Kanzler, sondern der Bulldozer, der das mit Autorität und Richtlinienkompetenz durchgesetzt hat. Die Proteste und Demos auf Deutschlands Straßen haben ihn nicht vom Weg abgebracht. Gut möglich allerdings, dass es ihm nach 16 Jahren im Amt die Wahl gekostet hat – damals Anno Domini 1998.
Aus heutiger Sicht scheint dies geradezu unvorstellbar. Die breite Öffentlichkeit würde schwören, dass das Privileg, vollen Lohn zu erhalten, obwohl man nicht arbeitet, quasi schon seit Menschengedenken gilt. Nicht ganz. Und auch nicht Bismarck hat das in seinen kühnen Plänen für ein zeitgemäßes Sicherungssystem durchgesetzt. Erst seit 1. Januar 1970 ist dieser Anspruch vollumfänglich in Kraft getreten – und gilt seither auch für alle Arbeiter. Nur die in ihren Firmen und Institutionen besser gestellten Angestellten konnten zuvor mit der Sozialleistung rechnen.
Selbstverständlich ist es freilich nicht. In den USA etwa ist die Entgeltfortzahlung weiterhin nur ein frommer Wunschraum für Arbeitnehmer – und wird es wohl auch bleiben. Die Wirtschaft muss brummen, Sozialleistungen muss man sich leisten können! Das ist in den USA Allgemeinwissen und wird von den Bürgern mehrheitlich auch überhaupt nicht infrage gestellt. Bei uns indessen ist allein die Diskussion schon verpönt, wie es scheint. Trotz der bedrohlichen, ansteigenden Zahlen. „Der Krankenstand in Deutschland lag auch im Sommer 2024 auf einem Rekordniveau“, meldete etwa die DAK, die drittgrößte Krankenkasse in Deutschland, jüngst am 23. Oktober. „Von Juli bis einschließlich September gab es neun Prozent mehr Krankschreibungen als im 3. Quartal des Vorjahrs.“
Insgesamt liege der Krankenstand mittlerweile bei fünf Prozent, wie die Analyse der Krankschreibungen von 2,3 Millionen erwerbstätigen DAK-Versicherten gezeigt habe. Die offiziellen Zahlen aller Kassen liegen mit 5,9 Prozent sogar noch höher. Übersetzt heißt das wohl für die gesamte Wirtschaft, dass die Produktivität gut ein Prozent geringer ausfällt und das zig Milliarden kostet. Kein Wunder, dass Deutschland „allein aufgrund des hohen Krankenstandes in der Rezession“ steckt, wie es schon Anfang 2024 in einer Studie der Pharmaindustrie hieß. Während der 20 Jahren vor der Pandemie hatte der Krankenstand noch relativ konstant bei unter 4,5 Prozent gelegen.
Gerhard Schröder war's: Der „Genosse der Bosse“ hat die Lohnfortzahlung wieder eingeführt
Seit Gerhard Schröder (SPD) die Lohnfortzahlung 1999 sogleich wieder eingeführt hat, um seiner Wählerschaft die im Wahlkampf versprochenen und dann – nolens volens – auch die all gefälligen Reformen einzulösen. Schröder hat später bekanntlich andernorts proaktiv gekürzt, gespart und die Arbeitnehmerschaft geknebelt – die Rede ist von der Agenda 2010, die dem Land „Hartz4“ und andere Einschnitte ins Sozialsystem zugemutet hat. Anfangs wurde sein beherztes Vorangehen in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit noch gefeiert. Später freilich hat es dann zum Entfremdungsprozess der SPD mit dem „Genossen der Bosse“ eingeleitet.
Wie gesagt, das mit den großzügigen Errungenschaften unseres Sozialsystems geht schon so lange gut, dass es den Tarifpartnern augenscheinlich schwerfällt, einzusehen: Das ist nicht mehr zeitgemäß und auch nicht mehr bezahlbar. Denn unsere Wirtschaft muss weiter am Weltmarkt konkurrieren und mithalten. Mittlerweile ist es ja sogar wissenschaftlich belegt und als Argument belastbar, dass das Phänomen der Fehltage zunimmt und dies mithilfe der elektronischen Krankmeldung erst so richtig offenbar wurde für Arbeitnehmer, Krankenkassen und die interessierte Öffentlichkeit.
Hüsteln und allerlei kleine Zipperlein fesseln uns ans Bett oder zwingen uns aufs Sofa
Die Ärzteschaft weiß nur zu genau, dass es sich Arbeitnehmer gerade bei leichten Erkältungen (und wohl auch anderen banalen Zipperlein) leicht machen, der Personalabteilung abzusagen und sich eine Krankmeldung zu organisieren. Die Datenlage mag zwar etwas vage und undurchsichtig sein, aber wir alle haben in unseren jeweiligen Peer-Groups ein feines Gespür für bestimmte Auszeiten. Aus gutem Grund ist der Begriff des Krankfeierns kein Fremdwort oder gar ein geflügelter Begriff mehr.
„Wir brauchen jetzt eine seriöse und gründliche Debatte über die wirklichen Ursachen für den anhaltend hohen Krankenstand. Schnellschüsse wie die Forderung nach einer Abschaffung der telefonischen Krankschreibung oder eine Blaumacher-Debatte helfen den Betroffenen und den Betrieben nicht weiter“, sagt DAK-Vorstandschef Andreas Storm. „Angesichts der anhaltenden Wirtschaftsschwäche in Deutschland kommt den Fehlzeiten der Beschäftigten eine besondere Bedeutung zu. Der hohe Krankenstand ist ein zusätzliches Risiko für die Erfolgschancen der Unternehmen, die Wachstumsschwäche zu überwinden.“
Mit Corona ist beim „Blaumachen“ die letzte Hemmschwelle überwunden worden
Während der Pandemie ist gewissermaßen auch die letzte Hemmschwelle gefallen. Man kann seither mit gutem Gewissen behaupten, es sei ja besser für die Kollegen, zu Hause zu bleiben. Dabei könnte man mit einem Hüsteln durchaus auch von zu Hause aus arbeiten, so möchte man annehmen. Das Ergebnis ist jedenfalls für die Wirtschaft verheerend: International liegen wir rekordverdächtig weit vorne bei den Krankmeldungen und Fehlzeiten. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes besagen: Anno 2023 waren die Arbeitnehmer in Deutschland durchschnittlich 15,1 Arbeitstage krankgemeldet. Der Anstieg gegenüber dem Jahr 2021 (plus vier Krankheitstage) dürfte unter anderem auf das Aufkommen der Grippe- und Erkältungswellen zurückzuführen sein. Doch die Zahlen sind nicht heruntergegangen seither, sondern immer noch so hoch. Das sollte alle stutzig machen. Nur wenige Arbeitgeber gehen so frank und frei vor wie der Milliardär Elon Musk, der in Brandenburg erst vor wenigen Jahren eine Automobil-Fabrik errichtet hat und sich seither über das Arbeitsethos der Deutschen wundert.
Wie viel Fehltage gelten als „normal“: Was Google den Arbeitnehmern als Risiko nennt
Musk, Boss des E-Auto-Herstellers Tesla, findet seine Mitarbeiter teils so befremdlich, dass er eigens Mitarbeiter in die Spur setzt, um bei den Kollegen nach dem Rechten zu sehen – egal, ob wirklich aufrichtig besorgt oder tatsächlich aus betrieblich anderweitigen Gründen. Fakt ist: Die Entrüstung war anfangs noch laut, aber mit einsetzender Wirkung ist sie regelrecht verstummt in den Medien. Juristisch sollte die Lage ja allen klar sein: Wer „blaumacht“, dem kann mit Fug und Recht fristlos gekündigt werden.
Wobei in der Arbeitswelt eigenartige Weisheiten kursieren. Wenn sie nach der schrägen Frage, wie viel Fehltage eigentlich „normal“ seien, googeln, kommt das als Erkenntnisgewinn heraus: „Wie oft darf ich krank sein, ohne dass mein Arbeitsplatz gefährdet ist? Hier gilt, dass der Arbeitgeber bis zu 30 Fehltage pro Jahr hinnehmen muss. Ist der Beschäftigte mehr als 30 Tage (also 6 Wochen) im Jahr krank, so gilt dies grundsätzlich als unzumutbar.“
Wie es anders gehen könnte, ist natürlich kein Geheimnis und schon gar keine Raketenwissenschaft. Die Schweden gehen mal wieder voran – wie schon bei den Einschränkungen der Migration. „Schweden hat einen Karenztag, der gänzlich unbezahlt bleiben kann. Danach greift eine Lohnfortzahlung von 80 Prozent von bis zu zwei Wochen“, weiß Nicolas Ziebarth, Ökonom am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim, zu berichten. Eine schmerzliche Kürzung beim Lohnentgelt, keine Frage, doch soziale Härte wird man den Nordlichtern deshalb nicht vorwerfen. Nicht mal bei Japan oder Südkorea, wo es wie in Nordamerika selbst bei den Kanadiern keine abgesicherte Lohnfortzahlungen gibt, würde man das ernsthaft behaupten. Wer sich ausruht, sündigt nicht!
Ein mutiger Mann plädiert auf Notwehr und fordert Halbtags-Krankenschreibungen
Bei uns ist es bestenfalls möglich, etwaige Sonderzahlungen zu kürzen. „Im Arbeitsvertrag oder in einer Vereinbarung zum Arbeitsvertrag kann geregelt sein, dass Sondervergütungen während der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gekürzt werden. Die Kürzung darf pro Tag höchstens ein Viertel des durchschnittlichen Arbeitsentgelts pro Tag im Jahresdurchschnitt betragen", so die juristische Expertise.
Was geht sonst noch? Andrew Ullmann, Gesundheits-Experte der FDP-Fraktion, hat jetzt – gewissermaßen per Notwehr-Tatbestand – „Halbtags-Krankschreibungen in die Diskussion gebracht. Ganz ernsthaft! „Diese könnten eine flexible Lösung sein, um die Lücke zwischen kompletter Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsfähigkeit zu schließen“, so Ullmann. Die Verzweiflung ist groß und nimmt weiter zu. Wann also geht ein mutiger Minister oder auch neuer Kanzler das Thema an?
Vielleicht nie. Denn: Was schrieb der „Spiegel“ anno 1996 über Kohls damaliges „Desaster in Sicht“: „Der Eingriff in die Lohnfortzahlung rüttelt am Selbstverständnis der Gewerkschaften. Kaum eine soziale Wohltat hatten sie sich mühseliger erkämpfen müssen als die Garantie, dass jeder krankgeschriebene Beschäftigte innerhalb der ersten sechs Wochen vom Arbeitgeber den vollen Lohn erhält. Die IG Metall stand dafür 1957 den längsten Arbeitskampf ihrer Geschichte durch, 16 Wochen.“