Mögen Sie Meeresfrüchte? Krabben, Garnelen und Krebse? Und falls ja: Was ist für Sie der Unterschied zu einer Heuschrecke, mal abgesehen davon, dass die einen Krabbeltiere im Wasser leben und die anderen an Land? Vieles spricht dafür, dass das, was man mag oder nicht mag, gelernt ist. Während etwa "dickarschige Ameisen" (Hormigas Culonas) in Kolumbien als Aphrodisiakum gelten und frittierte Zikaden in Japan als Delikatesse, stößt derlei Getier bei uns eher auf Würgereiz denn auf Appetit.
Aber: Was ist beispielsweise der Unterschied zwischen einem Hummer und einer Heuschrecke? Beide haben einen harten Panzer, Fühler und für uns Menschen gefühlt viel zu viele Beine. Doch wird der Hummer als teure Delikatesse gehandelt und die Heuschrecke im Westen als Nahrungsmittel noch mit großer Skepsis und einiger Sensationsgier betrachtet. Das war nicht immer so. Früher galten Hummer an der Ostküste Amerikas etwa als Arme-Leute-Essen – weil es viele davon gab. Heute sind sie knapper und ein kulinarisches Statussymbol. Pech für den Hummer, und ein gutes Beispiel einerseits dafür, was der Soziologe Pierre Bourdieu einst als die feinen Unterschiede bezeichnet hat – soziale Praktiken, mittels derer sich die Reichen von den Armen abgrenzen, um ihren gesellschaftlichen Status zu verdeutlichen. Und der Hummer ist andererseits ein gutes Beispiel dafür, dass Menschen im Prinzip alles essen, wenn sie sich daran gewöhnen und es in ihrer Kultur als normal gilt.
Insekten standen auf dem Speiseplan unserer Vorfahren
Menschen sind von der Anlage her Omnivoren. Dafür sind unser Gebiss und unser Verdauungssystem gemacht. Wir fressen seit Urzeiten fast alles, was bei Drei nicht auf dem Baum ist. Hauptsache, es gibt Kalorien, ist eingermaßen verdaulich und nicht giftig. Diese unsere Gene und Instinkte werden heute knallhart von der Nahrungsmittelindustrie bedient, mit süßen, salzigen, fettigen, proteinreichen und gerne auch bunten Snacks. Die im Übrigen unser Körpersystem vielleicht auch deswegen so mag, weil sie an Insekten erinnern – so zumindest eine gängige Theorie dazu. Kartoffelchips, Erdnussflips oder Gummibärchen appellieren demnach an unsere Urtriebe. Früher waren es, so heißt es, waren es statt Chips halt Insekten in ihren mannigfaltigen Formen und Farben, die mit einem angenehmen Crunch im Mund verschwanden und wertvolle Nahrungsmittel waren.
Weltbevölkerung wächst, Ressourcen schrumpfen
„Schleimig, jedoch vitaminreich“ – unter diesem Motto verputzten als Trickfilmfiguren das Erdmännchen Timon und das Warzenschwein Pumba im Disney-Klassiker „Der König der Löwen“ allerhand Würmer, Maden und Krabbelgetier. Löwenjunge Simba ekelt sich in dem Film anfangs noch vor der ungewohnten Speise, haut später aber mit ordentlich Appetit rein und wächst zu einem starken Löwen heran. Könnte es uns so ähnlich gehen? Geröstete Wespen statt Chips, Würmer-Burger statt Hackfleisch-Patties - essbare Insekten werden zunehmend als vielversprechende Innovation im Lebensmittelsektor gesehen. Mit wachsender Weltbevölkerung und durch die Klimakrise knapper werdender Ressourcen könnte es nötig werden, unseren Speiseplan zu erweitern. Und statt ressourcenfressender Rinder, die dazu noch haufenweise Methan in die Atmosphäre pupsen, zum Beispiel Heuschrecken zu züchten. Früher hat man eh alles Mögliche gegessen. Igel im Lehmmantel, „Dachhasen“ (Katzen), Biber und mehr. Je nachdem, wie groß die Not, der Hunger und die Neugierde waren, kam eine große Vielfalt von allem, was da kreucht und fleucht, auf den Tisch.
Insekten: bis zu 61 Prozent Protein
Schon lange finden wir das eklig. Wir haben es uns abtrainiert. Unser Essen stammt nicht mehr aus Feld, Wald und Wiesen, sondern aus dem Supermarkt, schön verpackt, mit fröhlich lächelnden Schweinen drauf, die den Horror der Fleischfabriken nicht erahnen lassen, in denen massenweise geschlachtet und zerteilt wird. Für Insekten spricht einiges. Nur nicht ihr Aussehen. Aber sie könnten eine Lösung sein, zumindest als Ernährungsergänzung. Laut dem Bundesinstitut für Risikobewertung, kurz BfR, kann sich nur jeder zehnte Deutsche (der noch keine Insekten gegessen hat) vorstellen, diese in seinen Speiseplan aufzunehmen. Nur zehn Prozent haben sie bisher probiert, 30 Prozent würden sie probieren und 60 Prozent lehnen dies vor allem aus Ekel ab.
Dabei sind mehr als 2.100 Insektenarten für den Menschen essbar. Regionale Delikatessen sind beispielsweise gekochte Wespenlarven in Japan, geröstete Heuschrecken in Nigeria oder gekochte Ameisenlarven mit Knoblauch in Mexiko. Die Tiere sind sehr nahrhaft, enthalten zwischen 35 und 61 Prozent Protein. Wesentlich mehr also Rind, Schwein oder Geflügel, in denen 20 bis 25 Prozent Protein steckt. Speiseinsekten haben vor allem für Sportler einen besonderen Mehrwert. Werden Insekten gefriergetrocknet, erhöht sich deren Proteinanteil. So haben Mehlwürmer gefriergetrocknet einen Proteinanteil von 50,9 Prozent statt 18,7 Prozent frisch. Deshalb werden gefriergetrocknete Insekten als Pulver vielen Riegeln zugesetzt. Zum Vergleich: Frisches Rindfleisch hat 22,3 Prozent, Schweine- und Hühnerfleisch 22,8 Prozent Eiweiß. Zudem sind Insekten eine gute Quelle für Omega-3-Fettsäuren, B-Vitamine und andere wichtige Mineralstoffe. Insekten stehen für etwa zwei Milliarden Menschen weltweit auf dem Speiseplan. Und sind mittlerweile auch in der EU als Nahrungsmittel erlaubt.
Welche Insekten zählen in Europa als Nahrungsmittel?
Seit 2018 gilt in Bezug auf essbare Insekten eine einheitliche EU-Verordnung, nach der diese als neuartige Lebensmittel aufgefasst werden. Mit der Verordnung wird geregelt, wie aus Insekten hergestellte Produkte in den Handel gebracht. Bisher wurden Zulassungsanträge gestellt für:
- Europäische Wanderheuschrecke (Locusta migratoria)
- Larven des Mehlkäfers, Mehlwürmer (Tenebrio molitor)
- Heimchen, Hausgrille (Acheta domesticus)
- Larve des Glänzendschwarzen Getreideschimmelkäfers, Bufallowurm (Alphitobius diaperinus)
- Tropische Hausgrille (Gryllodes sigillatus)
- männliche Larve der Honigbiene, Honigbienendrohnenbrut (Apis mellifera)
- Larve der schwarzen Soldatenfliege (Hermetia illucens)
Davon zugelassen als Lebensmittel in der EU wurden bislang:
- Mehlwurm: gefrorene, getrocknete oder pulverförmige Larven des Mehlkäfers. Erste Zulassung war im Mai 2021.
- Wanderheuschrecke: gefroren, getrocknet oder in Pulverform. Erste Zulassung im November 2021
- Heimchen, Hausgrille: gefroren, getrocknet, pulverförmig (erste Zulassung im März 2022) sowie teilweise entfettetes Pulver (Zulassung im Januar 2023).
- Buffalowurm: gefrorene, pastenartige, getrocknete oder pulverisierte Larven des Getreideschimmelkäfers. Erste Zulassung im Januar 2023.
Lebensmittel, die Insekten enthalten, müssen dies in ihrer Zutatenliste klar und verständlich kennzeichnen. Neben ihrem lateinischen Namen muss ebenfalls der deutsche Name gelistet sein, etwa Grillen (Heimchen - Acheta domesticus). Zusätzlich muss angegeben werden, in welcher Form das Insekt verwendet wurde, zum Beispiel Pulver oder Paste. Durch die Kennzeichnungspflicht ist ausgeschlossen, dass essbare Insekten unbemerkt in Lebensmittel gemischt werden. Für alle im Rahmen der Novel-Food-Verordnung zugelassenen Insekten sind zudem Maßnahmen zur Allergenkennzeichnung und Keimreduktion vorgeschrieben.
Insekten schonen Ressourcen
„Du isst meinem Essen das Essen weg“, scherzen Liebhaber eines gepflegten Steaks gerne mehr im Umgang mit Vegetariern. 68,6 Kilogramm Fleisch verzehrt ein Bürger eines entwickelten Landes im Jahr durchschnittlich, weltweit werden jährlich 320 Millionen Tonnen Fleisch konsumiert. Was ist besser? Tiere essen oder Pflanzen essen? Betrachtet man es rein technisch, mit Blick auf den Ressourcenverbrauch, und nicht moralisch, mit Blick auf das Tierleid, dann gewinnt die pflanzliche Ernährung. Die Kartoffel wächst von selbst, mit ein bisschen Dünger, mit Einsatz von Arbeitskraft. Sie wird geerntet, muss noch gekocht werden, auch hierfür wird Energie fällig. Aber im Vergleich zum saftigen Rib-Eye-Steak vom Rind ist sie weitaus effizienter im Verbrauch von Ressourcen und damit unterm Strich auch von Energie. Und in der Mitte, zwischen Fleisch und Pflanzen? Da krabbeln die Insekten herum - jedenfalls was den Ressourcenverbrauch angeht.
Der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) zufolge werden 14,5 Prozent der weltweiten Treibhausgase auf Nutztiere zurück. Anders ist das bei Insekten. Für die Produktion von 100 Gramm eines verzehrfertigen insektenbasierten Produkts fallen einem Bericht des Umweltbundesamtes aus dem Jahr 2019 zufolge 0,15 Kilogramm CO2-Äquivalente an. Das sind dreimal weniger als bei derselben Menge Geflügelfleisch und 20 mal weniger als bei Rindfleisch. Außerdem benötigen Insekten weniger Platz und Futtermittel als andere Nutztiere. Sogar im Vergleich mit Pflanzen: Der Platzbedarf bei der Insektenzucht ist wesentlich geringer als der bei Sojapflanzen. Fast 97 Prozent Ackerfläche pro erzeugtem Kilogramm Protein liesse sich einsparen, wenn man Soja durch Insekten ersetzen würde. Auch der Wasserverbrauch würde sich stark verringern: Rund zehn Liter Wasser benötigt die Produktion eines Kilogramms Soja. Ein Kilo Insekten benötigt nur einen Liter Wasser.
Tierschutz für Insekten?
Ein Tierschutzgesetz für Insekten gibt es noch nicht. Und bisher auch nur wenige Vorschriften, wie die Insekten gehalten werden müssen. Für die Tötung der Tiere gibt es aber eine Vorgabe: Sie muss mittels Temperaturschock erfolgen. Das kommt dem Tod in der Natur am nächsten. In der Insektenfarm von Madebymade sterben die Larven in etwas unter zehn Minuten in einem großen Ofen bei etwa 100 Grad Celsius. Laut derzeitigem Forschungsstand haben Insekten ein anderes Schmerz- oder Leidempfinden als Säugetiere. Ob das, was im Nervensystem von Insekten passiert, mit dem menschlichen Verständnis von Schmerz vergleichbar ist, lässt sich derzeit aber noch nicht beantworten, daran wird aktuell noch geforscht.
Insekten essen: gesundheitliche Risiken?
Von Insekten gehen kaum gesundheitliche Risiken für den Menschen aus. Parasiten seien in geschlossenen Zuchtstationen nicht üblich, heißt es von der Verbraucherzentrale Hamburg. Demnach seien auch Zoonosen unwahrscheinlich, wobei noch relativ wenig über Insekten-Krankheiten bekannt sei. Nur, wer gegen Meeresfrüchte, Schalentiere und Hausstaubmilben allergisch ist, sollte die kleinen Tiere nicht essen. Außerdem ist wichtig, dass Insekten nicht roh gegessen werden. Vor dem Verzehr müssen sie erhitzt werden, um alle Bakterien abzutöten. In der Regel geschieht das schon in der Verarbeitung. Ist das nicht der Fall, muss es einen entsprechenden Hinweis auf der Verpackung geben. Speiseinsekten, die im deutschen Lebensmittelhandel angeboten werden, stammen ausschließlich aus kontrollierter Aufzucht. Verbraucher müssen also nicht befürchten, dass wild gefangene Heuschrecken aus Afrika verwendet werden, wo sie zum Teil als Plage auftreten und im Überfluss vorhanden sind, heißt es bei der Verbraucherzentrale NRW. Solche Insekten würden die hier geltenden Hygienevorschriften und rechtlichen Anforderungen nicht erfüllen. Dass diese Grundsätze eingehalten werden, dafür sind die Produzenten verantwortlich.
Die Verbraucherzentrale NRW fordert:
- Insekten oder Bestandteile von Insekten müssen generell als Allergen in der Zutatenliste deutlich hervorgehoben werden. Die vorgeschriebene Allergenkennzeichnung sollte schnellstmöglich erweitert werden.
- Ausführliche, unabhängige Studien zu gesundheitlichen Aspekten, Hygiene und Krankheiten, Umweltfaktoren und Tierschutz sind erforderlich.
- Die Hygienevorschriften für die Produktion und die Fütterung sollten für Insekten verbindlich gemacht werden. Insbesondere hinsichtlich möglicher Rückstände wie Antibiotika oder Hormonen sollten die Tiere genau untersucht und die Ergebnisse transparent gemacht werden.
- Die Verbraucherzentralen fordern Hersteller auf, das Keimabtötungsverfahren zu kennzeichnen und gegebenenfalls auf ein notwendiges Erhitzen vor dem Verzehr hinzuweisen.
Müssen wir also bald alle Insekten essen?
In absehbarer Zukunft nicht, nein. Aber vielleicht wäre es schlau, sie mehr in unseren Speiseplan zu integrieren. Insektenfarmen gibt es mittlerweile in vielen Ländern, zum Beispiel in den Niederlanden, Spanien, aber auch in Deutschland. Die Herkunft der Insekten muss allerdings nicht auf dem Produkt gekennzeichnet sein. Noch sind Insekten als Nahrungsmittel absolute Exoten in Deutschland und Europa. Aber wird das so bleiben? Anders gefragt: können wir uns das in zwanzig Jahren noch leisten?
In der Not frisst der Teufel Fliegen. Wortwörtlich.