Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht sich entgegen der Meinung vieler Unionspolitiker für eine Reform der Schuldenbremse aus, um Investitionen zu ermöglichen. "Die Grundidee der Schuldenbremse bleibt angesichts der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen richtig", erklärt die 70-jährige CDU-Politikerin in ihren Memoiren, die sie kürzlich in Berlin präsentierte. "Jedoch müssen wir die Schuldenbremse anpassen, um Verteilungskämpfe zu verhindern und den demografischen Wandel zu bewältigen. Nur so können zusätzliche Schulden für zukunftsgerichtete Investitionen zugelassen werden."
Deutschland müsse zudem "akzeptieren, dass unvermeidbare hohe Verteidigungsausgaben Konflikte mit anderen Politikbereichen hervorrufen", mahnt Merkel. Es sei klar, dass ein Verteidigungshaushalt von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht genüge. Für den Erhalt des Wohlstands sei zudem notwendig, mindestens 3,5 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung zu investieren. Zusätzlich erforderten Entwicklungszusammenarbeit und die Umstellung auf eine klimaneutrale Gesellschaft bis 2045 erhebliche finanzielle Mittel.
Die seit 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse beschränkt Bund und Länder stark in ihrer Kreditaufnahme. Während die Länder keinerlei neue Schulden machen dürfen, darf der Bund maximal 0,35 Prozent des BIP als Nettokredit aufnehmen. Ausnahmen gelten nur in bestimmten Notlagen.
Wie die Union auf Merkels Schuldenbremse-Position reagiert
Kurz vor der Bundestagswahl am 23. Februar dürfte Merkels Forderung für die Union heikel sein, da CDU/CSU traditionell auf die Einhaltung der Schuldenbremse bestehen. CDU-Chef und Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz hatte jedoch jüngst eingeräumt, dass die Schuldenbremse ein technisches Thema sei, das natürlich reformiert werden könne – die entscheidende Frage sei, zu welchem Zweck. Offen zeigte er sich für eine Reform, wenn diese etwa Fortschritt, Investitionen oder den Bedürfnissen der jungen Generation diene.
Präsentation der Memoiren im Deutschen Theater
Merkel stellte ihre Memoiren, die sie gemeinsam mit ihrer langjährigen Vertrauten Beate Baumann unter dem Titel "Freiheit. Erinnerungen 1954–2021" verfasst hat, im Deutschen Theater in Berlin vor. Die Veranstaltung moderierte die Journalistin Anne Will. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch beschreibt das über 740 Seiten starke Buch als "einzigartigen Einblick in das Innere der Macht".
Einblicke hinter die Kulissen der Macht
Anders als während ihrer 16-jährigen Amtszeit gewährt Merkel in ihrem Buch gelegentlich Einblicke in die Mechanismen der Politik. Spektakuläre Enthüllungen fehlen jedoch, ebenso wie Zugeständnisse gravierender Fehler in Bereichen, in denen sie Kritik erfahren hatte.
Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sagte Merkel, sie sehe keine ihrer Entscheidungen während der verschiedenen Krisen ihrer Amtszeit als eindeutig fehlerhaft an. Sie nehme Kritik etwa an ihrer Russland-, Flüchtlings-, Corona- und Digitalisierungspolitik wahr, halte aber an ihren Entscheidungen fest: "Ich mache keinen Rückzieher." Es stimme sie nachdenklich, dass es oft an der Bereitschaft fehle, die damaligen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen.
Wichtige Passagen der Merkel-Memoiren:
Umgang mit der AfD
Merkel mahnt: "Wenn demokratische Parteien glauben, die AfD kleinhalten zu können, indem sie deren Themen rhetorisch übertrumpfen, ohne Lösungen anzubieten, werden sie scheitern." Erfolg liege in parteiübergreifender Kooperation mit substanziellen Antworten, die von den Bürgern als aufrichtig wahrgenommen werden. Diese Haltung gelte besonders für die Flüchtlingspolitik.
"Wir schaffen das"
Merkels Satz "Wir schaffen das", geprägt 2015 während der Flüchtlingskrise, bleibt eines ihrer bekanntesten Zitate. Sie reflektiert: "Hätte mir damals jemand gesagt, dass mir diese drei Worte jahrelang vorgehalten würden, hätte ich erstaunt gefragt: Wie bitte?" Auch die weitreichende Wirkung eines Selfies mit einem syrischen Flüchtling sei ihr damals nicht bewusst gewesen.
Merkel betont, dass Europa seine Außengrenzen schützen müsse. Gleichzeitig dürften drastische Maßnahmen nicht dazu führen, dass Deutschland und Europa für Migranten unattraktiv würden. "Der Wohlstand und die Rechtsstaatlichkeit machen uns immer zu Sehnsuchtszielen", warnt Merkel. Nur durch den Kampf gegen Schlepper und legale Migrationswege könne eine nachhaltige Lösung gefunden werden.
Umgang mit Corona
Merkel verteidigt ihre Corona-Politik, einschließlich der Kontaktbeschränkungen. "Die Alternative wäre ein Kollaps des Gesundheitssystems gewesen." Als belastend empfand sie Diskussionen, die den Wert menschlichen Lebens relativierten. Sie kritisierte zudem den politischen Umgang mit Wissenschaft: "Es machte mich wütend, wenn Wissenschaftler wie Schulkinder behandelt wurden."
Zwei-Prozent-Ziel für Verteidigung
Merkel räumt ein, dass sie das Zwei-Prozent-Ziel der NATO für Verteidigungsausgaben nicht energisch beworben habe. Kritiken aus SPD, Grünen und FDP, die Union habe die Verteidigung vernachlässigt, weist sie jedoch zurück: "Es war die SPD, die sich stets gegen höhere Verteidigungsausgaben gesträubt hat."
Aussetzen der Wehrpflicht
Das Aussetzen der Wehrpflicht war für Merkel ein Kompromiss, um zwei Milliarden Euro im Verteidigungsetat einzusparen. Der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg bestand darauf, die Wehrpflicht dafür aufzugeben.
Putin und die Ukraine
Mit Blick auf Wladimir Putin sieht Merkel eine schrittweise Entfremdung Russlands vom Westen. Sie verteidigt ihren Ansatz, den Dialog mit Putin aufrechtzuerhalten, bis hin zum Minsk-Abkommen von 2015. Der russische Angriff auf die Ukraine sei durch Corona und virtuelle Treffen zusätzlich erschwert worden.
Merkel betont die Bedeutung diplomatischer Lösungen: Abschreckung müsse von Dialogbereitschaft begleitet werden. "Wann der richtige Moment für diplomatische Initiativen gekommen ist, können Unterstützer und Ukraine nur gemeinsam entscheiden."