Anne Will ist auch wieder mit von der Partie. Nicht in der ARD, diesmal auf der Bühne des ausverkauften Deutschen Theaters in Berlin. Merkel und Will und ein neugieriges Publikum. Was wird sie in den Merkel-Memoiren verraten? Wahrscheinlich nicht viel, die Erwartungen des politischen Berlins halten sich in Grenzen. Wenig später trifft die Ex-Kanzlerin bereits zum Spitzengespräch in Washington ein. Zusammen mit US-Präsident Barack Obama werden sich beide über Ereignisse und Erinnerungen aus dem Buch der Ex-Kanzlerin austauschen. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten verraten, was in den Merkel-Memoiren drinsteht und ob es sich zu kaufen wirklich lohnt. Nicht jeder wird von den Zeilen über ihre Vita und Visionen sowie Verirrungen begeistert sein.
Merkel-Memoiren: Freiheiten (und Frechheiten), die sich die Ex-Kanzlerin in ihren Memoiren rausnimmt
Freilich kommt sie zur Unzeit, wenn man die versammelten Kanzlerkandidaten in Deutschland fragt. Die Rede ist von Angela Merkel, die über die Festtage die Schlagzeilen bestimmen wird – mit ihrem seit langem erwarteten Buch. Auf Deutsch erscheint der Wälzer unter dem Titel „Freiheit“ und kostet stolze 42 Euro. In den USA werden die Memoiren Angela Merkels sinnigerweise mit dem Wort „Freedom“ beworben – völlig korrekt und dennoch total irreführend. Am 2. Dezember wird es die Ex-Kanzlerin mit ihrem amerikanischen Freund Barack Obama in Washington vorstellen und ganz Amerika wird sich wundern. „Freedom“, das ist doch der Kampfbegriff Donald Trumps und vor allem von seinem designierten Vize J.D. Vance.
Gut möglich, dass er gerade wegen Angela Merkels Politik Deutschland hasst und daraus auch keinen Hehl macht. Merkel also in der „Höhle der Löwen“. Als das terminiert wurde, haben im Verlagshaus Kiepenheuer & Witsch vermutlich alle noch vom Sieg der Vize-Präsidentin Kamala Harris geträumt. Man darf gespannt ein, wie das White House Press Corps, also die Reporter und Polit-Kolumnisten in der US-Hauptstadt, auf die Merkel-Memoiren reagieren.
In der deutschen Hauptstadt wird man sich bereits am 26. November das Maul zerreißen, wenn Angela Merkel im Deutschen Theater mit „Freiheit“ die Bühne betritt und ins politische Rampenlicht zurückdrängt. Denn jetzt, wo die Öffentlichkeit endlich begriffen hat, was die Grand Dame der deutschen Politik in Wirklichkeit für ein Scherbengericht hinterlassen hat nach 16 Jahren im Kanzleramt, fällt es schwer ihre Rechtfertigungen und Schönschreibungen zu lesen oder auch zu hören. Danach sind noch zwei Lesungen in Stralsund am 29. November und am 16. Dezember in Köln angesetzt - allerdings schon seit Wochen ausverkauft.
Sprachgewalt im Merkel-Buch: Schauspielerin Harfouch als Stimme Merkels im Hörbuch
Da nützt auch die Sprachgewalt einer Schauspielerin wie Corinna Harfouch nichts, die die Audio-Ausgabe als Stimme Angela Merkels eingespielt hat für den Argon-Verlag. Harfouch sieht es als ihre Aufgabe an, auch in unbequeme Rollen zu schlüpfen. Wir erinnern uns als Harfouch im Theaterstück „Die Präsidentin“ – wo es, wie jeder weiß, um die rechtsextreme französische Politikerin des Rassemblement National (früher Front National), Marine Le Pen, geht.
Bis zum 26. November ist womöglich noch nicht einmal geklärt, wer nun wirklich die SPD in die kommende Bundestagswahl führen wird – Olaf Scholz oder doch Boris Pistorius. Der Kanzler hat bis dahin noch nicht einmal die Vertrauensfrage gestellt, geschweige denn, wurde sie von der Ampel oder trick- und fintenreich auch von der AfD beantwortet.
Trotzdem bekommt die Neuorientierung und Findungsphase bis zum antizipierten Wahltag am 23. Februar unweigerlich einen scharfen Merkel-Drall. Denn prompt, werden die Journalisten Angela Merkel auch noch um Rat und Tat fragen, obwohl nostalgische Gefühle in der aktuellen wirtschaftlich wie politischen Krise Deutschlands das letzte sind, was wir brauchen zu Weihnachten am Gabentisch. Wobei die Meinungsforscher von YouGov bereits herausgefunden haben, dass gut ein Viertel aller Deutschen das Merkel-Buch interessiert und sie es vermutlich kaufen werden. Ob sie es tatsächlich selbst lesen möchten, ist eine andere Frage. Sie glauben jedenfalls, Eltern oder gar Großeltern damit beschenken zu wollen. Weil die doch immer von der guten alten Zeit sprechen, als die Zeit in Mitteleuropa in Folge des Kalten Krieges noch eingefroren war. Zumindest Putin im Kreml noch in Schockstarre ausharrte, bevor er Prigoschins Vorschlaghammer herausholte und in der Ukraine gewissermaßen die eigenen Familienmitglieder aus dem alten Sowjetreich der UdSSR angriff.
Was Angela Merkel über Schröder, Schulz, Steinmeier, Steinbrück zu sagen hat – und über Merz
Friedrich Merz hatte unlängst erst einen Burgfrieden mit Angela Merkel geschlossen – zum 70. Geburtstag. Der CDU-Parteichef, anno 2002 in einer Privatfehde von Merkel aus Ämtern und Funktionen verjagt, bleibt Merz ihr wohl ewig „in Abneigung verbunden“, wie es einst im Magazin „Cicero“ hieß. Doch sind seine Chancen, endlich selbst ins Berliner Kanzleramt einzuziehen, noch nie größer gewesen als jetzt, nachdem Olaf Scholz die Ampel in seine Einzelteile zerlegt hat. Das will sich der CDU-Kanzlerkandidat nun natürlich nicht durch irgendein Geschwätz im von Merkels „Chef-Tippse“, ihrer Büroleiterin Beate Baumann, (mit)verfassten Wälzer vermiesen lassen.
Wobei die Gefahr natürlich nicht klein ist, wenn geschichtliche Ereignisse, durch die rosarote Brille gefiltert, quasi zur Unzeit ventiliert und in den Merkel-Memoiren aufgearbeitet werden. Dreckige Wäsche zu waschen, ist nun einmal – sui generis – der inhärente Anspruch sowie Sinn und Zweck von Polit-Memoiren. Kiepenheuer & Witsch weiß das nur zu genau. Der Verlag lässt das Buch von Angela Merkel weltweit in über 3o Ländern von Brasilien über Japan und China bis nach Taiwan, die USA und auch Russland zeitgleich vertreiben – in Deutschland kostet das Buch der Altkanzlerin sage und schreibe 42 Euro.
„Nicht als Kanzlerin geboren“: Wie der Verlag die Merkel-Memoiren bewirbt
Wer als Verlagschef so einen dicken Fisch am Haken hat, lässt sich von Vorwürfen, beim Anglerlatein etwas zu dick aufgetragen zu haben, freilich nicht irritieren und ruft auf, was er in den Buchhandlungen kriegen kann.
Entsprechend heißt es im Pressetext des Merkel-Buchs: „16 Jahre trug Angela Merkel die Regierungsverantwortung für Deutschland, führte das Land durch zahlreiche Krisen und prägte mit ihrem Handeln und ihrer Haltung die deutsche und internationale Politik und Gesellschaft. Doch natürlich wurde Angela Merkel nicht als Kanzlerin geboren. In ihren gemeinsam mit ihrer langjährigen politischen Beraterin Beate Baumann verfassten Erinnerungen schaut sie zurück auf ihr Leben in zwei deutschen Staaten – 35 Jahre in der DDR, 35 Jahre im wiedervereinigten Deutschland. Persönlich wie nie zuvor erzählt sie von ihrer Kindheit, Jugend und ihrem Studium in der DDR und dem dramatischen Jahr 1989, in dem die Mauer fiel und ihr politisches Leben begann. Sie lässt uns teilhaben an ihren Treffen und Gesprächen mit den Mächtigsten der Welt und erhellt anhand bedeutender nationaler, europäischer und internationaler Wendepunkte anschaulich und präzise, wie Entscheidungen getroffen wurden, die unsere Zeit prägen. Ihr Buch bietet einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht – und ist ein entschiedenes Plädoyer für die Freiheit.“
Dass die Merkel-Memoiren Freiheit im Dezember in die Top-Drei der meistverkauften deutschen Sachbücher vorstößt, gilt in Reihen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels als ausgemacht. Die Frage ist lediglich, ob Hape Kerkelng mit „Ich bin dann mal weg: Meine Reise auf dem Jakobsweg“ oder Peter Wohllebens „Das geheime Leben der Bäume“ auf dem Treppchen zu Silber und Bronze verdrängt werden. Und dann muss Merkel es auf dem Weg in den Polit-Olymp nur noch mit Mao, Marx und Engels aufnehmen und deren Welt-Bestsellern „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung“ und dem „Manifest der Kommunistischen Partei“. Die Merkel-Memoiren, das ist relativ klar, dürfte in deutschen Wohnzimmern und in den Medien rund um den Jahreswechsel die Debatten beherrschen.
Woran Merkel sich weniger präzise erinnert als an ihre DDR-Jugend - die Sache mit Nord Stream 2
Man darf jedenfalls gespannt sein, welche Spitzen und Aperçus Merkel setzt in ihren Erinnerungen. Über Gerhard Schröder, volltrunken und angriffslustig, in der Elefantenrunde. Die wenig schmeichelhafte Geschichte von Helmut Kohl und seinem Mädchen. Über den lauen Herausforderer Martin Schulz im Wahlkampf 2017. Wie Putin die Kanzlerin mit seinem großen Hund verängstigte. Und Trump partout nicht ihre Hand schütteln wollte. Wie sie sich mit Philipp Lahm in der Umkleide der deutschen Fußballnationalmannschaft gefühlt hat.
Noch aufschlussreicher wird sein, was in den Merkel-Memoiren ausgespart wird oder was die Ex-Bundeskanzlerin in Nebelkerzen verhüllt. Den Flüchtlingstreck anno 2015, als sie gute Miene zum bösen Spiel mimte und ihr freundliches Gesicht zeigte. Mit der geschichtlichen Wahrheit muss das nichts zu tun haben, sondern nur mit der persönlichen Wahrnehmung. Was ist es, was sie ihren Nachfolgern in der Regierung schon immer mal sagen wollte, über mangelnde Visionen, ihren Unwillen zu Reformen und ihren mangelnden Mut, Deutschland zu führen, statt nur zu verwalten. Die Frage ist nur, ob Sie die Merkel-Memoiren kaufen sollten, ob es sich wirklich lohnt. Oder ist es besser, nur die kondensierten Überschriften in den Nachrichten und Talkshows zur Kenntnis zu nehmen. Mit Überraschungen rechnet im politischen Berlin niemand, nur ärgerlich könnte es werden, für den einen oder anderen. Viel Spaß schon vorab bei „Druckfrisch“ mit Daniel Scheck, wenn Merkels Buch in der Tonne landet – oder auch nicht.
Angela Merkel mit Beate Baumann, „Freiheit“, Erinnerungen 1954 – 2021, Umfang ca. 700 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-462-00513-4, 42 Euro, Hörbuch im Argon-Verlag