Es waren die Monate der Wende, im Herbst 1989 und dann in den Folgemonaten des Einheitsjahres 1990, die Wolfgang Schäuble im Rückblick als die glücklichsten seiner so unendlich langen politischen Karriere bezeichnete: Als der frisch ernannte Bundesinnenminister Schäuble in enger und damals höchst vertrauensvoller Zusammenarbeit mit Bundeskanzler Helmut Kohl die Einheit „managte“ – Kohl als der Generalist, zuständig für das diplomatische Gelingen der Wiedervereinigung, stets bemüht, die Taue zwischen Moskau und Washington, zwischen Paris und London zusammenzuhalten und gleichzeitig sein Ur-Herzensanliegen, die europäische Integration, dabei nicht aus dem Auge zu verlieren. Und Schäuble, der Mann des Details, der innenpolitisch die Folgen einer Wiedervereinigung abzuwägen hatte. Die Folge: der Einheitsvertrag. Ein 900-Seiten-Werk, das Schäuble mit seinem DDR-Kollegen Günter Krause aushandelte und der, so gut es eben ging, versuchte, die Hinterlassenschaft einer maroden DDR in das neue, wiedervereinigte Deutschland zu überführen. Als dieser Vertrag dann an einem Freitagnachmittag am 31. Oktober 1990 im Kronprinzenpalais Unter den Linden in Berlin unterzeichnet wurde, netzten Tränen seine Augen. Am Ende stand die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 – und fast alle waren sich einig, dass, beinahe automatisch, demnächst Schäuble die Kanzlerschaft zufallen werde.
Das Attentat
Doch nur wenige Tage später, am 16. Oktober, durchkreuzte ein Geisteskranker alle Planungen. Bei einer Wahlveranstaltung in seiner badischen Heimat, nur wenige Kilometer von seinem Wohnort entfernt, trafen Schäuble die Pistolenkugeln einer Verwirrten. Tagelang kämpften Ärzte um sein Leben. Am Ende erholte sich Schäuble, querschnittsgelähmt und an den Rollstuhl gefesselt, sein Leben lang.
Doch kaum hatte er das Krankenbett verlassen, trat er wieder auf die politische Bühne. Und zwar mit einer Rede, die zu den Denkwürdigsten gehörte, die der Deutsche Bundestag in seiner Geschichte zu hören bekam. Es ging um die Hauptstadtfrage, über die der Bundestag, der damals noch in Bonn seinen Sitz hatte, zu entscheiden hatte. Bonn – unterstützt von nicht wenigen Bundestagabgeordneten – war der Meinung, dass frühere Verabredungen nicht galten und deshalb Bonn und nicht Berlin Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands werden sollte. In einer unglaublichen Kraftanstrengung fuhr ein sichtbar gezeichneter Wolfgang Schäuble mit seinem Rollstuhl an das Rednerpult und stellte mit wenigen Sätzen klar, worum es in dieser Stunde ging: So wichtig alle Fragen des Regionalproporz, wie bedeutsam die Fragen und die Städte Berlin und Bonn auch seien, so Schäuble, es gehe um Wichtigeres: „Es geht heute um Deutschland.“ Ein sichtbar gerührter Willy Brandt, ehemaliger Bundeskanzler, Außenminister und einstmals Regierender Bürgermeister von Berlin, reichte im Plenum Schäuble unter dem Jubel der Berlin-Anhänger die Hand. Berlin wurde deutsche Hauptstadt.
Wolfgang Schäuble wurde 1942 in Freiburg geboren. Badener war er – aber nicht nur. Seine Mutter war Württembergerin und Schäuble wurde evangelisch getauft. Ein Umstand, der für seine politische Vita nicht unbedeutend war. Der Jurist, Sohn eines Kommunalpolitikers, kam früh zur Politik und wurde schon 1972 Mitglied des Bundestages, dem er bis zu seinem Tode angehörte und damit der am längsten amtierende Abgeordnete der deutschen Parlamentsgeschichte auf nationaler Ebene seit der konstituierenden Sitzung des ersten gesamtdeutschen Parlaments am 18. Mai 1948 in der Paulskirche zu Frankfurt.
Das Verhältnis zu Helmut Kohl
Früh verband er sein politisches Schicksal mit Helmut Kohl, der bald darauf Bundesvorsitzender der CDU wurde. Der machte dann, als er nach einer knapp verlorenen Bundestagswahl 1976 Oppositionsführer im Bundestag wurde, Schäuble zu einem engen Vertrauten und 1981 zum Parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktion. In der Funktion blieb Schäuble auch als Kohl 1982 Bundeskanzler wurde. Fraktionsvorsitzender wurde zwar der Hesse Alfred Dregger, die Fraktion aber managte Schäuble. Seine unbestreitbaren Talente als Manager der Macht waren es, die Kohl bewog, ihn in die Machtzentrale zu berufen – als Chef des Bundeskanzleramtes. Im Nu schaffte Schäuble Ordnung im Kanzleramt, das zuvor erheblich ins Schlingern geraten war.
Es war die Zeit, in der sich Kohl und Schäuble mit ihren so verschiedenen Talenten auf das Vortrefflichste ergänzten: Dort, der instinktsichere Kohl, dessen Bauch ihm so oft schon das Richtige vorhersagte, bevor andere es mit dem Kopf erfassen konnten und dort Schäuble, der Maschinist des Apparates, der mit Juristenverstand fast jedes Problem auseinanderlegen und dann wieder zusammenführen konnte.
Helmut Kohl war für Schäubles Aufstieg unerlässlich. Schäuble wusste es – und Kohl auch. Und damit war letztlich auch der Keim gelegt, für das Zerwürfnis, das dann kommen sollte. Kohl, der zwar ahnte, dass er mit der Erlangung der staatlichen Einheit den Gipfel seiner politischen Karriere erklommen hatte, fiel der Abstieg sichtbar schwer. Er wusste auch nicht, ob Schäuble mit seiner Behinderung dem Kanzleramt physisch gewachsen war. Zudem wollte Kohl sein eigentliches Herzensanliegen, die Integration Europas, mit der Einführung einer Gemeinschaftswährung krönen.
Die Folge war: Die von Kohl so glänzend diplomatisch vollzogene Einheit, missriet ökonomisch zusehends. Kohl, der sich von den innenpolitischen Details der Innenpolitik verabschiedet hatte, ein Finanzminister Theo Waigel, der mit dem Management der Einheit überfordert war – am Ende klappte manches nicht. Schäuble, der zusehends ungeduldig wurde, zweifelte an Kohl immer mehr, dem das wiederum bald hintertragen wurde. Am Ende war Zwietracht, Misstrauen und gegenseitige Verletzung. Dieser Machtkampf brachte schließlich beide zu Fall brachte. Kohl, der darauf bestanden hatte, nochmals als Kanzlerkandidat der Union in die Bundestagswahl zu ziehen, verlor die Wahl 1998 krachend und verabschiedete sich beschmückt mit dem Titel eines „Ehrenvorsitzenden“ der CDU auf das Altenteil.
Schäuble wurde Chef der Unionsfraktion im Bundestag und Vorsitzender der CDU und machte eine gewisse Angela Merkel zur Generalsekretärin der CDU, was er noch mal bereuen sollte. Anfangs lief es glänzend. Die gerade eben in die Opposition geschickte CDU gewann mit Leichtigkeit Wahl für Wahl in den Ländern und Kommunen, weil die neue Bundesregierung unter Schröder und Fischer erkennbar handwerkliche Schwächen zeigte. Doch dann kam die Parteispendenaffäre hoch – und verschlang erst Kohl und dann Schäuble. Den Schlusspunkt setzte dann die Generalsekretärin. Angela Merkel, die fast immer politische Nützlichkeit über menschliche Loyalität stellte, entsorgte beide: Kohl wurde nun endgültig auf das Altenteil geschoben, diesmal ohne Ehrentitel. Und Schäuble verlor den Vorsitz von Partei und Fraktion.
Jahre der Pflicht
Als Merkel dann 2005 Kanzlerin wurde, wollte sie auf die fachlichen Fähigkeiten Schäubles nicht verzichten und machte ihn zum Bundesinnenminister, dann zum Bundesfinanzminister. Zwei Mal – 2004 und 2010 - hatte Schäuble versucht, nach den Sternen zu greifen und sich für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch bringen lassen (selbst bringt man sich nicht für solche Ämter ins Gespräch), beide Male scheiterte er letztlich an Merkel, die ihm die Unterstützung versagte.
In diesen Jahren verrichtete er – trotz nachlassender Gesundheit – seinen Dienst. Vieles, von dem was er sah, erfüllte ihn mit Sorge. Er sah als Finanzminister, wie der Euro, den er immer befürwortet hatte, sich durch politische Fehlentscheidungen, an denen Deutschland seinen Anteil hatte, zu einer instabilen Schwachwährung entwickelt hatte. Er sah die Folgen einer Einwanderungspolitik, an denen Deutschland heute noch leidet. Und er sah, nicht zuletzt in Folge dieser Fehlentwicklungen, den Aufstieg einer Partei, die er mit Ingrimm betrachtete. Am Ende bekleidete er das höchst würdige Amt des Bundestagspräsidenten.
Viel ist über Wolfgang Schäuble und seine geistig-philosophische Verankerung geschrieben worden, allzu oft wurde ihm dabei das Etikett eines Konservativen angeheftet. Doch das stimmt nur zu einem gewissen Teil – und zu einem anderen so gar nicht. Denn wie sein ehemaliger politischer Ziehvater Kohl hatte Schäuble die europäischen Belange und dabei besonders die Fragen des deutsch-französischen Verhältnisses immer über die deutschen nationalen Fragen gestellt. Zwar war er als Innenminister für die Durchsetzung von Recht und Ordnung verantwortlich, doch gegen die Merkelsche Einwanderungspolitik mit all ihren Folgen hat er nie ernsthaft Einspruch erhoben. Und in Wirtschafts- und Finanzfragen war Schäuble am Ende immer ein überzeugter Etatist, dem die Bedürfnisse des Staates immer näher waren als die der Bürger.