Politik

Putin versucht in Europa, was nicht einmal Stalin gelang

Europa steht vor einer sicherheitspolitischen Zäsur. Neue Enthüllungen über Washingtons Verhandlungen, interne Machtkämpfe in Kiew und Putins strategische Geduld zeigen, wie brüchig die europäische Sicherheitsarchitektur geworden ist. Der folgende Bericht ordnet die dramatischen Entwicklungen ein und erklärt, warum Europas Zukunft plötzlich ungewisser ist als je zuvor.
03.12.2025 08:26
Lesezeit: 5 min
Putin versucht in Europa, was nicht einmal Stalin gelang
Der EU bleiben knapp drei Wochen Zeit, um eine Entscheidung über die eingefrorenen Vermögenswerte zu fällen. (Foto: dpa) Foto: Michael Kappeler

Ein diplomatischer Wendepunkt

Es geht längst nicht mehr nur um die Ukraine. Europa sorgt sich, ob die USA im Ernstfall überhaupt noch NATO-Verbündeten zu Hilfe kommen würden. „Diese Woche kann in der Diplomatie ein Wendepunkt sein.“ Mit diesen Worten leitete die europäische Außenpolitikchefin Kaja Kallas ihren heutigen Arbeitstag ein. Die Gespräche mit den Amerikanern seien nach ihrer Einschätzung schwierig, aber erfolgreich gewesen. Dies ist eine klinische Zusammenfassung der vergangenen Woche, die sich kaum anders als eine völlige Katastrophe beschreiben lässt.

Wenn es bei Donald Trump bisher vor allem um die Frage ging, wie zynisch die Führungsmacht der freien Welt noch sein kann, dann war die vergangene Woche ein Sprung ins Unvorstellbare. Eine Bloomberg-Enthüllung zeigte schwarz auf weiß, wie der persönliche Berater des Präsidenten, Steve Witkoff, de facto zugunsten Russlands arbeitete. Die Folge ist ein Gedanke, der lange als undenkbar galt. Europa muss sich womöglich auf eine Welt vorbereiten, in der amerikanische Unterstützung nicht mehr garantiert ist. Vielleicht bleibt dieser Friedensplan nur ein kurzfristiger Schock, über den aufgrund von Trumps begrenzter Aufmerksamkeitsspanne rasch hinweggegangen wird. Doch wahrscheinlicher ist, dass der Apparat, der noch drei Jahre im Amt bleibt, nun erst beginnt, sein wahres Gesicht zu zeigen. Dazu unten mehr.

Die drei großen Geschichten der Woche

Was geschah sonst noch die letzten Tage? Ein Korruptionsskandal stürzte die Nummer zwei der Ukraine. Die in der vergangenen Woche öffentlich gewordene Korruptionsermittlung rund um das Energieunternehmen Enerhoatom, die bereits zum Rücktritt des Justiz- und des Energieministers geführt hatte, forderte am Freitag ihren bisher größten politischen Preis. Unter öffentlichem Druck trat Andrij Jermak, der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, zurück. Er gilt als umstrittener Strippenzieher, der weithin als einer der einflussreichsten Männer der Ukraine angesehen wurde. Laut ukrainischen Medien ist er über eine Luxusvilla direkt mit dem Korruptionsfall verbunden. Offizielle Vorwürfe wurden jedoch nicht erhoben. Vor seinem Rücktritt leitete Jermak auch die ukrainische Delegation bei den sogenannten Friedensplanverhandlungen. Seine wahrscheinliche Nachfolgerin ist die amtierende ukrainische Premierministerin Julija Swyrydenko. Die ausgebildete Ökonomin ist in der Ära Selenskyj rasch zu einer einflussreichen Entscheidungsträgerin aufgestiegen und genoss Jermaks Unterstützung. Gleichzeitig wird betont, dass sie sowohl mit der Europäischen Union als auch mit den USA ein gutes Arbeitsverhältnis pflegt.

Unterdessen bittet Netanjahu um Gnade. Der israelische Premierminister, der während der heißen Phase des Gaza-Krieges wiederholt beschuldigt wurde, den Krieg aus persönlichen Gründen verlängert zu haben, bat am Sonntag Präsident Yitzhak Herzog um Gnade. Der Premierminister bestreitet jede Schuld im laufenden Korruptionsverfahren. Er führt als Grund die Belastung durch seine Zeugenaussage an, die ihn in der Regierungsführung behindere. Die Opposition erklärt, eine Begnadigung komme nur in Frage, wenn der Angeklagte seine Schuld eingestehe, Reue zeige und sich anschließend aus der Politik zurückziehe. Auch US-Präsident Donald Trump drängt Berichten zufolge auf eine Begnadigung und bezeichnet den Prozess als politisch. Bei den in einem Jahr stattfindenden Wahlen würde Netanjahu laut aktuellen Umfragen seine Macht verlieren.

Und auch Trumps Venezuela-Pläne erleiden einen Rückschlag. Die Washington Post berichtete vergangene Woche, dass bei mutmaßlichen Anti-Drogen-Operationen in der Karibik möglicherweise Kriegsverbrechen begangen wurden. In einer von Verteidigungsminister Pete Hegseth geleiteten Operation sollen Soldaten den Befehl erhalten haben, „alle zu töten“. In einem Fall bedeutete dies, Überlebende des ersten Angriffs in einem zweiten Angriff gezielt zu beseitigen. Trump, der weiterhin suggeriert, die Tage des venezolanischen Diktators Nicolás Maduro seien gezählt, geriet wegen der Enthüllung auch im Kongress unter Druck. Er musste gegenüber der Presse einräumen, dass ein solcher zweiter Schlag nicht hätte genehmigt werden dürfen. Zugleich fordern ihn lateinamerikanische Wähler in Florida, dem Heimatstaat des Außenministers Marco Rubio und Standort seines Anwesens Mar-a-Lago, zu einer großangelegten Operation gegen Maduro auf. Anders als viele Wähler, insbesondere sogenannte MAGA-Republikaner, unterstützen sie klar den Sturz Maduros.

Und wer profitiert von dem Ganzen? Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI stiegen die Umsätze der weltweit größten Rüstungsunternehmen im vergangenen Jahr auf den Rekordwert von 679 Milliarden US-Dollar. Besonders stark wuchsen europäische Unternehmen wie die tschechische Czechoslovak Group, deren Umsatz um 193 Prozent zunahm. Auch die Rüstungsindustrien Japans, Südkoreas und Deutschlands legten im Durchschnitt um 30 bis 40 Prozent zu. Die chinesische Industrie verzeichnete dagegen einen Rückgang um 10 Prozent.

Die Frage der Woche: Wie geht es mit der Ukraine weiter?

„Weißt du, Juri, ich glaube, dass der Präsident mir sehr viel Raum und Entscheidungsfreiheit gibt, um diesen Deal durchzuziehen.“ So erklärte Steve Witkoff seinem Gesprächspartner im Kreml die Lage. Später äußerte sich Putins außenpolitischer Berater Juri Uschakow besorgt, die Amerikaner könnten sie täuschen. Sein Kollege Kirill Dmitrijew beruhigte ihn. Gemeinsam mit Steve würden sie alles reibungslos erledigen.

Der sogenannte Friedensplan für die Ukraine, der von Beginn an wie aus dem Russischen übersetzt und im Kreml verfasst wirkte, erreichte tatsächlich in unveränderter Form die ukrainische Seite. Das oben zitierte Gespräch fand Mitte Oktober statt und wurde am vergangenen Dienstagabend durch Bloomberg öffentlich. Einen Monat zuvor war der Plan erstmals über Axios öffentlich geworden. Der Plan und die folgenden anderthalb Wochen wilder Diplomatie haben bislang nur eines garantiert. Das Gespräch dreht sich nicht mehr ausschließlich um die Auslöschung der ukrainischen Souveränität.

Der Zeitpunkt war kein Zufall. Selenskyj steht wegen des Korruptionsskandals unter Druck. Paradoxerweise bedeutet dies jedoch, dass er Washingtons und Moskaus Forderungen unmöglich nachgeben kann. Dies bestätigte auch der Kreml. Moskau hielt es nie für realistisch, dass Kiew nachgeben würde. Und Putin plant ohnehin nicht, den Krieg einzufrieren.

Rufe, Europa müsse endlich aufwachen, waren während des gesamten Krieges zu hören. Doch erstmals wird klar, dass die amerikanische Sicherheitsgarantie nicht nur für die Ukraine zweifelhaft ist. Sie steht zunehmend auch für NATO-Mitgliedstaaten infrage. Die ursprüngliche Vereinbarung betraf in erheblichem Umfang die Staaten an der Ostflanke des Bündnisses. In Europa führte dies zur logischen, aber erschreckenden Erkenntnis. Nicht einmal Stalin konnte der NATO Bedingungen diktieren.

Trump ist in den USA noch nicht allmächtiger Herrscher, auch wenn er es gerne wäre. Er muss sich vor dem Kongress und natürlich vor den Wählern verantworten. Parteikollegen im Senat und im Repräsentantenhaus sind kritisch, wagen jedoch bislang keinen offenen Konflikt. Dies bedeutet nicht, dass sie im entscheidenden Moment schweigen würden. Auch die loyalsten Wähler werden kritischer. Allerdings vor allem in Bezug darauf, dass Trump sich überhaupt mit Kriegen beschäftige. Sie erwarten stattdessen große Deals mit starken Männern und innenpolitische Lösungen für Migration und Lebenshaltungskosten.

Europa hat begonnen aufzurüsten, aber sich bis heute nicht auf die wichtigste Entscheidung zur langfristigen Finanzierung der Ukraine geeinigt. Kiew soll Kredite erhalten, die durch eingefrorene Vermögenswerte der russischen Zentralbank abgesichert sind. Die späteren Reparationszahlungen Moskaus würden die Schulden tilgen.

Moskau hat immer größere Schwierigkeiten, seinen Bundeshaushalt auszugleichen. Dies gilt besonders, weil der Preis eines auf dem Weltmarkt verkauften Barrels Öl nicht einmal die Nullmarke sichert. Der Haushalt kann also nicht wachsen. Kreml-Analysten sind jedoch überzeugt, dass der Apparat anderthalb Jahre durchhält und Europa vorher auseinanderbricht. Für das global isolierte russische Finanzsystem bedeutet dies zwar Geldschöpfung über Geschäftsbanken. Unternehmen und Bürger haben die durch die Inflation entstandenen Belastungen jedoch bisher hingenommen.

Europa bleiben damit weniger als drei Wochen, um Belgien vor dem EU-Gipfel zu überzeugen und die eingefrorenen Vermögenswerte freizugeben. Gelingt dies in Brüssel nicht, muss Kiew ernsthaft prüfen, wie lange es weiterkämpfen kann. Und welche schmerzhaften Zugeständnisse nötig werden, wenn die Ukraine selbst ein Waffenstillstandsangebot an Moskau richten müsste.

Kreml, Trump und die Bruchstelle des Westens

Die Entwicklungen der vergangenen Woche rücken die grundlegende Schwäche des europäischen Sicherheitsmodells ins Zentrum. Während Russland seine Belastbarkeit testet und die USA unter Präsident Trump ihre internationale Rolle neu definieren, befindet sich Europa in einer gefährlichen Lücke zwischen militärischer Abhängigkeit und politischer Zögerlichkeit. Die Debatte um die Europäische Sicherheit verschärft sich weiter. Die nächsten Entscheidungen in Brüssel und Washington werden bestimmen, ob Europa in die strategische Handlungsfähigkeit findet oder in eine Phase struktureller Unsicherheit abrutscht.

Europa erlebt einen historischen Moment. Putins strategische Langzeitplanung, Trumps unberechenbarer außenpolitischer Kurs und die politische Instabilität in Kiew verdichten sich zu einer Lage, in der die Europäische Sicherheit erstmals seit Jahrzehnten nicht mehr verlässlich erscheint. Die kommenden Wochen entscheiden darüber, ob Europa als gestaltende Kraft bestehen bleibt oder ob andere für den Kontinent die Bedingungen setzen.

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Marius Vaitiekūnas

Zum Autor:

Marius Vaitiekūnas ist ein ausgewiesener Experte für Geopolitik und internationale Wirtschaftsverflechtungen. Geboren 1985 in Kaunas, Litauen, schreibt er als freier Autor regelmäßig für verschiedene europäische Medien über die geopolitischen Auswirkungen internationaler Konflikte, wirtschaftlicher Machtverschiebungen und sicherheitspolitischer Entwicklungen. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind die globale Energiepolitik und die sicherheitspolitischen Dynamiken im osteuropäischen Raum.

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