Während sich die internationale Aufmerksamkeit auf den Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China richtet, läuft in der EU eine stille, aber nicht weniger bedeutende Operation an.
So will Brüssel die unsichtbare Zollmauer einreißen – und den Finanzsektor revolutionieren
Die Portugiesin Maria Luís Albuquerque, Kommissarin mit Ambitionen, hat sich ein Ziel gesetzt, das kaum weniger Sprengkraft birgt als Trumps Zölle: Die Abschaffung inner-europäischer Handelshemmnisse im Finanzdienstleistungssektor – ein System, das laut IWF faktisch Zöllen von über 100 Prozent gleichkommt.
In einem Exklusivgespräch mit Di skizziert Albuquerque einen Plan, der nicht weniger vorsieht als die wirtschaftspolitische Neuausrichtung Europas. Der Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen, so ihre Analyse, ist de facto fragmentiert – und das koste Europa Wachstum, Innovation und Souveränität.
„Wenn wir über Freihandel sprechen, dann dürfen wir uns nicht auf Güter beschränken. Dienstleistungen sind das Rückgrat der modernen Wirtschaft – und genau hier versagt unser Binnenmarkt bislang“, sagt sie.
Spar- und Investitionsunion: Ein Gegenschlag gegen wirtschaftliche Selbstblockade
Mit ihrem Plan zur Spar- und Investitionsunion will Albuquerque nicht nur Kapital mobilisieren, sondern auch ein Signal gegen die wirtschaftliche Abschottung setzen, die sich zunehmend innerhalb der EU selbst zeigt. Ihr Modell: Schweden – ein Land, das mit seinen ISK-Konten Millionen Bürger zu Kleinanlegern gemacht hat.
„Wir wollen das schwedische Erfolgsmodell europaweit ausrollen“, sagt Albuquerque. „Unsere Bürger müssen zu Mitgestaltern des Wirtschaftsraums werden – nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Investoren.“
Allein auf Sparkonten liegen laut EU-Kommission derzeit über 110 Milliarden schwedische Kronen (rund 10 Milliarden Euro) brach – unproduktiv, inflationsgefährdet, wirtschaftlich ungenutzt.
Die Lösung? Steuerlich begünstigte Anlagekonten, verbunden mit Anreizen und Transparenz. Kein Zwang, keine Staatslenkung – sondern, wie sie betont, „finanzielle Eigenverantwortung mit europäischem Rahmen“.
Ein alter Plan in neuer Weltlage
Die Idee einer Kapitalmarktunion ist nicht neu – doch während sie 2015 noch an nationalen Egoismen scheiterte, glaubt Albuquerque nun an eine historische Gelegenheit. Die geopolitische Realität hat sich verschoben: Wirtschaftlicher Druck von außen, Unsicherheiten an den Rohstoffmärkten, eine aggressive Handelspolitik der USA und die Dominanz Chinas bei strategischen Technologien.
„Europa steht mit dem Rücken zur Wand. Der Luxus des Zögerns ist vorbei“, warnt die Kommissarin. „Wir haben jahrelang darüber diskutiert, jetzt müssen wir handeln – oder wir werden abgehängt.“
Europäische Finanzaufsicht: Weniger Fragmentierung, mehr Schlagkraft
Ein zentrales Element ihres Vorhabens ist die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Finanzmarktaufsicht. Bislang wehren sich die Mitgliedstaaten – zu groß sei die Angst vor Souveränitätsverlust. Doch in einer Ära von Kryptowährungen, globalem Kapitalfluss und Schattenbanken sei dieser Widerstand nicht mehr tragbar.
„Warum sollten wir in jedem Land einzeln um die wenigen Experten konkurrieren, die der Markt ohnehin kaum hergibt?“, fragt Albuquerque.
„Eine zentrale Aufsicht bringt Effizienz, Sicherheit und Verlässlichkeit.“ Der Plan ist ehrgeizig – und wird, wie sie offen einräumt, schmerzhafte Kompromisse erfordern. Doch sie stellt klar: Der Preis des Nichtstuns ist höher.
Das Ziel: Kapitalmobilisierung ohne Umverteilungsmaschinerie
Anders als frühere EU-Pläne, die auf großflächige Transfers setzten, sieht Albuquerques Vision vor allem eine Entfesselung privater Kräfte. Das Vertrauen der Bürger in Banken, Kapitalmärkte und staatliche Aufsicht soll gestärkt, nicht durch dirigistische Maßnahmen untergraben werden.
„Es ist das Geld der Menschen. Sie sollen selbst entscheiden, wo sie investieren – aber sie brauchen einen Rahmen, der das überhaupt erst ermöglicht“, betont sie.
Ein letzter Versuch, Europas wirtschaftliches Rückgrat zu stärken
Während die öffentliche Debatte oft von Klima, Migration und Verteidigung dominiert wird, richtet Albuquerque den Blick auf die wirtschaftlichen Fundamente des Kontinents. Der europäische Binnenmarkt sei in der Theorie vollendet, in der Praxis jedoch voller unsichtbarer Mauern – insbesondere im Dienstleistungs- und Finanzsektor.
„Wir sprechen oft von Solidarität. Doch die größte Form von Solidarität wäre, endlich Barrieren im Binnenmarkt zu beseitigen, die unser eigenes Wachstum lähmen“, so ihr eindringlicher Appell.
Wenn der Plan gelingt, könnte Maria Luís Albuquerque als die Frau in die Geschichte eingehen, die die unsichtbare Zollmauer der EU eingerissen hat. Gelingt es nicht, wird Europa weiter Kapital verlieren – an Bürokratie, politische Kleinstaaterei und die Konkurrenz aus Übersee.