Ein Vorstellungsgespräch wird zum Persönlichkeitstest von Top-Kandidaten – aber nicht im positiven Sinne
Von außen betrachtet wirkt der Arbeitsmarkt wie ein rationales Spielfeld: Unternehmen suchen qualifizierte Fachkräfte, Bewerber bringen ihre Erfahrung und ihr Können ein – die besten werden eingestellt. Doch hinter den Kulissen sieht die Realität oft ganz anders aus. Selbst hochqualifizierte Spezialisten und erfahrene Manager scheitern regelmäßig – nicht an fehlender Eignung, sondern an einem dysfunktionalen Auswahlprozess, der zunehmend von persönlichen Vorlieben, sozialer Konformität und fragwürdigen Methoden geprägt ist.
Personalverantwortliche geben offen zu: In vielen Unternehmen wird nicht nach einem strukturierten Anforderungsprofil gesucht, sondern nach dem „Gefühl“, das ein Kandidat hinterlässt. Das Resultat: Wer charismatisch auftritt, Small Talk beherrscht und im richtigen Moment lächelt, hat bessere Chancen als jemand mit analytischer Tiefe, aber zurückhaltendem Wesen. Fachliche Qualifikation? Sekundär. Kultur-Fit? Häufig ein Codewort für Gleichförmigkeit.
Noch gravierender: Viele Interviews verlaufen unstrukturiert, improvisiert oder werden auf Basis vager Idealbilder geführt, wie Experten berichten. Entscheider suchen nach jemandem, „der einem ehemaligen Mitarbeiter ähnelt“ oder „auf Anhieb sympathisch ist“. Was wie Anekdoten klingt, sind systematische Schwächen, die Unternehmen teuer zu stehen kommen.
Die Macht des Mittelmaßes – wenn Personaler auf Nummer sicher spielen
Ein weiteres Problem ist die Angst der Personalabteilung vor Fehlern. Statt mutige Entscheidungen zu treffen, wird lieber der „sichere“ Lebenslauf ausgewählt: langjährige Erfahrung, bekannte Stationen, keine Ecken und Kanten. So wird das Risiko minimiert – aber auch das Potenzial verschenkt. In einer Wirtschaft, die von Innovation und Anpassungsfähigkeit lebt, ist diese Absicherungstaktik fatal.
Nicht selten entscheidet das Ego: „Ich darf mir keinen Fehlgriff leisten“, heißt es dann. Die Folge: Ein Kandidat mit neuen Ideen wird aussortiert, ein erfahrener, aber innovationsfeindlicher Bewerber eingestellt – mit langfristig schädlichen Folgen.
Subjektivität als Systemfehler – und ein strukturelles Versagen
Die sogenannte Objektivität in Auswahlprozessen entpuppt sich häufig als Fassade. Selbst bei komplexen Positionen fehlt es an standardisierten Bewertungsrastern. Während in anderen Bereichen Unternehmen auf KPIs, Audits und Controlling setzen, werden bei der Einstellung von Schlüsselpersonen grundlegende Qualitätskriterien vernachlässigt.
Hinzu kommt ein gefährlicher Irrglaube: Der Personaler als „Verkäufer“ soll nicht nur Kandidaten vom Unternehmen überzeugen, sondern auch intern seine Auswahl „durchboxen“. Das Resultat: Eine schleichende Delegitimierung der Personalabteilung. Wenn diese nur noch zum ausführenden Organ degradiert wird, statt als strategischer Partner zu agieren, untergräbt das die Zukunftsfähigkeit des gesamten Unternehmens.
Die stille Krise der Personalstrategie – und was jetzt nötig wäre
Der Fachkräftemangel ist real – und er verschärft sich. Doch wenn Unternehmen selbst dann nicht in der Lage sind, die besten Talente zu erkennen oder ihnen eine Chance zu geben, liegt das Problem nicht auf dem Arbeitsmarkt, sondern im System selbst.
Was gebraucht wird, ist ein grundlegend anderer Ansatz: ein Auswahlverfahren, das auf klaren Kriterien basiert, das strukturiert und vergleichbar ist, das kulturelle Diversität fördert statt sie zu blockieren. Und nicht zuletzt: den Mut, Kandidaten mit Ecken, Kanten und echtem Potenzial über konforme Lebensläufe zu stellen.
Fazit
Dass selbst Top-Fachkräfte die Türen verschlossen bleiben, ist kein Zufall. Es ist das Resultat einer Kultur der Beliebigkeit, in der Bauchgefühl, Statusdenken und Sicherheitsdenken den Ausschlag geben. Der Preis ist hoch – für Bewerber, aber vor allem für Unternehmen, die so ihre besten Chancen verspielen.