Die Geschichte beginnt auf der kleinen grünen Insel Irland am Rande Europas. Das Land schien solide finanziert. Griechenland kränkelte schon lange und selbst Spanien oder Italien schienen der Krise viel näher als das kleine Irland, das sich vom Armenhaus Europas zum absoluten Boomland entwickelt zu haben schien. Irlands Staatshaushalt war bis 2007 ausgeglichen und in vielen Jahren im Überschuss, bis 2007 immer in weit besserer Verfassung als zum Beispiel der deutsche und natürlich erst recht der griechische. Auch die Brutto-Staatsverschuldung ging bis 2007 immer weiter bis auf 25 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung zurück, während die deutsche damals bei 65 Prozent, die griechische gar bei 96 Prozent lag. Die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung stieg über die kränkelnde deutsche.
Doch der bewunderte Boom wurde zum Unglück für das Land. Verantwortlich für das Strohfeuer war vor allem die EZB unter ihrem Präsidenten Trichet, weil sie mit einer bis 2006 real viel zu niedrigen Zinsrate, die sehr stark auf das kränkelnde Deutschland Rücksicht nahm, einen konjunkturellen Flächenbrand an der Europeripherie auslöste (Abb. 16412). Vor allem in Irland und Spanien kam es zu einem enormen Immobilienboom mit stark explodierenden Hauspreisen. Die allgemeinen Verbraucherpreise stiegen in den 6 Jahren bis 2008 in Irland um mehr als 18 Prozent, in Deutschland dagegen nur um 12 Prozent. Der Zentralbankzins war natürlich trotzdem der gleiche.
Der Boom wurde vor allem von deutschen Banken finanziert (neben den traditionell hier aktiven britischen, Abb. 16190). In Deutschland lief die Konjunktur nicht besonders gut. Die Nachfrage nach Krediten war schleppend und so waren die deutschen Banken besonders erpicht, die sich auftürmenden Mittel deutscher Sparer und erst recht ihre eigenen Gewinne nach Irland und Spanien zu tragen und dort höhere Renditen zu kassieren. Bis 2008 mehr als verdoppelten sie ihren Einsatz in Irland auf 241 Milliarden Euro, um sich dann mit Ausbruch der Krise fluchtartig zurückzuziehen (Abb. 16411).
Bezogen auf jeden privaten Haushalt in Irland hatten die ausländischen Banken insgesamt nicht weniger als astronomische 687.000 US-Dollar verliehen. Deutsche Banken hatten auf die kleine Insel mit gerade einmal 1,6 Millionen Haushalten mehr verwettet als auf das große Spanien, ein geradezu irrsinniger Pokereinsatz. Jedem Bankenvorstand in Deutschland hätte da Böses schwanen müssen. An der scheinbaren Bonanza war nicht zuletzt die in Dublin angesiedelte deutsche Depfra beteiligt, die seit 2007 Teil der HypoRealEstate war. Und was hatte sich die deutsche Bankenaufsicht dabei eigentlich gedacht?
Dann platzte diese Blase sehr plötzlich. Die irische Regierung erklärte zunächst - noch in Unkenntnis der wahren Verschuldung ihrer Banken - für diese einstehen zu wollen, um so die Märkte zu beruhigen. Die deutschen Banken begannen dennoch schlagartig, ihre Mittel abzuziehen. Aber viele ihrer Gelder hingen nun in irischen Pleitebanken, die einstweilen von der EZB und dem Eurosystem über Wasser gehalten wurden. Die irische Regierung begann nach besserer Kenntnis des gigantischen Ausmaßes der Schulden, für die sie mit dem heimischen Steuerzahler geradestehen sollte, an ihrer eigenen Bereitschaft zu zweifeln. Doch Bundesregierung und EZB wussten Rat und Hilfe.
2. Das Hilfsprogramm für Irland
Langsam, sehr langsam hebt sich der Vorhang vor einem der bittersten Geheimnisse der EZB, wenn nicht dem bittersten. Ein immer noch geheim gehaltener Brief des damaligen Präsidenten Trichet an den irischen Finanzminister Lenihan vom 7. November 2010 soll in sehr unhöflicher Form die Drohung enthalten, Irland aus dem Euro zu werfen, falls der irische Staat sich weigern sollte, die Schulden der irischen Pleitebanken weiter auf den irischen Steuerzahler zu übernehmen. Irland sollte einen Hilfskredit der EU zusammen mit dem IWF von 85 Milliarden Euro annehmen, der unter der Bedingung an den irischen Staat und damit den irischen Steuerzahler gewährt würde, dass das Geld in die Schulden dieser Pleitebanken versenkt würde.
Von dort sollte es an die Gläubigerbanken vor allem in Deutschland und Frankreich gehen, die hinter dieser Forderung der EZB standen, und natürlich an die EZB/Eurosystem, wobei sich die EZB inzwischen Sorgen um die vom Eurosystem in die irischen Banken gesteckten Gelder machte. Ohne die Annahme dieses Hilfskredits (bail-out) mit diesen Bedingungen und den harten Auflagen eines Austeritätsprogramms unter der Kontrolle der Troika aus EZB, EU-Kommission und IWF würde die EZB die Unterstützung der irischen Banken einstellen und somit die Reißleine ziehen.
Unter der Drohung des Rauswurfs aus dem Euro gerichtet ausgerechnet an das Land, das eben noch das Musterland europäischer Gesinnung gewesen war, knickte die irische Regierung ein. Gegen den zugesagten Hilfskredit wurden die enormen Schulden der Anglo-Irish Bank und anderer Pleitebanken von 64 Milliarden Euro voll von dem irischen Steuerzahler übernommen. Bei 1,6 Millionen privater Haushalte sind das im Durchschnitt immerhin 40.000 Euro für jeden davon. Diese enorme Belastung kommt noch auf die starke Verschuldung sehr vieler Haushalte, deren Immobilien durch die Krise enorm an Wert verloren haben, sowie die übrigen nicht geringen privaten und öffentlichen Schulden hinzu.
Die Folgen der Misere sind in Irland auch heute noch, dreieinhalb Jahre später, greifbar. Die sozialen Konflikte gewinnen an Schärfe. Die Pensionsfonds wurden geplündert, um Haushaltslöcher zu stopfen, soziale Leistungen gekürzt, Krankenhäuser geschlossen. Jede sechste Hypothek kann nicht mehr pünktlich gezahlt werden. Die Schlange für Sozialwohnungen verspricht Wartezeiten von zehn bis 15 Jahren. Nach acht drastischen Sparhaushalten ist der kommunale Bereich im Haushalt um 35 Prozent bis 40 Prozent geschrumpft. Wie in alten Zeiten wandern wieder junge und meist gut ausgebildete Menschen aus, weil sie zu Hause keine Chancen mehr sehen. Das kleine Irland ist jetzt noch vor dem Kosovo das Land mit der größten Netto-Auswanderung in Europa. Die Staatsverschuldung liegt inzwischen auf dem vierfachen Wert von vor der Krise. Es gibt ein profundes Gefühl der Ungerechtigkeit gegenüber EZB, EU und IWF, doch man fühlt sich denen gegenüber völlig machtlos.
Die Banken in Deutschland und Frankreich erhielten ihr Geld und kassieren weiter hohe Zinsen, soweit die Anleihen irischer Banken noch nicht ausgelaufen sind. Die irische Bevölkerung dagegen ächzt noch für viele Jahrzehnte unter hohen Schulden, wenn nicht noch Teile der Hilfskredite durch die Eurozone erlassen werden sollten, was jedoch vor allem Schäuble verhindert. Wer einen sehr guten Eindruck von der miesen Rolle der EZB zu Lasten der irischen Steuerzahler und Sozialleistungsempfänger gewinnen will, sollte sich die Diskussion mit dem EZB-Vertreter ansehen (am Ende des Artikels).
3. Das bitterste Geheimnis der EZB
EZB und die irische Regierung weigern sich trotz vieler Anfragen der irischen Medien, den schicksalsschweren Drohbrief vom 7. November 2010 zu veröffentlichen. Trichets Nachfolger Mario Draghi schrieb am 8. Februar 2012, die EZB müsse in einer Position sein, wichtige und vertrauliche Mitteilungen an europäische und nationale Autoritäten der Eurozone in einer Weise zu übermitteln, die sie für die im öffentlichen Interesse effektivste halte. Nach Ansicht der irischen Regierung würde die Veröffentlichung dieses Briefes ernsthafte negative Effekte auf Irlands Fähigkeit, seine Finanzen zu managen, haben.
Indessen hält der Druck in den irischen Medien auf Aufgabe der Geheimhaltung an. Das Parlament hat einen Untersuchungsausschuss eingesetzt und Trichet vorgeladen. Doch Trichet weigert sich, zu erscheinen. Seine Ablehnung sei durch die Regeln der EZB-Verfassung gedeckt. Alle Entscheidungen der EZB würden kollektiv getroffen und die Verantwortung diese Entscheidungen zu erklären, läge in den Händen der nationalen Gouverneure der EZB. Die Entscheidung sei seinerzeit allein von der irischen Regierung getroffen worden. Alle von der EZB damals versandten Briefe seien das Eigentum der irischen Regierung.
Das damals zuständige Troika-Mitglied des IWF Ashoka Mody hat sich inzwischen von der Betonung der Austerität distanziert und in Stellungnahmen angedeutet, dass der IWF die Gläubiger an der Regulierung der Schulden irischer Banken beteiligen wollte, so dass ein Teil der Schulden hätte abgeschrieben werden können und weit weniger Austerität nötig geworden wäre. Noch deutlicher ist Philippe Legrain, der seinerzeit als von Barroso persönlich angeheuerter Mitarbeiter den Kommissionspräsidenten beraten hat, in einem Interview vom 7. Mai 2014 geworden. Irland sei von der EU erpresst worden:
„Es war unerhört von Deutschland, der EU-Kommission und vor allem der EZB, Irland mit dem Rauswurf aus dem Euro zu bedrohen, wenn sich die Regierung nicht an die blödsinnige Garantie für die Banken gehalten hätte. Irlands Partner missbrauchten den verzweifelten Wunsch Irlands, im Euro zu bleiben. Ich verstehe, warum die irische Regierung tat, was sie tat, aber sie hätte widerstehen müssen. Die EZB hätte eingelenkt.“
In einem Buch aus diesem Jahr erweitert er den Vorwurf noch. Trichet und sein EZB-Kollege Bini Smaghi seien die Wortführer einer Kampagne für eine massive Austerität mit besonderer Anfangsschärfe gewesen. Sie hätten auch Griechenland den Ausschluss aus dem Euro angedroht, falls das Land seinen Verpflichtungen nicht nachkommen würde. Merkel und Sarkozy hätten die Schleusen für eine öffentliche Diskussion über Grexit (Ausschluss Griechenlands) geöffnet. Viele Monate lang hätten deutsche Politiker für den Ausschluss Griechenland plädiert, um ein Signal an andere Krisenländer zu senden, die sich noch der Austeritätspolitik aus Berlin und Brüssel widersetzten.
4. Fazit
Man darf nicht vergessen, dass die EZB vor allem die Bank der Banken ist, sich jedenfalls so versteht. Dabei ist die EZB offensichtlich, wie das Beispiel des kleinen Irlands zeigt, sogar bereit, zugunsten der Banken Millionen unbeteiligte Bürger ins Unglück zu stürzen. Die Beteiligung der Bankgläubiger an der Regulierung der Schulden („bail-in“ statt „bail-out“) kam allgemein erst wieder ins Spiel, als nicht mehr aus diesen unglücklichen Menschen herausgequetscht werden konnte und statt dessen in den reichen Ländern, wie Deutschland, zur Eurorettung die Steuern hätten erhöht werden müssen, was die Bevölkerungen vollends gegen den Euro aufgebracht hätte.
So ist das kleine Irland zu einem Lehrstück in fehlgeleitetem Finanzkapitalismus geworden. Die Banken als Gläubiger Irlands und die sie schützende Bundesregierung und EZB haben entsetzlich viele Menschenschicksale auf ihrem Gewissen.
Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.
Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.