Politik

Der Schwarze Block will marschieren: „20 Prozent der Brasilianer sind gegen die WM“

In São Paulo finden am Tag der Eröffnung rund 20 Demonstrationen gegen die Fußball-WM statt. Die brasilianischen Medien halten mit Positiv-Propaganda dagegen. Doch sollte die Seleção früh aus dem Turnier ausscheiden, könnte die Lage eskalieren. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten haben mit Aktivisten gesprochen.
12.06.2014 01:10
Lesezeit: 4 min

Heute wird in São Paulo das WM-Eröffnungsspiel zwischen Gastgeber Brasilien und Kroatien angepfiffen. Doch auch am Tag des Eröffnungsspiels soll in São Paulo protestiert werden. Unterschiedliche Gruppen – von Gewerkschaften über Landlose bis hin zu Indigenen - werden die erhöhte Aufmerksamkeit nutzen und für ihre Interessen auf die Straße gehen. Ob es noch einmal zu Massenprotesten kommt, ist fraglich.

In São Paulo werden die Proteste von der Bewegung der Obdachlosen Arbeiter MTST sowie der Bewegung für den Nulltarif im Nahverkehr angeführt. Junge Aktivisten und ihre alternativen Medien versuchen ihre Positionen über das Internet zu verbreiten.

In der zweitgrößten Stadt, Rio de Janeiro, ist das Volkskomitee der WM tonangebend. Daneben erregen die „Autonomen“ vom Schwarzen Block, die „black blocs“, wie sie in Brasilien genannt werden, in beiden Städten Aufmerksamkeit mit Gewalt und Randale. Die Demonstranten kritisieren die exorbitanten Kosten der WM für eine Bevölkerung, der es an Grundlegendem mangelt, während eine kleine Elite sich schamlos bereichert. Die WM gilt nicht zu Unrecht als Vehikel einer Umverteilung von unten nach oben. Die Mehrheit der Brasilianer teilt diese Sicht, auch wenn sie nicht demonstriert.

DWN-Kolumnist Antonio Cascais sprach schon in der ersten Ausgabe des Anderen Tagebuchs mit Vinícius Fiorentino (24) und Fábio Chap (23), die die Anti-WM-Proteste in São Paulo organisieren. Am Tag des Eröffnungsspiels in São Paulo spricht er erneut mit den beiden Aktivisten und Mitarbeitern des alternativen Medienportals www.midianinja.org , dass sich zum Ziel gesetzt hat, vom offiziellen Brasilien unterdrückte Nachrichten zu verbreiten. Fábio Chap ist E-Book-Autor von Texten, vor allem zum Thema „Sexuelle Befreiung“. Vinícius Fiorentino ist Internet-Experte, Fotograf und Videokünstler.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ôi Vinícius! Ôi Chap!Tudo bem? Was gibts Neues in São Paulo?

Vinicius Fiorentino: Hier ist der Teufel los! Überall in der Stadt werden Aufmärsche gegen die WM-Eröffnung stattfinden. Über 20 Demos sind geplant. Verschiedene Gruppen in den unterschiedlichsten Stadtvierteln!

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wisst ihr ob die U-Bahn-Angestellten auch an diesem WM-Eröffnungstag streiken werden?

Vinícius: Das steht noch nicht definitiv fest. Die U-Bahn-Angestellten haben kurzfristig eine Mitarbeiterversammlung einberufen. Der Druck der Regierung und der Justiz auf die Mitarbeiter ist sehr groß, so dass es gut sein kann, dass die U-Bahnen heute fahren werden.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie ich bei MidiaNinja gelesen habe, hat die Regierung zumindest einige Forderungen der Obdachlosen- und Landlosen-Protestbewegung von São Paulo erfüllt…

Fábio: Ja. Die Regierung des Bundesstaats São Paulo hat versprochen, 2.000 Wohnungen für die Armen zu bauen, die sich der Bewegung “copa do povo” (“WM für das Volk”) angeschlossen und ein Gelände nahe des neuen Stadions besetzt hatten. Zudem hat die Stadtverwaltung von São Paulo angekündigt, dass 41 leerstehende oder besetzte Häuser der Wohnungslosen-Bewegung zur Verfügung gestellt werden sollen. Bislang sind das aber nur Versprechungen. Mehr nicht. Was wirklich passiert bleibt abzuwarten...

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie würdet ihr die Stimmung in São Paulo am Tag der WM-Eröffnung beschreiben?

Vinícius: Es ist nicht die Eröffnung, die sich die FIFA, die Sponsoren und die Regierung erhofft haben! Die Leute feiern nicht ausgelassen. Sie sind sehr kritisch. Selbst die einfachsten Leute haben ein sehr kritisches Bewusstsein entwickelt! Gestern sind wir in unserem Viertel ein paar Leute gesehen, die die Straße mit gelb-grünen Bändern schmückten. Einer hat den Bürgersteig gelb-grün angemalt. Aber das sind Einzelfälle. In anderen Zeiten hätte man damit schon im Januar angefangen und nicht am Tag vor der WM-Eröffnung!

Fábio: Von Euphorie ist bisher wenig zu spüren. Wenn die brasilianische Nationalmannschaft die ersten Tore schießt, könnte sich das ändern. Wenn die Seleção allerdings früh aus dem Turnier ausscheidet, dann könnte sich die angestaute Wut Bahn brechen. Vorsorglich hat die Regierung ihre Propaganda-Maschine angeworfen. In den Mainstream-Medien wird behautet, Alles sei Ok, die Leute seien zufrieden, alles sei pünktlich fertig geworden, alle geplanten Bauten, auch die Stadien. Aber Jedermann kann sehen, dass das nicht stimmt. Selbst die Mainstream-Medien kommen an dieser Realität nicht vorbei!

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Werder ihr Euch die Spiele anschauen? Sogar live im Stadion? Wieviel kosten eigentlich die Eintrittskarten?

Vinícius: Nein, wir gehen nicht zu den Spielen. Selbst wenn wir wollten, wäre das praktisch unmöglich, denn die Eintrittskarten kosten durchschnittlich 500 Reais (ca. 165 Euro), das ist mehr als 60 Prozent des Mindestlohns in Brasilien.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie wird Brasilien in naher Zukunft aussehen? In welche Richtung wird sich Euer Land entwickeln?

Vinícius: Wir glauben an die Zukunft unseres Landes. Wir glauben, dass das bestehende System bereits bei den nächsten Wahlen einen Denkzettel bekommt. Und nicht nur das: Das System wird erschüttert werden. Wir werden von den Mega-Events keine Vorteile haben. Es werden kaum Infrastruktur bleiben, und das normale Volk wird auch keine wirtschaftlichen Vorteile haben! Aber eins ist sicher: Das politische Bewusstsein der Brasilianer ist stark gewachsen. Und das ist der Ausgangspunkt für eine Veränderung des Landes zum Besseren.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Gibt es heute in São Paulo eigentlich Public Viewing? Großleinwände an öffentlichen Plätzen?

Fábio: Ja, es gibt die sogenannten offiziellen „Fifa Fan Feste”. Und in einigen Bars wird das Eröffnungsspiel natürlich auch gezeigt. Aber die Begeisterung hält sich – für brasilianische Verhältnisse – in Grenzen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was schätzt ihr: Wie groß ist der Anteil an WM-Kritikern in der Bevölkerung São Paulos?

Vinícius: Es gab Umfragen: Mehr als 50 Prozent der Brasilianer sind der WM gegenüber kritisch eingestellt. 20 Prozent der Brasilianer sind radikal gegen die WM.

Teil 1: Die Revolution hat in Brasilien Feuer gefangen

Teil 2: Brasilien: Künstler protestieren gegen die Fußball-WM

Teil 3: Brasilien: Von der Fußball-WM profitieren Konzerne, Politiker und Banken

Teil 4: Weltmeister: Deutsche Waffen-Industrie verdient prächtig mit der Fußball-WM

Teil 5: Brasilien: Staudamm-Bau mit Methoden einer Militär-Diktatur

Teil 6: Wer ist die rätselhafte Dilma Rouseff?

Teil 7: Brasilien: Straßenkinder passen nicht ins Bild der WM – und verschwinden

Teil 8: Der ganz andere WM-Song:  „Öffnet eure Augen, Brüder / die FIFA greift in unsere Taschen“

Teil 9: Brasilien: Fifa unterstützt Projekte gegen Kinderprostitution nicht

Teil 10: Lage in São Paulo eskaliert: Polzei knüppelt streikende U-Bahn-Fahrer nieder

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Geldanlage: Mit einem Fondsdepot mehr aus dem eigenen Geld machen

Wer vor zehn Jahren 50.000 Euro in den Weltaktienindex investiert hat, kann sich heute über mehr als 250.000 Euro freuen! Mit der...

DWN
Immobilien
Immobilien Wohnungsmangel: Deutschland fehlen 550.000 Wohnungen
05.02.2025

Eine neue Analyse belegt ein massives Wohnungsdefizit in Deutschland: 550.000 Wohnungen fehlen bundesweit. Die Politik zeigt sich vor der...

DWN
Panorama
Panorama Elf Tote in Schweden: Was ist passiert?
05.02.2025

Nach einer Schießerei an einer Erwachsenenbildungseinrichtung in Schweden bleiben viele Fragen offen. Mindestens elf Menschen starben,...

DWN
Politik
Politik Grönland wählt am 11. März - und verbietet ausländische Spenden an Politik
05.02.2025

Aus Angst vor Wahlmanipulation und angesichts geopolitischer Begehrlichkeiten greift Grönland durch: Ausländische und anonyme Spenden an...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft US-Strafzölle: Wie die deutsche Wirtschaftsleistung massiv bedroht wird
05.02.2025

US-Strafzölle auf Importe aus Kanada, Mexiko und China könnten gravierende Folgen für die deutsche Wirtschaft haben. Experten des...

DWN
Panorama
Panorama Russischer Geheimdienst hinter Auto-Sabotagen vermutet
05.02.2025

Eine Serie von Sabotageakten gegen Autos sorgt für Unruhe in Deutschland. Die Polizei vermutet dahinter einen russischen Geheimdienst, der...

DWN
Technologie
Technologie Shein und Temu im Visier der EU-Kommission
05.02.2025

Die EU-Kommission will gegen den massenhaften Import billiger Produkte von Plattformen wie Shein und Temu vorgehen. Im Fokus stehen...

DWN
Politik
Politik Mehrheit bei Migrationsvotum durch AfD: Für mehr als die Hälfte der Deutschen kein Problem
05.02.2025

Bei den Demonstrationen gegen Merz und die AfD war viel Empörung zu spüren. Doch diese Proteste spiegeln nur die Meinung einer – wenn...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Rüstungskonzern KNDS übernimmt Alstom-Werk in Görlitz und sichert Arbeitsplätze
05.02.2025

Der Rüstungskonzern KNDS übernimmt das Alstom-Werk in Görlitz. In einer feierlichen Zeremonie unterzeichneten die Unternehmen eine...