Christian Wehrschütz ist Korrespondent des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Österreich und einer der letzten Reporter, die noch aus Donezk berichten. In einem Bericht für das österreichische Fernsehen schilderte Wehrschütz die Lage in der belagerten Stadt Donezk:
So etwa 300.000 Personen dürften dann Donezk verlassen haben, zwar zunächst die Befürworteter, dann die, die irgenwie mobil haben oder Verwandte haben. Die Züge sind überfüllt, die Autobusse auch. Die Menschen versuchen aus Donezk rauszukommen. Das Zentrum ist menschenleer, aber auch in den Außenbezirken werden immer mehr Geschäfte geschlossen. Noch funktioniert die Versorgung, weil das ist ja keine Blockade wie im Mittelalter, wo man eine Burg belagert hat. Sondern es gibt noch Möglichkeiten, in die Stadt herein oder herauszukommen. Aber die Forderung der ukrainischen Armeeführung an die Bevölkerung, die Stadt zu verlassen, ist sehr interessant. 600.000 sind noch hier. Wo sollen die hin? Die Ukraine ist nicht vorbereitet auf Massenströme von Flüchtlingen. In welche Auffanglager sollen die Menschen gehen? Es gibt keine Auffanglager. Was ist mit Personen, die im Krankenhaus sind? Was ist mit alten Personen. Was ist mit behinderten Kindern? Also im Grunde genommen, halte ich diese Forderung für eine Kultur-Schande Europas.
Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten haben am Donnerstag Nachmittag mit Christian Wehrschütz gesprochen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Herr Wehrschütz, Sie sind gerade in Donezk. Wie ist die Situation vor Ort?
Christian Wehrschütz: Heute, Donnerstag, um 10.40 Uhr Ortszeit fand ein weiterer Luftangriff auf die Stadt Donezk statt. Die Raketen trafen zivile Häuser in der Rosa-Luxemburg-Straße und eine Zahnklink. Ein Zivilist kam dabei ums Leben. Einer Frau wurden beide Beine abgerissen, die zur Stunde amputiert werden. Ob es noch mehr Opfer gibt, weiß ich derzeit nicht. In der Straße befindet sich ein Stützpunkt der Rebellen. Dieser war wohl das eigentliche Ziel des neuerlichen Angriffs. Doch auch dieses Mal wurde der Stützpunkt nicht getroffen. Neuerlich starben Zivilisten.
Die Kämpfe zwischen ukrainischer Armee und Separatisten rücken immer mehr in die Innenstadt. Die Separatisten werden von den Außenbezirken in die Mitte von Donezk getrieben.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie ist die Versorgung in Donezk?
Christian Wehrschütz: Die Stromversorgung steht nicht überall, ebenso der Transport mit den öffentlichen Autobussen oder der Handyempfang. Die Wasserversorgung ist auch gefährdet. Ich bin hier in einem guten Hotel, aber auch hier merkt man den abnehmenden Wasserdruck, etwa beim Duschen. Die ganze Stadt wird über einen Kanal versorgt. Sollte da eine Rakete einschlagen, bricht die Wasserversorgung zusammen; die Reservoirs sind durch die Trockenheit ziemlich leer; Trinkwasser würde dann nur noch für einige Tage reichen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Einwohner von Donezk wurden dazu aufgerufen, die Stadt zu verlassen. Einen Evakuierungsplan für die 600.000 verbliebenen Bewohner gibt es allerdings nicht.
Christian Wehrschütz: Das Vorgehen ist ähnlich wie in Lugansk. Dort haben mittlerweile 200.000 der 450.000 Bewohner die Stadt verlassen, in Donezk sind es mittlerweile geschätzte 300.000. Auch den restlichen etwa 600.000 Bewohnern von Donezk wird geraten, die Stadt zu verlassen. Allerdings gibt es von den ukrainischen Offiziellen kaum eine Hilfestellung für eine derartige Massenauswanderung. Wie soll das funktionieren? Stellen Sie sich mal vor, unter friedlichen Umständen müsste eine deutsche Stadt mit 600.000 Einwohnern geräumt werden. Schon das ist schwer vorstellbar.
Hier in Donezk gibt es Kinder, Alte und Kranke. Wie sollen die flüchten? Es ist eine Kulturschande für Europa, welch menschliche Tragödien sich hier abspielen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche Möglichkeiten haben die Einwohner, um zu fliehen?
Christian Wehrschütz: Es gibt im Großen und Ganzen zwei Routen, eine Richtung Dnipropetrowsk, die andere Richtung Hafenstadt Mariupol und über diesen Weg auch nach Russland. Bewohner anderer Teile des Kreises Donezk können auch über den Kreis Lugansk nach Russland flüchten.
Doch viele Menschen fliehen nicht, weil sie Angst haben, alles zu verlieren. Sie haben Angst vor Plünderungen. Das Haus ist ihre einzige Habe, die lässt man nicht einfach so zurück. Viele Alte können oder wollen gar nicht mehr fliehen. Das ist vor allem schwierig, weil Familien auseinandergerissen werden.
Männer bringen ihre Familien oft zu Verwandten aufs Land oder nach Russland und kehren dann zurück, um ihre Eltern oder Schwiegereltern nicht alleine zu lassen. Die Verwurzelung der Alten in ihre Umgebung ist viel größer, als wir uns das in Europa vorstellen können.
Es gibt Fluchthelfer auf beiden Seiten. Eine ukrainische NGO, die ich getroffen habe, hilft eher Frauen und Kindern, da die Männer ihrer Ansicht nach kämpfen sollen. Doch es gibt auch ukrainische NGOS, die gar keine Unterschiede machen. Die Flucht hat jetzt kaum politische Gründe mehr, ob man jetzt für oder gegen Russland ist. Die Menschen haben Angst um ihr Leben und das Leben ihrer Kinder.
Der Schulbeginn ist hier eigentlich am 1. September. Dieser wurde schon auf den 1. Oktober verschoben. Jetzt ist es noch relativ warm, aber wo sollen die Menschen denn im Winter unterkommen. Viele Firmen haben schon geschlossen und es werden immer mehr, das heißt natürlich auch, dass die Menschen hier ihre Arbeit verlieren.
Die Zukunft hier für diese Region ist überhaupt nicht gesichert. Wer soll den Wiederaufbau zahlen? Ist überhaupt an eine Versöhnung gedacht?
Christian Wehrschütz wiederlegte Ende Juli die US-Aussagen, dass die Rebellen die Leichen des MH17-Absturzes schänden. Dies war das Argument für härtere Sanktionen gegen Russland. Lesen Sie hier seinen Bericht von der Absturzstelle im Wortlaut.
Über die Situation der Flüchtlinge hat Wehrschütz auch ein Interview mit dem Leiter der UNHCR, Odrich Andrysek, geführt:
„Unsere Finanzlage ist nicht gut; der Flüchtlingshochkommissar hat aus den Reserven zwei Millionen US-Dollar bereitgestellt; das ist Geld für Syrien und andere Länder bestimmt war; doch wir bekamen zwei Millionen Dollar; das ist wie ein Sandkorn am Meer. Nur zum Vergleich: die OSZE-Beobachtermission für sechs Monate kostet 19 Millionen Euro; 19 Millionen Euro, während ich für sechs Monate zwei Millionen Dollar habe. Gleichzeitig haben wir mit dem Sammeln von Spenden begonnen, und Geld beginnt zu fließen…
Der Geldfluss ist auch deshalb wichtig, weil viele Flüchtlinge derzeit in Kuranstalten oder Ferienheimen untergebracht sind, die nicht winterfest sind; doch für die kalte Jahreszeit müsse Vorsorge getroffen werden, weil niemand wisse, wie lange der Krieg noch dauern und wie viele Flüchtlinge es noch geben werde…
Der einzige Grund, warum ich mich nicht sehr unbehaglich fühle, besteht darin, dass hier niemand vor Hunger und Kälte stirbt. Ohne planmäßiges Handeln, kann sich das zwischen Oktober und Dezember rasch ändern. Hunderttausende Menschen ohne Arbeit, nur in Übergangsquartieren, und wenn es kalt ist, sind eine soziale Zeitbombe für die soziale Stabilität in diesem Land.“ (Lesen Sie das ganze Interview auf der Homepage von Christian Wehrschütz).
Anmerkung: Der Österreichische Rundfunk berichtet wesentlich nüchterner und mit deutlich größerer journalistischer Distanz über die Entwicklung in der Ukraine. Die Nachrichtensendung ZIB2 um 22 Uhr empfiehlt sich als Alternative für die Nachrichtensendungen von ARD und ZDF, die im Propaganda-Getümmel den Überblick verloren zu haben scheinen (hier zur ORF-Mediathek).