Die EZB und alle, die sie unterstützen, haben in ihren Stellungnahmen behauptet, das OMT- Programm sei Geldpolitik, also vom Mandat der EZB gedeckt. Obwohl das Gegenteil evident ist, braucht man sich über diese Stellungnahmen nicht zu wundern. Ein Organ, das seine Kompetenzen überschreitet, wird niemals sagen, wir überschreiten jetzt unsere Kompetenzen; selbstverständlich sagt die EZB, sie mache Geldpolitik, auch wenn sie noch so offenkundig Wirtschaftspolitik betreibt. Der Gerichtshof muss jetzt entscheiden, wie – im Hinblick auf das OMT-Programm – Wirtschaftspolitik von Geldpolitik zu unterscheiden ist.
Die EZB meint, es komme allein darauf an, welche Ziele sie verfolge. Wenn sie angibt, ein geldpolitisches Ziel zu verfolgen und niemand ihr dies widerlegen kann, soll jede beliebige von der EZB ergriffene Maßnahme eine geldpolitische Maßnahme sein.
Träfe diese Auffassung zu, dann ließe sich das Mandat der EZB rechtlich gar nicht einschränken. Welche Ziele die EZB verfolgt, ist die subjektive Entscheidung des EZB-Rates. Und ob sie diese Ziele ernsthaft verfolgt oder nur vorschiebt, um in Wirklichkeit ganz andere – nicht ausdrücklich genannte – Ziele verfolgen zu können, lässt sich kaum nachprüfen. Die EZB könnte praktisch uneingeschränkt Wirtschaftspolitik betreiben und in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten übergreifen. Denn es ist praktisch immer möglich, wirtschaftspolitische Maßnahmen als geldpolitisch motiviert darzustellen.
Stellen Sie sich vor, jemand raubt eine Bank aus und behauptet dann, das sei kein Bankraub, sondern eine Wohltätigkeitsaktion; er wolle das Geld nämlich einem Waisenheim spenden. Sie würden doch sagen: Bankraub bleibt Bankraub, egal welchen noch so ehrenwerten Zweck der Täter verfolgt; das sei Kriminalität und nicht Mildtätigkeit oder Sozialpolitik. Die EZB aber betreibt Euro-Rettungspolitik. Sie tut exakt das, wofür die Eurostaaten zuständig sind, und sie behauptet, das sei nicht Wirtschaftspolitik, sondern Geldpolitik. Und als Grund dafür gibt sie an, dass sie doch ein geldpolitisches Ziel verfolge. Aber dieses geldpolitische Ziel verfolgt sie, wenn überhaupt, nur sehr mittelbar. Dieses Ziel steht am Ende einer Wirkungskette, zu deren wesentlichen Elementen die Erleichterung der Finanzierungsbedingungen von Staaten steht, die in einer Krise sind und sich nur zu hohen Zinsen Geld beschaffen können.
Ich weiß, man könnte einwenden, der Ankauf von Staatsanleihen gehöre doch zu den legalen Instrumenten der Offenmarktpolitik.
Entscheidend ist aber, dass der Ankauf von Staatsanleihen im Rahmen des OMT-Programms unmittelbar dazu dient, die Renditen der Staatsanleihen bestimmter Krisenstaaten zu senken, den Gläubigern dieser Staaten die Furcht vor der Insolvenz und vor einem Schuldenschnitt zu nehmen und auf diese Weise die Gefahr einer Insolvenz abzuwenden. Das unmittelbare Ziel der OMTs ist also ganz offenkundig ein wirtschaftspolitisches Ziel.
In den Stellungnahmen auch der EZB und der Kommission wird richtig gesehen, dass Staatsanleihenkäufe ein für sich genommen neutrales Instrument sind. Sie können der Wirtschaftspolitik dienen; das tun sie im Rahmen des ESM. Sie können auch der Geldpolitik dienen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn eine Notenbank Staatsanleihen zur Ausweitung der Geldmenge kauft. Im Falle des OMT-Programms dienen die Käufe unmittelbar einem wirtschaftspolitischen Ziel und nur sehr mittelbar dem angeblichen Ziel, der Geldpolitik der EZB Wirksamkeit zu verschaffen, indem ein verstopfter Transmissionskanal freigelegt werde.
Das Bundesverfassungsgericht hat völlig Recht, wenn es sagt, es komme auf den unmittelbar verfolgten Zweck an. Und entgegen den Behauptungen der Kommission entspricht diese Auffassung auch dem Pringle-Urteil des Europäischen Gerichtshofs.
Wäre es richtig, dass die EZB im Rahmen ihres Mandats alles tun dürfte, was in irgendeiner Weise indirekt die Effektivität ihrer geldpolitischen Zielverfolgung erhöht, dann hätte sie eine Generalkompetenz für die Wirtschaftspolitik und sogar für die Sozialpolitik.
Was die EZB vom Europäischen Gerichtshof verlangt, ist nichts anderes, als eine monströse Kompetenzanmaßung für rechtmäßig zu erklären.
Die EZB versucht, das OMT-Programm mit dem Ziel zu rechtfertigen, eine angebliche Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus zu beseitigen. Genau betrachtet ist dieser Versuch darauf gerichtet, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung für die EZB außer Kraft zu setzen.
Mit dem OMT-Programm verlagert die EZB Solvenzrisiken in Höhe immenser Milliardenbeträge von den Gläubigern der Krisenstaaten auf die Steuerzahler der Eurostaaten. Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass dies nicht vom Mandat der EZB gedeckt ist.
Die EZB antwortet jetzt, in den Verträgen stehe doch nicht, dass die EZB keine Risiken eingehen dürfe. Sie verkennt, dass nicht alles, was sich aus den Verträgen ergibt, wörtlich dort formuliert sein muss.
Ein guter Test dafür, ob ein EU-Organ zu einer vertraglich nicht ausdrücklich geregelten Handlungsweise ermächtigt ist, ist folgende Frage: Kann man sich vorstellen, dass die Vertragsstaaten die für diese Handlungsweise vorausgesetzte Kompetenz in den Vertrag geschrieben hätten, wenn sie hierzu eine ausdrückliche Regelung hätten treffen wollen?
In Bezug auf das OMT-Programm lautet die Testfrage demnach: Kann man sich vorstellen, die Vertragsstaaten hätten bei Gründung der Währungsunion im Vertrag von Maastricht formuliert: „Die EZB darf Solvenzrisiken einzelner Eurostaaten in unbegrenzter Höhe durch Ankauf von Staatsanleihen dieser Staaten in die Bilanz nehmen und sie auf diese Weise auf alle Eurostaaten umverteilen, wenn dem EZB-Rat dies zur Herstellung geldpolitischer Transmission als notwendig erscheint?“
Es ist evident, dass der Vertrag von Maastricht mit einer solchen Ermächtigung nie zustande gekommen wäre. Deutschland hätte bestimmt nicht zugestimmt. Die Vergemeinschaftung von Schulden war für die Politik Tabu. Und ansonsten hätte das Bundesverfassungsgericht das Zustimmungsgesetz zu einem solchen Vertrag für verfassungswidrig erklärt.
Eine solche Umverteilungskompetenz geben die Verträge der EZB eindeutig nicht. Falls der Gerichtshof das OMT-Programm für kompetenzgemäß erklärt, legitimiert er eine Selbstermächtigung der EZB.
Dies wäre umso schlimmer, als die EZB keine demokratische Legitimation besitzt. Von Demokratie ist in den Stellungnahmen der EZB und derer, die sie unterstützen, keine Rede. Für sie scheint ökonomische Effizienz der einzige Wert zu sein, auf den es ankommt. Der Umstand, dass die Zentralbank nur eine expertokratische Legitimation besitzt und dass sie bewusst vom Erfordernis demokratischer Legitimation freigestellt wurde, macht eine enge Auslegung ihrer Kompetenzen zwingend erforderlich. Bestehen begründete Zweifel daran, ob bestimmte Handlungen durch das geldpolitische Mandat gedeckt sind, das die Mitgliedstaaten der EZB übertragen haben, dann ist die EZB zu solchen Handlungen nicht legitimiert. Es ist völlig klar, dass die Vertragsstaaten der EZB nicht die Kompetenz übertragen haben, Solvenzrisiken zwischen den Eurostaaten umzuverteilen, und einzelnen Eurostaaten Haushaltsrisiken aufzubürden, deren Volumen ein Mehrfaches des aktuellen Staatshaushalts erreichen kann. Mit dem OMT-Programm aber macht die EZB aus der Währungsunion eine Schuldenunion, ohne die Mitgliedstaaten und ihre Parlamente zu fragen.
In diesem Verfahren steht der Gerichtshof vor der Aufgabe, sich als Verfassungsgericht der Union, als Hüter der Kompetenzordnung, zu bewähren und die Demokratie in Europa vor der unlegitimierten Machtanmaßung der EZB zu schützen.