Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der syrische Präsident Baschar al-Assad ist an der Macht geblieben, der Islamische Staat (IS) verbreitet Angst und Schrecken und es gibt eine Reihe von kurdischen, syrischen und ausländischen Milizen. Wer ist hier das kleinere oder größere Übel?
Kristin Helberg: Hauptverantwortlich für die apokalyptische Krise in Syrien ist das Assad-Regime. Präsident Baschar al-Assad hat die friedlichen Demonstrationen im Jahr 2011 gewaltsam niederschlagen lassen. Die Moderaten wurden von Anfang an mit allen Mitteln unterdrückt, die Radikalen hat er gewähren lassen. Ab 2013 hat auch IS die gemäßigten Rebellen bekämpft – diese fanden sich in einem Zwei-Fronten-Krieg zwischen dem Regime und den Dschihadisten wieder. Assad braucht den IS, um seine Macht zu legitimieren, um sich als einzige Alternative zum Terror zu präsentieren, dabei ist er der Ursprung dieses Terrors.
Die Freie Syrische Armee (FSA) wurde im Sommer 2011 von Deserteuren der syrischen Armee gegründet, die sich weigerten, auf ihre Mitbürger zu schießen. Sie ist ein loser Verbund vieler regionaler, mehr oder weniger gemäßigter Rebellengruppen, die vom Westen zu wenig unterstützt wurden. Der IS lockt in Syrien vor allem mit Geld. Während sich ausländische Dschihadisten dem IS aus Überzeugung anschließen, spielt bei den syrischen Kämpfern der monatliche Sold in Höhe von 400 US-Dollar und mehr die wichtigste Rolle. Kämpfer, die zuvor für die FSA oder syrische Islamistenbrigaden gekämpft haben, sind zum IS gewechselt, weil sie dadurch ihre Familie ernähren können. Diese jungen Männer sind dadurch nicht über Nacht zu Dschihadisten geworden. Wichtig ist: Wir stehen in Syrien nicht vor der Wahl zwischen dem IS und Assad. Die allermeisten Syrer wollen weder das eine noch das andere. Und die Rebellen kämpfen sowohl gegen Assad als auch gegen IS.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Verschiedenen Medienberichten zufolge sind die Einwohner Kobanes weitgehend in die Türkei geflüchtet. Der IS kämpft gegen die kurdische PYD. Was genau ist los dort?
Kristin Helberg: Die PYD (Partei der Demokratischen Union) ist die syrische Schwesterpartei der PKK. Sie fordert einen Korridor von der Türkei nach Syrien, damit kurdische Kämpfer der PKK und der Peshmerga nach Syrien kommen und der PYD im Kampf um Kobane helfen können. Der Korridor wäre auch wichtig für Nachschub in Form von Waffen und humanitärer Hilfe. Ein aktives Eingreifen der Türkei lehnen die syrischen Kurden dagegen ab. Das wäre für sie Besatzung und der Versuch, die kurdische Selbstverwaltung im Nordosten Syriens zu zerschlagen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will hingegen eine Stärkung der PKK um jeden Preis verhindern. Er hat Angst vor kurdischer Autonomie in Syrien. Ankara betrachtet die gesamte Entwicklung sehr skeptisch. Es kommt ihm deshalb sehr gelegen, dass sich der IS und die PYD dort gegenseitig aufreiben und schwächen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Warum ist Kobane so wichtig für den IS? Welche strategische Bedeutung kommt der Stadt zu?
Kristin Helberg: Es gibt drei kurdische Kantone in Nordsyrien, einen im Osten (Cizîrê), einen im Westen (Afrin) und Kobane in der Mitte. Würde Kobane in die Hände des IS fallen, wären die Kurdengebiete nicht mehr miteinander verbunden. Aber der mediale Fokus auf Kobane frustriert inzwischen Syrer anderswo. Die ganze Welt schaut nur noch nach Kobani und Assad lässt währenddessen Aleppo, Daraa, die Vororte von Damaskus, Homs und weitere Städte bombardieren. Die meisten Menschen in Syrien sterben noch immer durch die Bomben des Regimes. Im September waren es laut Menschenrechtsorganisationen 1.707 zivile Opfer, ein Drittel davon Frauen und Kinder. Jeden Tag sterben durchschnittlich zehn Kinder in Syrien durch den Terror Assads. Er ist aus Sicht vieler Syrer deshalb der eigentliche Verbrecher, IS nur ein Nebenprodukt des Krieges.
Hinzu kommt: Die Syrer sind verbittert über die internationale Berichterstattung. Die sunnitischen Araber fühlen sich im Stich gelassen, weil sie genauso unter dem IS-Terror leiden wie die Kurden in Kobane, die Christen in Mossul oder die Jesiden in Sinjar. Die Menschen in Raqqa fragen sich: „Warum interessiert es keinen, dass IS uns schon seit Sommer 2013 terrorisiert? Warum hilft der Westen nur den Minderheiten und nicht uns sunnitischen Arabern?“ Das spaltet die syrische Gesellschaft zusätzlich, der Hass wächst.
Der IS ist eine sunnitische Terrororganisation, doch in Syrien sind die meisten Opfer bisher Sunniten. Die Extremisten des IS bringen jeden um, der sich ihnen widersetzt – genau wie Assad. Für mich sind IS und Assad deshalb die zwei Gesichter des Terrors in Syrien.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Warum erhält die PYD keine Waffen von der EU, der Türkei oder den USA?
Kristin Helberg: Die PKK wird nicht nur in der Türkei als Terrororganisation eingestuft, sondern steht auch in Europa und den USA auf der Terrorliste. Da die PYD als ihr syrischer Ableger gilt, hält sich der Westen mit direkter Unterstützung bisher zurück – auch aus Rücksicht auf Ankara. Erdogan will die PKK im Zuge der zaghaft begonnenen Friedensverhandlungen entwaffnen und nicht bewaffnen. Und Brüssel will Ankara nicht vergraulen. Deshalb bekommen die Kurden in Syrien bislang keine Waffen. Ich halte das PKK-Verbot in Deutschland für nicht zeitgemäß. Es sollten alle Kräfte gegen den IS gebündelt werden. Dazu gehört auch die PYD, die sich in Syrien seit mehr als einem Jahr gegen die Dschihadisten zur Wehr setzt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche Rolle spielt hier der Präsident autonomen Kurdenregion im Irak, Masud Barzani?
Kristin Helberg: Die Kurden sind untereinander zerstritten. Barzanis Peschmerga im Nordirak und die PKK sind seit langem verfeindet. Allerdings nähern sie sich gerade an, der Kampf gegen IS eint sie. Barzani hat angeboten, Peschmerga zur Unterstützung nach Kobane zu schicken, allerdings braucht es dafür den erwähnten Korridor durch die Türkei, den Erdogan nicht gewähren will.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wer möchte einen türkischen Einmarsch in Kobane und wer ist dagegen?
Kristin Helberg: Keiner in der Region will einen militärischen Alleingang der Türkei in Syrien. Ankara selbst auch nicht. Seit drei Jahren fordern syrische Aktivisten, Oppositionelle und Kämpfer eine Flugverbotszone im Norden des Landes. Diese würde Zivilisten vor den Luftangriffen des Regimes schützen, eine Rückkehr von Flüchtlingen ermöglichen und oppositionellen Kräften die Chance geben, sich besser zu organisieren und ein alternatives Syrien aufzubauen. Die Türkei unterstützt diesen Vorschlag. Aber ein UN-Mandat wird es dafür nicht geben – Russland und China, die fest an Assads Seite stehen, werden eine solche Entscheidung des Weltsicherheitsrates blockieren.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Kurden fühlen sich von der Obama-Regierung im Stich gelassen. Doch die USA melden durchgehende Luftschläge. Was genau bombardieren die Amerikaner in Syrien?
In Kobane scheinen die US-Angriffe den Kurden jetzt zu helfen, sie werden wohl auch besser koordiniert. Im Rest des Landes sind die Luftschläge dagegen halbherzig und einseitig. Sie werden nicht mit den Rebellen am Boden koordiniert, was diese in den Augen der Bevölkerung zu hilflosen Lakaien des Westens macht. Die USA informieren zwar das Assad-Regime über geplante Luftschläge, nicht aber die Rebellen. Obwohl die Amerikaner FSA-Einheiten als Verbündete identifiziert haben, behandeln sie diese nicht als solche. Das ist ein großes Problem, denn so verlieren diese Brigaden an Glaubwürdigkeit und Rückhalt in der Bevölkerung.
Die USA zerbomben syrische Infrastruktur wie Getreidespeicher und Ölraffinerien, um dem IS die Versorgungswege abzuschneiden. Doch dadurch steigen die Preise für Nahrungsmittel in den IS-kontrollierten Gebieten und die Menschen solidarisieren sich mit IS. Die Amerikaner werden zunehmend als Feind gesehen, sie verlieren die Unterstützung der Bevölkerung.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welches Szenario haben Sie für die Zukunft Syriens?
Kristin Helberg: Um den Konflikt am Verhandlungstisch zu lösen, müssen erst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Aktuell hat Assad keinen Grund, Macht abzugeben, er hält die für ihn wichtigen Gebiete mit militärischer und finanzieller Unterstützung seiner Verbündeten Iran, Russland und der Hisbollah. Deshalb muss der militärische Druck auf ihn steigen. Auf der anderen Seite hat das größte Oppositions-Bündnis, die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte, keinen Einfluss auf die Kämpfe am Boden. Es gibt in Syrien etwa 1.500 bewaffnete Gruppen, sie zu bündeln, einem Zentralkommando zu unterstellen und am Ende auch politisch zu kontrollieren, ist eine enorme Herausforderung. Auf der Suche nach verbündeten Rebellen sollten wir vor allem darauf schauen, wer ausschließlich nationale Ziele, also den Sturz des Regimes, verfolgt. Alle anderen, für die Syrien nur eine Zwischenstation auf dem Weg zum globalen Dschihad ist, müssen wir gemeinsam mit den Syrern bekämpfen.
Nur, wenn beide Verhandlungspartner überzeugt sind, ihre Ziele militärisch nicht erreichen zu können, und wenn beide in der Lage sind, die Kriegführenden im Land entsprechend zu steuern, kann eine politische Einigung gelingen. An einer Lösung müssen außerdem die wichtigsten Regionalmächte, allen voran Saudi-Arabien und Iran beteiligt werden.
Kristin Helberg, geboren 1973 in Heilbronn, studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Hamburg und Barcelona. Von 1995 bis 2001 arbeitete sie beim NDR in Hamburg. 2001 ging sie nach Damaskus, wo sie lange Zeit die einzige offiziell akkreditierte westliche Korrespondentin war. Bis 2008 berichtete sie von Syrien aus über die arabische und islamische Welt für die Hörfunkprogramme der ARD, den ORF und das Schweizer Radio SRF sowie verschiedene Printmedien. Heute arbeitet sie als freie Journalistin und Nahostexpertin in Berlin. Anfang 2014 erschien die 2., aktualisierte und erweiterte Ausgabe ihres Buches „Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land“ im Herder-Verlag (hier beim Verlag bestellen)