Efraim Zuroff vom Simon-Wiesenthal-Center beobachtet im Baltikum eine gefährliche Glorifizierung von estnischen, lettischen und litauischen SS-Veteranen als Freiheits-Kämpfer. Denn alljährlich finden im Baltikum Ehrenmärsche für die ehemaligen Soldaten der Waffen-SS statt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie waren in den vergangenen Wochen im Baltikum, um diverse Aufmärsche von Alt-Nazis und Neo-Nazis zu beobachten. Was genau ist derzeit in Estland, Lettland und Litauen los?
Efraim Zuroff: In den vergangenen 30 Tagen gab es im Baltikum insgesamt vier Nazi-Aufmärsche, an denen Tausende teilnahmen. In der litauischen Hauptstadt Vilnius, einschließlich der Stadt Kaunas, in der estnischen Hauptstadt Tallin und in der lettischen Hauptstadt Riga gab es Nazi-Aufmärsche, an denen zahlreiche Veteranen der Waffen SS teilnahmen. Die Aufmärsche in Kaunas, Tallin und Vilnius waren als Kundgebungen zu den nationalen Feiertagen zur Unabhängigkeit Estlands und Litauens angemeldet. Die Kundgebung in Riga fand nicht an einem nationalen Feiertag statt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Können sie uns die Reaktionen der Bürger von Riga schildern?
Efraim Zuroff: Auffällig war, dass der Aufmarsch in Riga von zahlreichen Bürgern unterstützt wurde. Es waren sogar rechtsnationale Delegationen aus anderen EU-Staaten - beispielsweise aus der Slowakei oder Estland - anwesend. Für das Baltikum lässt sich feststellen: Je älter die Menschen sind, desto rassistischer, minderheitenfeindlicher und antisemitischer sind sie auch. Doch es gibt Veränderungen innerhalb der jüngeren Bevölkerung, die eher von demokratischen Werten geprägt ist.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche Rolle spielte die „Lettische Legion“ der Waffen SS im Zweiten Weltkrieg?
Efraim Zuroff: Die lettischen SS-Mitglieder waren nicht in den Holocaust verwickelt. Doch vor dem Holocaust haben sie, viele von diesen Leuten waren zuvor bei lettischen Sicherheitsbehörden tätig, Juden reihenweise ermordet. Die Morde haben diese Leute vor ihrer Mitgliedschaft bei der Waffen SS ausgeübt. Nach dem Eintritt in die Waffen SS waren sie zunehmend in Kämpfe gegen die Sowjets beschäftigt. Sie sind anti-russisch, anti-semitisch und grundsätzlich rassistisch eingestellt.
Ein Teil der Balten will die Welt glauben machen, dass diese SS-Soldaten keine Rassisten, sondern „Freiheitskämpfer“ sind.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sind anti-russische und anti-semitische Ressentiments weit verbreitet auf dem Baltikum?
Efraim Zuroff: Anti-russische Ressentiments sind sehr weit verbreitet. In diesem Zusammenhang werden Juden als ehemalige Kollaborateure der Sowjets angesehen. Juden sind in den Augen national gesinnter Balten Verräter. Viele der Juden, die heute in Estland und Lettland leben, sind ab den 1950er Jahren aus der Ukraine eingewandert. Es wird oftmals der Begriff „Judeo-Bolschewismus“ benutzt, um einen Zusammenhang zwischen den ehemaligen Sowjets und dem Judentum als Ganzes zu schaffen. Es stimmt, dass sich die Juden im Baltikum zunächst über den Einmarsch der Sowjets gefreut haben und sie als Befreier ansahen. Doch die Alternative zu den Sowjets war Auschwitz und Völkermord. Was hätten die Menschen denn tun sollen?
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie haben sich dafür eingesetzt, dass Kreml-Chef Wladimir Putin zur alljährlichen Gedenkfeier in Auschwitz eingeladen wird. Doch das ist nicht geschehen.
Efraim Zuroff: Der russische Präsident hat ein Recht darauf, an der Auschwitz-Gedenkfeier teilzunehmen. Schließlich war es die Rote Armee, die Auschwitz befreit und dem Massenmord ein Ende gesetzt hatte. Es waren die sowjetischen Truppen, die eine so wichtige Rolle in der endgültigen Niederlage des Dritten Reiches gespielt haben. Dabei haben die Russen selbst große Opfer bringen müssen. Mit anderen Worten, wenn es jemand verdient, an der Gedenkfeier teilzunehmen, ist es Wladimir Putin.
Dr. Efraim Zuroff wurde 1948 in New York geboren und zog 1970 nach Israel. Sein Bachelor-Studium hat er an der Yeshiva Universität und sein Master-Studium an der Hebräischen Universität in Jerusalem absolviert. Sein Doktorgrad mit dem Forschungsschwerpunkt „Holocaust-Studien“ erlangte er an derselben Universität. Seit 1986 ist er Leitender Nazi-Jäger des Simon Wiesenthal Centers (SWC) und SWC-Direktor in Israel. Zwischen 1980 und 1986 arbeitete er in Israel als Researcher für das US-Justizministerium. Er ist Autor von drei Büchern und hat 380 Artikel verfasst. Der Titel seines jüngsten Buches heißt: „Operation Last Chance: Im Fadenkreuz des ‘Nazi-Jaegers’“. Das Werk ist beim Prospero Verlag erhältlich.