Politik

Ein falscher Gedanke: Vertriebene sollen deutsches Wirtschafts-Wunder schaffen

Lesezeit: 3 min
16.09.2015 01:27
Daimler-Chef Dieter Zetsche hofft, die Flüchtlinge könnten eine Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden. Wie bitte? Sollen wir uns alle zu Kriegsprofiteuren machen? Die Vertriebenen sind nicht auf globaler Arbeitssuche. Sie rennen um ihr Leben, um die halbe Welt – weil ihre Heimat zerstört wird. Europa soll den Krieg in Syrien beenden helfen – und sich dann über ein syrisches Wirtschaftswunder freuen.

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Die dpa meldet:

Daimler-Chef Dieter Zetsche sieht im aktuellen Flüchtlingsstrom eine Chance für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Mehr als 800.000 Menschen in Deutschland aufzunehmen, sei eine Herkulesaufgabe, sagte Zetsche am Montagabend im Vorfeld der IAA in Frankfurt. „Aber im besten Fall kann es auch eine Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden – so wie die Millionen von Gastarbeitern in den 50er und 60er Jahren ganz wesentlich zum Aufschwung der Bundesrepublik beigetragen haben.“

Natürlich sei nicht jeder Flüchtling ein brillanter Ingenieur, Mechaniker oder Unternehmer, so Zetsche. Aber wer sein komplettes Leben zurücklasse, sei hoch motiviert. „Genau solche Menschen suchen wir bei Mercedes und überall in unserem Land.“ Studien zufolge drohten fast 40.000 Lehrstellen unbesetzt zu bleiben. Deshalb müssten Flüchtlinge in Deutschland willkommen geheißen werden. „Wer an die Zukunft denkt, wird sie nicht abweisen.“

Wir wollen annehmen, dass sich Zetsche der Tragweite seiner Äußerung nicht bewusst war. Vermutlich hat er das gesagt, weil er irgendetwas zum aktuellen Thema sagen wollte. Wirklich nachgedacht kann Zetsche nicht haben: Denn in der Konsequenz zu Ende gedacht, klingt so eine Aussage wie purer Zynismus: Die Flüchtlinge sind Vertriebene, die vor dem Grauen des Krieges um das nackte Leben rennen. Diese existentielle Bedrohung als „hoch motiviert“ zu interpretieren, zeigt: Die wirtschaftlichen Eliten haben ihren moralischen Kompass verloren. Es wäre nämlich anzustreben, dass die Männer und Frauen aus Syrien die Grundlage für ein syrisches Wirtschaftswunder werden. Dazu muss die Zerstörung ihrer Heimat gestoppt werden – ohne Wenn und Aber. Jeder, der freiwillig kommt – also genau die heute so verpönten, sogenannten Wirtschafts-Flüchtlinge, sollte dagegen willkommen sein. Diese Menschen brauchen einen geordneten Einreise-Modus.

Der richtige Gedanke für die Flüchtlinge wäre: Wir, die Industrie, werden alles daran setzen, unseren Beitrag zu leisten, die Kriege auf der Welt zu beenden. Dann können die Menschen dort arbeiten, wo sie leben. Dazu werden wir demnächst ein Werk in Syrien eröffnen – und die Arbeiter nach europäischem Tarif bezahlen. Dann brauchen sie nämlich nicht mehr die einzig verfügbaren Jobs in der Region annehmen – nämlich jene als Söldner. Das Töten ist dort nämlich das einzige Business, das funktioniert. Die globalen Unternehmen sind gerne weltweit tätig – wenn sie nämlich Fördergelder von den Staaten bekommen. Dabei wird weniger gefragt, wie korrupt die Regierungen sind. Wichtig sind Sicherheitsgarantien und möglichst niedrige Löhne.

Außerdem könnte die Industrie sagen: Wir werden keine unserer Produkte an Terroristen oder Staaten verkaufen, die den Terror unterstützen. Mögen die religiösen Monarchen aus Saudi-Arabien oder aus Katar mit den schönsten Autos fahren – BMW und Mercedes wollen wir dort nicht sehen. Man muss sich schon lange fragen, warum Toyota nichts dagegen unternimmt, dass man immer wieder Bilder mit den IS-Pickups der Marke Toyota sieht. Diese Autos werden im Terror-Krieg eingesetzt. Damit hat niemand ein Problem.

Die Konzerne könnten außerdem sagen: Wir werden unser Sport-Sponsoring in jenen Staaten stoppen, die den Terror finanzieren oder die Arbeiter ausbeuten. Daher wird der Mercedes-Stern nicht auf dem Trikot der deutschen Fußball-Nationalmannschaft prangen, wenn sie auf den blutgetränkten Fußballfeldern der Stadien in Katar auflaufen.

Der Vergleich mit den Gastarbeitern ist völlig falsch: Damals wurden die Gastarbeiter gezielt geholt – weil Daimler, BMW, Opel oder VW vorher Zusagen gegeben haben, eine bestimmte Anzahl an Mitarbeitern zu beschäftigen. Wer nach Deutschland kam, kam nicht, weil die Türkei zerbombt wurde. Er kam auch nicht ins Niemandsland und musste monatelang ohne Arbeitsgenehmigung herumsitzen. Er kam zum Daimler oder zu Opel – und wurde dort umgehend fair bezahlt und auf natürliche Weise integriert.

Seit längerem bringen Wirtschaftsführer und Manager die Legende in Umlauf, dass die Flüchtlinge ein Segen seien, weil sie dann als Arbeitskräfte einzusetzen seien. Arbeitsministerin Andrea Nahles hat zur Ernüchterung aller darauf hingewiesen, dass nur jeder Zehnte der Flüchtlinge direkt in die Arbeit oder die Ausbildung kommen kann. Um die Leute in Arbeit oder Ausbildung zu bringen, muss der Staat die Kosten übernehmen. Man fragt sich: Würde Zetsche seine Empfehlung aufrechterhalten, wenn man ihm vorschlägt, Daimler möge die Kosten für die künftigen Arbeitskräfte übernehmen – vom Sprachkurs über die Ausbildung bis hin zur Berufstauglichkeit? Und das ganze müsste vom global erwirtschafteten Gewinn Daimlers oder von BMW bezahlt werden – ohne staatliche Fördergelder oder Refundierungen?

Wenn Daimler in Deutschland Facharbeiter braucht, muss sich das Unternehmen mit all seinen Lobby-Ressourcen bei der Politik um eine gezielte Einwanderungspolitik bemühen. Zugleich müsste Daimler den neuen Arbeitern Top-Löhne in Aussicht stellen, damit diese wirklich motiviert sind.

Krieg und Zerstörung sind nicht der Nährboden für Motivation. Es kann nicht sein, dass der Mensch auf seinen ökonomischen Wert für den Arbeitsmarkt reduziert wird. Kultur, Religion, Familie und Heimat sind Teil der menschlichen Existenz.

Viele Konzerne haben sogenannte Corporate Social Responsability (CSR)-Programme. Damit tun die Konzerne Gutes und reden davon. Sie sollten jedoch von ihren Investoren – die so global sind wie die Kriege – gezwungen werden, ethische Kriterien als integralen Bestandteil ihrer Unternehmens-Strategie zu implementieren. Der größte Pensionsfonds der Welt, jener aus Norwegen, tut dies bereits – und hat kürzlich beispielsweise vier asiatischen Palmöl-Firmen das Investment entzogen, weil das Produkt die Umwelt zerstört.

Man könnte auch die Boni der Manager danach bemessen, wie ethisch-kreativ ihre Strategie ist. Dann würde man weniger effekt-heischende Sonntags-Erklärungen hören, sondern endlich Taten sehen.


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