Über die Wahlen in Spanien berichtet der Korrespondent der Deutschen Presseagentur, Emilio Rappold:
Selten stand die 72-jährige Freundschaft von María Pilar und Concepción so sehr auf dem Prüfstand wie dieser Tage. Schuld sind die Parlamentswahlen in Spanien und der konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy. Wenige Meter vor der Wahlurne versucht María (85) an diesem sonnigen Sonntag im Madrider Bezirk Chamberí noch, ihre gleichaltrige Freundin umzustimmen. «Wie kannst nur für Rajoy stimmen? Du bist ja senil», schimpft sie. Concepción kontert kurz und entschieden: «Ach, lass mich in Ruhe!»
Die Diskussion der beiden langjährigen Freundinnen spiegelt die Gräben in der Gesellschaft und der Politik des Landes wider - genau wie die Wahlergebnisse vom Sonntag. Rajoys Volkspartei (PP) bleibt zwar stärkste Kraft, erleidet aber im Zuge von Krisen und Korruptionsaffären herbe Verluste. Das stabilitätsfördernde und zuletzt heftig kritisierte Zweiparteiensystem von PP und Sozialisten (PSOE) geht nach Jahrzehnten in die Brüche. Die «neue Ära», die die Zeitung «El País» am Sonntag auf Seite eins ankündigte, wird am späten Abend endgültig eingeläutet.
Nach der breitesten Stimmenstreuung der vergangenen Jahrzehnte herrschte in Spanien unter Analysten großes Rätselraten. Äußerst komplizierte Koalitionsverhandlungen zeichnen sich ab. Fest steht, dass zwei «neue» Parteien, die liberalen Ciudadanos (Bürger) und die linksgerichtete Podemos (Wir Können) des jungen Politikdozenten mit dem Pferdeschwanz, Pablo Iglesias (37), nach ihrem ersten Einzug ins Parlament gleich auf Augenhöhe mit PP und PSOE verhandeln können.
Die «Sehnsucht nach Erneuerung» der krisengebeutelten Spanier, wie die Zeitung «El Mundo» schrieb, setzte sich am Wahltag durch. «Ich wähle Podemos, auch wenn mein Vater sagt, dass ich so für das Chaos mitverantwortlich sein werde. So geht es einfach nicht weiter», sagte die 19-jährige Kunststudentin Ana kurz vor der Stimmabgabe.
In den schon vormittags sehr gut besuchten Wahllokalen in Madrid waren sowohl Aufbruchstimmung als auch Sorge zu spüren. Die Zeitung «El Mundo» hob das «Risiko der Unregierbarkeit» in der viertgrößten Volkswirtschaft der EU hervor, «La Vanguardia» sprach unterdessen von «Ungewissheit». Der frühere sozialistische Ministerpräsident Felipe González (1982-1996) sagte zuletzt mehrfach: «Unser Parlament wird in Zukunft «italienisch» sein, nur ohne Italiener.»
Die sogenannten «partidos emergentes», die aufstrebenden Parteien, wurden auch und vor allem von vielen jungen Erstwählern unter den gut 36 Millionen Stimmberechtigten unterstützt. Die Mehrzahl Podemos-Gründer und Anhänger der Partei kommen von der Bewegung der «Empörten». Aber nicht nur die Jungen, auch ältere Spanier erfinden ihr Land dieser Tage neu. Hinter den hellgrauen Vorhängen der Wahlkabinen sah man am Sonntag sehr viele Gehstöcke, sehr viele Rollstühle. «Viel mehr als früher», meinten Beobachter.
«Ich habe oft PP gewählt, aber man lernt ja nie aus. Ich will die Korrupten aus dem Moncloa-Palast (dem Regierungssitz) weg haben und wähle daher Podemos - und ich bin nicht die einzige meiner Generation», sagte María Pilar. Die Hoffnungen der forschen Rentnerin bekamen am Abend weiteren Auftrieb. Mehrere Kommentatoren sprachen von einem «Debakel» Rajoys. Der 60-Jährige wird weiterregieren wollen, aber mit welchen politischen Partnern?
Nach der konstituierenden Sitzung des neuen Congreso de los Diputados am 13. Januar haben die Abgeordneten 60 Tage Zeit, um den Regierungschef zu bestimmen. Andernfalls drohen Neuwahlen. Bei der Zusammenführung der zerstrittenen Parteien - eine «große Koalition» schlossen die Sozialisten kategorisch aus - könnte König Felipe VI. in den nächsten Tagen und Wochen eine wichtige Rolle zukommen.
Im Nachbarland Portugal löste jüngst eine relativ schwache linke Regierung in einer ähnlichen Situation die Konservativen ab. Anders als dort ist in Spanien immerhin der Staatshaushalt für 2016 bereits verabschiedet.