Politik

Merkels Flüchtlingspolitik: Wie aus politischen Fehlern politische Schuld entsteht

Lesezeit: 12 min
08.02.2016 00:06
Der Zustrom der Flüchtlinge ist ein Problem, da er bestehende Probleme in Deutschland massiv verschärft. Die Flüchtlinge treffen auf eine seit Jahrzehnten neoliberal ausgedörrte staatliche Infrastruktur. Zudem ist der Wohnungsmarkt stark geschrumpft. Doch Angela Merkel reagiert nicht.
Merkels Flüchtlingspolitik: Wie aus politischen Fehlern politische Schuld entsteht

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Der Zustrom der Flüchtlinge ist ein Problem und deshalb selbstverständlich Anlass zu handlungsleitender Besorgnis, da er sehr rasch erfolgt und zunehmend ein Massenproblem ist. Allein 2015 belegen die Zahlen 1,1 Mio. Flüchtlinge – und der Zustrom geht weiter. Dieser besteht aus Menschen, die traumatisiert und/oder krank sind und somit großer personaler und damit auch finanzieller Zuwendung bedürfen. Vollkommen wertfrei und sachlich gesehen, besteht er aus Fremden, die unsere Sprache nicht sprechen (organisierbar), die unsere „Alltagskultur“ erst erlernen müssen (organisierbar), die großenteils berufliche Qualifikationen erwerben müssen (organisierbar), die aber aus einer jahrhundertealten religiösen, sozialen und kulturellen Prägung kommen, die ihnen hier im Sinne der Integration enorme Anpassungsprozesse abverlangt und uns eine enorme, auch selbstkritische Geduld. Diese erfordert aber, wie ich schon schrieb, im Extremfall auch harten, sanktionsbewährten Zwang, z.B. bestimmte Formen der Frauenfeindlichkeit, religiöser und/oder moralischer Intoleranz, Antisemitismus, Gewaltbereitschaft.

Dabei müssen wir jedoch sehen, dass diese Dinge auch bei uns harte, teilweise auch noch sehr junge Lernprozesse waren – gerade bei der CDU/CSU, die jetzt einen Integrationsvertrag fordert. Die deutsche Polizei und Justiz darf nicht untätig bleiben („Die sind halt so“), genauso wenig, wie sie ihre bisherige Fast-Untätigkeit bei rassistischer Gewaltkriminalität weiterführen darf („Ein fremdenfeindlicher Hintergrund kann erst einmal nicht angenommen werden“). Jedenfalls ist das heute eine neue Qualität, die sich mit „Wir schaffen das!“ nicht wegreden lässt, auch nicht mit „wir haben die Wiedervereinigung geschafft“ (auch nur teilweise), „wir haben die Gastarbeiter-Millionen integriert“ (auch nur teilweise), „wir haben nach dem Krieg 12 Millionen Flüchtlinge integriert und 20 Millionen Menschen ein Dach über dem Kopf verschafft“.

Gerade zu dem Letzteren muss gesagt werden: Das ging häufig nicht ohne Konflikte, bis hin zum Hass. Und es war eine völlig andere Situation: gemeinsame Not, gemeinsame Schuld. Und die Gastarbeiter waren Menschen mit gleicher Sprache und relativ gleicher Kultur sowie Sozialisation. Dieser Vergleich taugt wenig zu irgendeinem Optimismus, aber er taugt zu einer harten Frage an die Gegenwart: Wie hat der damals arme Staat Millionen Ausgebombten und Flüchtlingen aufnehmen können, während er heute angeblich nicht einmal in der Lage ist, den Wegfall von Sozialwohnungen zu kompensieren? Es gibt eine schlichte und die Politik heute beschämende Antwort: Damals gab es einen Staat und Politiker, die sich dem Volk verpflichtet fühlten. Damals gab es „Soziale Marktwirtschaft“, noch keinen Neo-Liberalismus als staatliche Kapitalismus-Religion, und es gab kein Barmen der Politik vor den von ihr selbst freigelassenen „Märkten“ (der „Bestie Finanzkapital“, Roubini) – darüber sollten wir doch einmal nachdenken.

Der Zustrom trifft auf eine seit Jahrzehnten neoliberal ausgedörrte, staatliche Infrastruktur (Verwaltung, Schule, Justiz, Politik, Freizeitsport, und wie wir Silvester sahen, vor allem auch Polizei). Er trifft auf einen vor allem unter Merkel stark geschrumpften „sozialverträglichen“ Wohnungsmarkt (von 2006-2015 von 2,5 Millionen auf 1,5 Millionen) und auf eine immer noch nicht vorhandene Struktur der Integrationsarbeit, unter der schon frühere Einwandererwellen litten. Auch einen nur scheinbar guten Arbeitsmarkt gilt es zu beachten: nämlich real 5 Millionen statt statistisch gelogen 3 Millionen Arbeitslosen sowie den in der EU höchsten Anteil sogenannter prekärer Arbeitsverhältnisse. Vieles davon wird aktuell durch die breite und intensive Hilfsbereitschaft von Bürgern, Hilfsorganisationen und lokalen Staatsbediensteten, aber auch von Polizei und Bundeswehr, überdeckt. Es suggeriert ein „helles“ Deutschland, das zunehmend durch die Berliner Politik geschrumpft wird.

Der Zustrom der Flüchtlinge ist ein Problem, da er Probleme sichtbar macht und radikal verschärft, die bei uns schon lange und zunehmend existieren. Leider geschieht dies ohne hinreichende Empathie, vor allem nicht bei der plötzlich angeblich empathischen Kanzlerin. Probleme, die in den letzten Jahren zur Schande eines Staates dramatisch zugenommen haben und zunehmen werden, der von Werten spricht und die „Würde des Menschen“ als höchstes Gut deklariert: Obdachlosigkeit, Wohnungsnot (vor allem junger Familien und alter Menschen), Armut (auch Altersarmut), zunehmende Verelendung der Alten in den Heimen und des Personals dort, Suppenküchen, Tafeln, breite Hartz-IV-Not (vor allem für 1,5 Millionen Kinder), sinkende Gesundheitsversorgung, steigende Bildungsungerechtigkeit, mangelnde Freizeit- und Sportmöglichkeiten, Abbau des Bürgerschutzes durch „Verschlankung“ der staatlichen Verwaltung (z.B. bei Verbraucherschutz und -beratung, bei Polizei, bei Justiz, was ein faktisches Wegbrechen des Rechtsstaates vor allem für nicht so betuchte Bürger ist), eine dramatische Spreizung der Einkommen und Vermögen, der größte Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse und der größte Unterschied zwischen Frauen- und Männerlöhnen in der EU, ein zunehmendes Abschaffen des Arbeitsschutzes und ein Abnehmen menschlich zuträglicher Arbeitsverhältnisse, zunehmende Landflucht. Insgesamt ist das eine beschämende Liste u.a. für Frau Merkel und Herrn Schäuble (die schwarze Kehrseite der Schwarzen Null). Das kann in Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise und der plötzlichen Bereitstellung vorher angeblich nicht vorhandener Milliarden zu sozialen Auseinandersetzungen führen. Es ist jedenfalls zynisch, jetzt nach außen von Empathie und Solidarität zu reden, während u.a. die Regierungen Merkels seit Jahren dieses Gemeinwesen, dessen Wohl sie verpflichtet sind, zunehmend entsolidarisieren und dem Investmentkapital überantworten.

Zur Illustration für die bisherige Abwesenheit von Empathie bei Frau Merkel und Herrn Schäuble zitiere ich einen Artikel über eine „Tafel“:

„Für die Namenlosen am Rand der Gesellschaft, für Rentner, Geringverdiener, Alleinerziehende, Asylbewerber, Sozialhilfe-Empfänger und andere Personen in einkommensschwachen Situationen, ist die Tafel ein Licht in dunkler Nacht. Eine leuchtende Laterne in Zeiten sozialer Not und Ausweglosigkeit. Ein fast schon märchenhaft anmutendes `Tischlein-deck-dich` für die Ärmsten der Armen, denen auf diese Weise in Zeiten sozialer Gleichgültigkeit und gesellschaftlicher Empathielosigkeit ein Stück lebensrettende humanitäre Grundwärme zuteil wird.“ (Gütersloher Publikumszeitschrift Carl, Heft 12/2015, S. 35) Es ist interessant, dass angesichts des Terrors in Europa jetzt davon geredet wird, dieser wolle unsere Gesellschaften spalten – während diese Gesellschaften sozial zunehmend längst gespalten sind, am radikalsten durch die „empathische Politik“ von Merkel und Schäuble in den Euro-Krisenländern.

Das so zu sehen, führt zu der Einsicht, dass wir über die reine Flüchtlingsproblematik hinaus, aber auch gerade in ihrem Interesse, umgehend eine materielle, personelle und organisatorische Anstrengung übernehmen müssen, um all das so schnell wie möglich zu tun, was nötig ist: vor allem Wohnungsbau, Schule und Kita, Kindergärten, Lehr- und Ausbildungspersonal, Berufsausbildung, Sozialbetreuung usw. Die bisher bereitgestellten und im Bundeshaushalt 2016 eingeplanten Summen sind teilweise lächerlich, typische Placebo-Politik der letzten Jahre – auch der Großen Koalition. Vor allem die Versäumnisse der Vergangenheit müssen ganz unabhängig von der Flüchtlingsfrage anerkannt und aufgearbeitet werden. Das wäre ein Gradmesser dafür, ob die plötzliche „Merkelsche Empathie“ nur ein populistisches Manöver ist oder das Gesicht einer „neuen Merkel“. Bisher aber fällt mir zu der Politik der letzten Monate nur ein Spruch von Reich-Ranicki ein: „Man düngt keinen Garten, indem man durch den Zaun furzt.“ Das bedeutet also, das all das zu einer Abkehr von Merkels bisheriger neoliberaler „Verschlankung“ staatlicher Tätigkeiten und Strukturen führen muss, denn der bisherige Markt und Merkels „marktkonforme Demokratie“ können das nicht richten. Es geht also um die Wiedereinführung der „Sozialen Marktwirtschaft“ – eine nun wirklich „unabdingbare Reform“.

Die materiellen Konsequenzen des bisherigen Abbaus staatlicher Tätigkeiten (z.B. Absenken der öffentlichen Investitionen von früher stets 10 auf 5 Prozent in den letzten Jahren) führten und führen noch immer auch ohne Flüchtlinge neben der Zersetzung des sozialen Gemeinwesens zu einer Auflösung staatlicher Infrastrukturen zu Lasten unserer wirtschaftlichen Leistungs- und Zukunftsfähigkeit. Sie sind also z.B. ein viel größerer „Bruch der Generationengerechtigkeit“ als zusätzliche Schulden, die immer auch eine Saldengröße sind, ein vererbbares (Privat-)Vermögen darstellen, wenn auch sozial sehr ungerecht verteilt. Ich folgere daraus, dass die sogenannte „Schuldenbremse“ völlig unhaltbar und kontraproduktiv ist, wie sie Merkel und Schäuble mit der ökonomisch fatalen Gleichsetzung von Privat- und Staats-/Werksschulden der EU angepriesen haben.

Das gilt natürlich dramatisch verschärft für die jetzige Situation bei uns, bei anderer Verteilung der Flüchtlinge auch in den anderen EU- bzw. Euro-Staaten: Ohne Abschied von der statistisch erschwindelten Schwarzen Null und ohne neue Schulden ist das Problem nicht lösbar. Wann, wenn nicht jetzt bei fast 0 Prozent Zinsen, und wo, wenn nicht bei uns in unserer relativ stabilen ökonomischen Situation? Ich sehe aber im Bundestag keine Bewegung in dieser Sache, im Gegenteil: Der jüngste CDU-Parteitag hat die klare und harte Einsicht in die auf uns zukommenden Aufgaben und Belastungen just unter der „Wir schaffen das“-Phraseologie versteckt.

Der Abschied von der falschen „Schuldenideologie“ scheint mir unausweichlich, der vor allem in Deutschland relativ problemlos möglich wäre. „Nur mehr Schulden“ lösen jedoch nicht das bisherige Gerechtigkeitsproblem, da über Jahre Steuern auf Vermögen, hohe Einkünfte, Veräußerungsgewinne, hohe Erbschaften und hohe Kapitaleinkünfte gesenkt wurden, während Normaleinkünfte aus Arbeit relativ und in der Summe stärker belastet wurden. Das geschah vor allem durch die tendenziell unsozialen Verbrauchssteuern sowie die Arbeitnehmeranteile an Sozial- und Krankenkassen, die ständig stiegen. Die Folge war nicht nur ein generelles, immer Auseinanderklaffen von Arm und Reich mit der Folge eines explosiven Anwachsens der Finanzspekulation, sondern auch ein weiteres ökonomisch eher widersinnigen Auseinanderdriften der Einkünfte aus Arbeit und aus Vermögen (arbeitsloses Einkommen). Bei einer Finanzierung der Aufgaben nur aus Steuern würde also selbst bei anteiliger Belastung aller Bürger und Institutionen diese strukturell ungerechte Belastung der kleinen und mittleren Einkommen nicht geändert. Angesichts der auflaufenden finanziellen Zusatzbelastungen ist dies aber ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem. Nichts gefährdet den Integrationsprozess mehr als eine ungerechte Verteilung der Lasten. Und nichts wäre deshalb dringlicher und gerechter angesichts der gewaltigen Haushaltslasten, die auf uns zukommen, als die finanzielle Belastung auf die gesamte Bevölkerung zu verteilen – auch die „Reichen“.

Wenn Frau Merkel Steuererhöhungen definitiv ausschließt – übrigens neben dem „keine Obergrenze“ die erste und einzige (und neoliberal kennzeichnende) konkrete Festlegung der Kanzlerin bisher in der Flüchtlingsfrage –, dann ist klar, dass sie diese elementare Voraussetzung für ein Gelingen schon mal „kurzsichtig oder zynisch“ übergeht. Wenn Frau Merkel locker sagt „Wir schaffen das“, glaube ich genau zu wissen, wen sie mit „wir“ meint. Vor mehr Schulden steht also die Notwendigkeit, mehr Steuergerechtigkeit zu schaffen und damit mehr Steuereinnahmen zu „generieren“, was natürlich auch über eine endlich wirkungsvolle Bekämpfung des Steuerbetrugs und der Steuerflucht geschehen sollte.

Uns zwingt also die Bewältigung der Flüchtlingsprobleme zu einer grundsätzlichen Reform der staatlichen Einnahme- und Ausgabenpolitik. Auch dies kann aber aus parteitaktischen Gründen bei uns kaum diskutiert werden. Jede Erwähnung von eventuell notwendigen Steuererhöhungen wird von Politik und Medien mit der Begründung negiert, dies zerstöre die Willkommenskultur. Dabei wird diese aktuell und zukünftig eher durch untätige Politik untergraben. Alle die optimistischen Äußerungen betreffenden Lösungen mit Schwarzer Null und ohne Steuererhöhungen – leider auch von sogenannten „wissenschaftlichen“ Ökonomen – blenden die Möglichkeit oder die sich abzeichnende Wahrscheinlichkeit aus, dass die Weltwirtschaft und damit die EU und ganz speziell unsere Wirtschaft Rückschläge erleiden kann und wird. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel, die sogenannte „Zentralbank der Zentralbanken“, warnt in letzter Zeit verstärkt z.B. vor Gefahren aus den Schwellenländern und besonders vor erneut drohenden Risiken im Finanzsektor.

Geld treibt alles andere an. Das sogar viele wissenschaftliche Ökonomen, z.B. Herr Fratzscher, sagen, wir schafften das auch mit Schuldenbremse und ohne neue Steuern, zeigt die ganze Realitätsblindheit dieser Computer-Ökonomen, die zu dem vielen Unsinn führt, den sie produzieren – zum Leidwesen der Politik, die ihrer fundierten Beratung dringend bedürfte. Diese „illusionäre“ Sicht der Finanzprobleme bedeutet mit fast 100-Prozent-Garantie, dass man letzlich an die staatlichen Leistungen für die Normalbürger herangeht, z.B. durch Belastung der Sozial- und Rentenkassen – wie man es schon nach der Wiedervereinigung tat, ebenfalls unter Federführung Schäubles.

Da die bisherigen und angedachten Überweisungen an die Kommunen bei weitem nicht einmal die rein materiellen Zusatzkosten decken, werden zunehmend die Länder- und Gemeindehaushalte belastet. Zumal in den Gemeinden schon seit Monaten oft über 50 Prozent der Personalkapazität für die Flüchtlingsarbeit eingesetzt wird, was zur drastischen Minderung bei den normalen kommunalen Leistungen für die Bürger direkt und für die kommunale Infrastruktur führt, was wieder einseitig den normalen Bürger betrifft. Meine Nachbarn in Blankenese bleiben weitgehend verschont, sie werden z.B. weder beim Wohnen, noch in der Bildung, weder in der Krankenversorgung noch bei der Arbeit belastet.

Es gilt verschärft die Sachaussage: Nur der Reiche kann sich einen armen Staat leisten. Das bisher Gesagte gilt für die deutsche Innenpolitik und verstärkt auch für die entsprechenden EU-Staaten, wenn die EU doch noch zu einer solidarischen Lösung der Flüchtlingsprobleme findet. Denn die Änderung bzw. Abschaffung dieser Schuldenbremse ist notwendig für alle EU-Staaten, da ihre Einhaltung auch ohne Flüchtlingsausgaben für fast alle Staaten schlicht eine Illusion ist. Das traut sich bisher nur keiner zu sagen.

Die von mir skizzierte Erweiterung des notwendigen finanziellen Spielraums der Staaten gilt zusätzlich für eine akute außenpolitische Notwendigkeit: „Bekämpfung der Ursachen“ heißt zuerst einmal, schnellstmöglich dem UNHCR (Flüchtlingshilfswerk der UN) und anderen Hilfsorganisationen (z.B. dem Roten Kreuz) mit zweistelligen Milliardenbeträgen zu helfen, sofort die elenden Lebensbedingungen in den Lagern rund um Irak, Syrien und in den afrikanischen Krisengebieten deutlich zu verbessern. Unabhängig von unserer Haltung gegenüber der Türkei zählt dazu natürlich auch die Türkei. Die Gelder sollten sowieso nicht die zentralen Regierungen erhalten, sondern die Hilfsorganisationen vor Ort oder insofern Regierungsstellen dort arbeiten, auch diese. Das ist das politisch unverständlichste und aktuell unmoralischste Versagen der „westlichen Wertegemeinschaft“, also auch der Bundesregierung. Um die große Unvernunft dieses Versagens auch in Verbindung mit der Terror-Bekämpfung zu verdeutlichen, zitiere ich den bekannten syrischstämmigen deutschen Autor Rafik Schami aus seinem Interview im „Kölner Stadtanzeiger“, das auch das Versagen der arabischen Anrainerstaaten thematisiert. Denn denen liefern unsere Politiker lieber Waffen statt endlich einmal „arabische Solidarität“ mit den Flüchtlingen von dort einzufordern. So finanzieren wir hier die Flüchtlinge, die u.a. mit deutschen Waffen zu Flüchtlingen gemacht wurden und werden. Wo ist da in Berlin noch ein nennenswerter Rest politischen Verstandes?

Wenn ich die Bilder von den vielen Flüchtlingen aus Syrien sehe, empfinde ich als erstes eine Wut. Denn die arabischen Nachbarn lassen ihre Brüder und Schwestern in Syrien im Stich. Dabei gibt es Araber, die haben so viele Milliarden, mit denen sie nichts mehr anfangen können. ... In der EU gibt es ein massives Scheitern, ein Chaos. Schon vor Jahren habe ich gesagt: Bitte, helft vor Ort. Dann würden die Flüchtlinge dort auf ewig mit der westlichen Demokratie verbunden sein. Jedem Extremisten würden sie sagen: Geh weg, denn der Westen hat uns das Überleben ermöglicht – wir wären krank, ohne dessen Medikamente, wir wären hungrig, ohne dessen Hilfe. Das wäre tausendmal vernünftiger gewesen, als zu warten, bis der Strom der Flüchtlinge nach Europa durchbricht.“

Diese Hilfe ist auch deshalb akut notwendig, weil das Flüchtlingsproblem uns bleiben wird. Es wird sich möglicherweise sogar noch dramatisch steigern. Fachleute prophezeien zumindest für 2016 noch einmal eine Million Flüchtlinge. Im Iran warten z.B. 4-5,5 Millionen Afghanen auf den Absprung, die dort in elenden Verhältnissen leben. Im Jemen sind jetzt schon 1,5 Millionen auf der Flucht. Selbst die EU-Kommission rechnet bis Ende 2017 mit weiteren drei Millionen neuen Flüchtlingen, von denen natürlich nicht alle anerkannt werden bzw. hier bleiben, ähnlich kalkuliert die Deutsche Bundesbank in ihrem „Monatsbericht 12/2015“. Die Politik meint aus „klimatischen“ Gründen, das verschweigen zu müssen.

Natürlich muss die EU-Außenpolitik zur „Bekämpfung der Ursachen“ insgesamt einer gründlichen Revision unterzogen werden. Ich nenne hier nur Stichworte: drastische Einschränkung des Waffenhandels, Korrektur der rein ökonomisch forcierten Globalisierungspolitik, Eintreten für eine gerechte Welthandelspolitik (WTO) und Änderung der EU-Handelspolitik mit den Schwellen- und Drittländern vor allem in Afrika. Das gilt im Besonderen für die oft von der EU erpressten Freihandelsabkommen. Es bedeutet auch direkt und indirekt eine neue EU-Agrarpolitik einschließlich eines Verbots der Nahrungsmittelspekulation der Banken. Natürlich geht es bei „Ursachenbekämpfung“ auch um TISA und TTIP. Schließlich muss eine fundierte Klimapolitik umgesetzt werden, da reicht es nicht, sich im roten Anorak auf dem Grönland-Eis fotografieren zu lassen. Das alles muss flankiert werden durch eine positive Stärkung der UNO durch die EU. Die UNO wird gerade angesichts der Flüchtlingsproblematik immer wichtiger – und wir haben nur sie. Schließlich muss eine Eindämmung der „Bestie Finanzkapital“ in Masse und Bewegungsspielraum ernsthaft angegangen werden. Denn alle Prozesse, die zu Fluchtbewegungen führen, haben ihre Ursache auch im frei beweglichen, anlageintensiven, absolut amoralischen und riesenhaften Finanzkapital: Kriege, Hunger, Klimakatastrophen, Wassermangel, Terror, Gewalt, politischer Despotismus, Korruption. Ohne unser Zutun und ohne die Finanzindustrie gäbe es das alles heute so und in diesem Umfang nicht.

Ganz unter geht ein internes europäisches Flüchtlingsproblem: Aus den von der Troika sozial kaputtsanierten Euro-Krisenstaaten, Irland, Spanien, Portugal, Griechenland, teilweise auch Italien, flüchten jedes Jahr 150.000-250.000 Jugendliche, oft die gut Ausgebildeten und mental Aktiven: die Iren in die USA, die anderen meistens zu uns, auch eine Art Ausbeutung – abgesehen davon, dass die Erholung dieser Staaten so kaum möglich ist. Aber Menschen, Qualifikationen, Motivationen tauchen in den Excel-Tabellen dieser „Wissenschaftler“ kaum oder gar nicht auf. Wir haben das Riesen-Problem der Arbeitslosigkeit, vor allem der Jugendarbeitslosigkeit in diesen Ländern (durchschnittlich 50 Prozent), aber auch in der EU insgesamt (durchschnittlich 20-25 Prozent).

Ähnliche Bilder haben wir in Rumänien und Bulgarien, wo die nächsten „Umzugswellen“ abzusehen sind – abgesehen vom immer noch nicht befriedigend gelösten Roma-Problem. Könnte es sein, dass der Unwille vieler Länder gegenüber jungen Flüchtlingen auch daher rührt? Was wäre, wenn unsere Euro-Strategen, an der Spitze die plötzlich so empathische Merkel und der kalte Buchhalter Schäuble, die vielen Spitzen-Sitzungen des letzten Sommers zu Griechenland genutzt hätten, sich auch mal dieses fundamentalsten Problem Europas anzunehmen, statt es durch sozial bösartige „Reform-Diktate“ noch zu verschlimmern, wie man den bereits Verarmten dieser Länder noch 3 Prozent Rente wegnimmt oder 5 Prozent Mehrwertsteuer mehr aufbürdet. Während man die „Reichen“ natürlich nicht anfasst und z.B. für die Jugendarbeitslosigkeit 2013 im EU-Haushalt ein Programm von 8 Milliarden Euro auflegte (ein verschwindender Bruchteil der Bankenrettung). Empathie? Was für eine Garde von Politikern. Wir wäre es, die jetzt notwendigen materiellen Anstrengungen, z.B. Wohnungsbau, zu einem europäischen Investitionsprogramm zu machen? Diese Herrschaften glauben an „die Märkte“. Dabei schreiten auch im Süden Europas seit langem massive Dürre-Probleme und Wüstenbildungen voran und führen schon jetzt zu massiven Klima-Wanderungen.

Jeder möge beurteilen, ob diese von mir skizzierte Politik richtig und durchführbar ist. Ich habe natürlich meine Zweifel angesichts der realen ökonomischen Machtverhältnisse und der Qualität unseres politischen Personals in Kenntnis, Wahrnehmung, Gestaltungswillen und ideologischer Lastigkeit. Aber ich zähle das hier auf, um dieses „die Ursachen bekämpfen“ der EU und der Bundesrepublik offensichtlich zu machen: die Verlogenheit dieser so vollmundig von Merkel beschworenen „christlichen Wertegemeinschaft“. Ich zähle das alles auf, um zu zeigen: Bisher sieht unsere politische Elite das Problem nicht hinreichend, oder sie haben Angst vor den Lösungen, oder sie reicht – die politisch übelste und explosivste Strategie – das alles mal wieder den unteren 50 oder 70 Prozent der Bevölkerung weiter.

Die von mir zentral verortete Frage der sozialen Gerechtigkeit bei der Lösung der Flüchtlingsprobleme begründet sich auch aus staats- bzw. verfassungsrechtlichen Sachverhalten. Am Beispiel Deutschlands lässt sich zeigen, dass eine vorrangige Verpflichtung der politisch Verantwortlichen, dem „Wohle des Deutschen Volkes“ zu dienen, bei gleichzeitigem Respekt vor dem Asylrecht Bestand haben muss und auch kann.

Dieser Beitrag ist der zweite in einer Serie von fünf Teilen von dem Ökonom Reinhard Crusius zum Thema der deutschen Willkommenspolitik, die die Deutschen Wirtschafts Nachrichten in loser Folge veröffentlichen.

Lesen Sie hier Teil 1: Willkommens-Kultur ist kein politischer Plan, sondern Größenwahn.

***

Reinhard Crusius, geboren 1941 in Gütersloh; viele Jahre Arbeit als Schriftsetzer; Studium über Zweiten Bildungsweg in Hamburg; Diplom-Volkswirt, Dr. rer. pol.; Habilitation an der TU Berlin. Diverse Aufsätze, Rundfunkbeiträge und Veröffentlichungen.

Das Buch Rettet Europa, nicht nur die Banken! kann direkt bei Amazon oder direkt beim Tectum-Verlag bestellt werden. Außerdem ist das Buch natürlich im guten bewährten Buchhandel erhältlich.


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