Finanzen

Neue EU-Regeln: Versicherer werden weniger Risiken absichern

Lesezeit: 4 min
18.01.2016 00:13
Die neuen EU-Regeln von Solvency II werden dazu führen, dass Versicherungen weniger Risiken versichern werden. Die Regeln sind zu kompliziert und gefährden das ganze Versicherungs-Wesen in ganz Europa - mit unabsehbaren Folgen für Unternehmen und Konsumenten.
Neue EU-Regeln: Versicherer werden weniger Risiken absichern

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Seit dem 1. Januar 2016 ist das neue Regelwerk für Versicherungen, Solvency II, in Kraft.

Mit Solvency II will die EU zwei Ziele erreichen:

EU-weit sollen die Versicherungsunternehmen vergleichbar sein. Nur so könne der EU-weite Binnenmarkt  funktionieren.

In den Unternehmen müssen alle Risiken in allen Bereichen des Versicherungsunternehmens besser erkannt und besser abgesichert werden.

Die entscheidende Konsequenz: Die Versicherungsunternehmen werden künftig weniger  Risiken absichern als in der Vergangenheit.

ORSA sorgt für eine Begrenzung der Risikobereitschaft

Solvency II stellt das Risiko in den Mittelpunkt. Mindestens ein Mal im Jahr muss ein ORSA durchgeführt werden: Die Abkürzung steht für „Own Risk and Solvency Assessment“. ORSA ist ein umfangreicher Bericht, der alle möglichen Risiken in sämtlichen Abteilungen zu berücksichtigen hat und aus dem das Erfordernis an „Solvenzkapital“  - Solvency Capital Requirement SCR ­- abzuleiten ist.

Da ORSA alle Risiken erfassen muss, sind alle Mitarbeiter gefordert. ORSA kann auch kaum als Sonderprojekt einmal im Jahr durchgeführt werden, sondern ist in die laufende Arbeit und vor allem in die Planungsarbeit zu integrieren. Dies nicht zuletzt, weil ein ORSA auch außertourlich durchzuführen ist, wenn besondere Ereignisse den Jahres-ORSA in Frage stellen.

Der „Risiko-Manager“ hat nur die Koordination zu besorgen, den ORSA beschließen muss der Vorstand nach gründlicher Analyse. Die „Governance-Vorschriften“ von Solvency-II bestimmen ausdrücklich, dass nur die Beschaffung der Informationen, die „Risiko-Inventur“,  delegiert werden darf.

Bei der Erstellung des ORSA stehen naturgemäß die zwei großen Risiko-Faktoren im Vordergrund:

Die versicherungstechnischen Risiken, die sich aus den Versicherungsverträgen ergeben,

und die aus der Veranlagung resultierenden Risiken wie das Zinsänderungsrisiko, die Volatilität auf den Kapitalmärkten und die Schwankungen der Immobilienpreise. Solvency II stuft Staatsanleihen und vor allem Anleihen von EU-Staaten in Euro als sicher ein, im ORSA müssen die Staaten aber bewertet werden.

Zu evaluieren sind aber auch die Maßnahmen der Notenbanken,die Entwicklung der verfügbaren Einkommen der Privathaushalte und das Investitionsverhalten der Betriebe.

Der umfassende Charakter des ORSA bedingt, dass mögliche Gesetzesänderungen,  unternehmensspezifische Prozessrisiken, die Gefahr von Computerausfällen oder die Auswirkungen aus der Aufnahme neuer Produkte zu berücksichtigen sind.

Der für alle Bereiche tendenziell besonders vorsichtig festzustellende Kapitalbedarf zur Absicherung der Risiken und das zum anderen meist nur begrenzt verfügbare Kapital bleiben nicht ohne Folgen: Maßnahmen zur Reduzierung oder Absicherung der Risiken, die Definition von Limits, um die Risikotragfähigkeit des Unternehmen nicht zu überfordern, und die Notwendigkeit, größere Abgaben an Rückversicherer vorzunehmen, werden in Zukunft die Bereitschaft  vieler Versicherungen, Risiken abzusichern, deutlich dämpfen.

Die besonderen Widersprüche von Solvency II

Solvency II schreibt vor, dass der bereits erwähnte „Risiko-Manager“ die Risiken „erkennen, messen, überwachen und dem Vorstand berichten muss“, aber selbst die Risiken nicht managen darf, um unabhängig zu bleiben. Es handelt sich also um einen Manager, der nicht managen darf.

Auch beim Begriff ORSA besteht ein Widerspruch: ORSA ist ein „own assessment“, also die „eigene“ Risiko-Beurteilung durch das Unternehmen, ein ORSA  ist aber nur gültig, wenn die Aufsicht ihre Zustimmung gibt.

ORSA muss innerhalb von zwei Wochen nach der Beschlussfassung im Vorstand der Aufsicht vorgelegt werden, die beurteilt, ob die Maßnahmen zur Messung des Risikos ausreichen, ob die Ergebnisse plausibel sind, ob das Unternehmen über ausreichend Risikokapital verfügt, um die im ORSA erkannten Risiken zu bewältigen. Die Risiko-Analyse wurde in den Versicherungsunternehmen auch bisher gemacht, neu ist, dass die Behörde über die Qualität der Analyse entscheidet und Korrekturen vorschreiben kann.

Das „own“ hat eine besondere Bedeutung. Während Solvency II in allen Teilsparten mit einer Fülle von Vorschriften in die Arbeit der Unternehmen eingreift, sind die Versicherungen bei der Formulierung des ORSA frei, auf sich gestellt, „on their own“.  Das hat einen im System von Solvency II liegenden Grund.

Solvency II enthält umfangreiche Regeln für die Berechnung des Solvenzkapitals, die in einem eigenen DWN-Bericht dargestellt werden. Die Bestimmungen sind  in einer Standard-Formel  enthalten, die nicht alle Risiken berücksichtigt und zudem als „Standard“ nicht für alle Betriebe passen kann.  ORSA muss aber alle Risiken erfassen, die spezifische Situation des Unternehmens darstellen und daraus den eigenen, den „own“ Bedarf an Solvenzkapital ableiten.

ORSA ist ein Härtetest für die Standard-Formel. Weicht der mit ORSA ermittelte Kapitalbedarf vom Ergebnis der Standard-Formel deutlich ab, so bedeutet dies den Start für unter Umständen sehr aufwändige Maßnahmen: Dies kann die Notwendigkeit bedeuten, zusätzliches Eigenkapital bereitzustellen, oder aber auch bewirken, dass ein eigenes „internes Modell“ zu entwickeln ist, das auf Teilbereiche oder auf das Gesamtunternehmen abzustellen ist, aber nur mit Genehmigung der Aufsicht angewendet werden darf.

Die Solvenzbilanz stellt ausschließlich auf Marktwerte ab

Solvency II verpflichtet die Versicherungsunternehmen, eine eigene „Solvenzbilanz“ zu erstellen, die sich wesentlich von der traditionellen Bilanz nach dem Handelsgesetzbuch in Deutschland oder dem Unternehmensgesetzbuch in  Österreich unterscheidet. Dominiert in der HGB/UGB-Bilanz das Vorsichtsprinzip, so  ist die Bilanz nach Solvency II eine „ökonomische Bilanz“, die zur Gänze auf Marktwerten beruht, somit die Schwankungen auf den Märkten abbildet und größere Risiken enthält. Um diesen Effekt auszugleichen, bestimmt das neue Regelwerk umfangreiche Kapitalauflagen.

Im Sinne des Binnenmarkts müssen alle Versicherungen in allen EU-Staaten eine „Solvenzbilanz“ erstellen. Allerdings bleibt in Deutschland und in Österreich die HGB/UGB-Bilanz in der Regel die Basis für die Führung der Unternehmen, die Ergebnisse entscheiden über den Gewinn und dessen Verwendung. Die Gleichschaltung aller Versicherungen im Binnenmarkt erfolgt nur bedingt.

Angemerkt sei, dass die Versicherungsunternehmen nun Bilanzen nach HGB/UGB, nach dem Steuerrecht, nach Solvency II und nach der internationalen Rechnungslegung  IFRS, erstellen müssen und jedes System zu anderen Ergebnissen kommt. Auch erfolgen in allen Systemen immer wieder einschneidende Korrekturen.

In der Versicherungswirtschaft ist die Überregulierung besonders groß

Die Solvenz-Bilanz ist grundsätzlich die Basis für die Aufsichtsarbeit. Nur: Solvency II greift über Vorgaben in alle Bereiche ein und verpflichtet die Versicherungen, außerdem für sämtliche Aufgaben eigene Leitlinien, so genannte „policies“ zu formulieren, deren Einhaltung auch von der Aufsicht kontrolliert wird.  Solvency II wird also den Alltag in den Versicherungen entscheidend mitbestimmen.

Die Unternehmen müssen mehrere tausend Seiten an Vorschriften einhalten.  Die Regeln werden laufend ergänzt. Damit nicht genug: Die Finanzmarktaufsicht hat einen großen Ermessensspielraum bei der Interpretation der zahllosen Regeln. Kommt die Behörde zu dem Schluss, dass nicht regelkonform gehandelt wurde, fallen hohe Strafen an, die die Betroffenen aus der eigenen Tasche zahlen müssen, das Unternehmen darf nicht für die Mitarbeiter einspringen.

„Die Behörde“ ist nicht ganz der richtige Ausdruck, weil die Aufsicht von der dominierenden EU-Behörde EIOPA  und den 28 nationalen Institutionen der Mitgliedstaaten in Kooperation betrieben wird, man also von „den Behörden“ sprechen sollte.

Die allgemein beklagte Überregulierung in der EU trifft somit die Versicherungswirtschaft in besonderer Weise.

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF. 

Dies ist der erste Teil der vierteiligen „Solvency II“-Serie

Lesen Sie hier

Teil 2: Neue EU-Regeln: Versicherungen sollen Staats-Finanzierer werden

Teil 3: Neue EU-Regeln: Marktwerte für Verträge, die keinen Marktwert haben

Teil 4: Neue EU-Regeln: Versicherer können Risiko-Puffer nur schwer berechnen

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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