Politik

Merkel kann aufatmen: Osteuropäer sagen Aufstand wegen Flüchtlingen ab

Die Visegrad-Gruppe vertagt offenbar ihren Frontal-Angriff auf Angela Merkel in der Flüchtlingskrise. In einem erstaunlich zahmen Statement wird deutlich, dass die Osteuropäer auf Zeit spielen. Viel wichtiger ist für sie nämlich die Frage der Freizügigkeit nach Deutschland und Großbritannien.
16.02.2016 02:47
Lesezeit: 3 min

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Das Treffen der sogenannten Visegrad-Gruppe aus osteuropäischen EU-Staaten hat als Ergebnis ein sehr zahmes Statement hervorgebracht: Von dem von einigen erwarteten Frontalangriff gegen die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel ist wenig übrig geblieben. Zwar lieferten einige Teilnehmer nach dem Treffen ein paar markige Sprüche. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban etwa forderte eine „zweite Verteidigungslinie“ südlich seines Landes. Die Willkommenspolitik sei nicht nur gescheitert, sondern habe Terrorismus geschaffen und Angst geschürt.

Doch in der Sache wird die Idee der Osteuropäer, die Grenze von Mazedonien zu Griechenland abzuriegeln, jetzt nur noch als möglicher „Plan B“ angeboten. Im gemeinsamen Statement, das die Prague Post im vollen Wortlaut bringt, wiederholen die Regierungschefs letztlich die Thesen Merkels, dass nämlich die EU sich anstrengen müsse, dass die Außengrenzen in Griechenland gesichert werden müssten und dass die Türkei bewegt werden müsse, für die EU-Staaten das Flüchtlingsproblem zu lösen.

Damit dürfte klar sein, dass die Osteuropäer beim kommenden EU-Gipfel keine aggressive Front gegen Merkel aufbauen werden. Sie haben auch für ihre eigenen Länder keine unmittelbaren Folgen zu befürchten. Die Sicht, dass Merkel die Flüchtlinge und Einwanderer eingeladen habe, und daher alle ankommenden Personen nach Deutschland weitergeleitet werden, hat sich in Europa durchgesetzt. Solange den einzelnen Staaten keine Tricks von Deutschland drohen, wie sie aktuell Österreich erlebt, besteht für die Visegrad-Staaten kein Handlungsdruck.

Sie werden eher, wie in der EU üblich, auf Zeit spielen. So lange es keine Quote gibt, betrifft das Flüchtlingsproblem die Staaten auch nicht. Ungarn hat seine Grenzen abgeriegelt, auch Bulgarien baut einen Stacheldrahtzaun. Polen nimmt, wie Tschechien, weiter so gut wie keine Flüchtlinge auf. Die Slowakei klagt gar gegen die Quote und wird daher vorerst ebenfalls keine Flüchtlinge und Einwanderer aufnehmen.

Tatsächlich befinden sich die osteuropäischen Staaten in einem Dilemma: Sie können nicht fordern, dass die Freizügigkeit in der EU begrenz wird, weil ihre Bürger selbst davon massiv profitieren. In Österreich arbeiten laut offiziellen Zahlen seit 2013 bereits mehr Ungarn als Türken, wie der Standard berichtet. Die polnische Community in Großbritannien ist bereits eine der größten weltweit, Großbritannien hat sich neben den USA als Zielland für die Polen etabliert.

Daher fürchten die Osteuropäer, dass sie die Forderungen Londons nach Begrenzung der innereuropäischen Arbeitsmigration vor unlösbare Probleme stellen könnten. Denn die Osteuropäer, die jetzt im Westen arbeiten, sind wegen der höheren Gehälter heute schon in vielen Fällen auch die Ernährer ihrer Familien, die im Heimatland geblieben sind. So verdient ein Mitarbeiter in der österreichischen Gastronomie 1.000 Euro monatlich, meist bei freier Kost und Logis, während er in seinem Heimatland mit 300 Euro auskommen muss. Würden alle diese Arbeitskräfte zurückkehren, stünden die Länder vor einem riesigen Problem.

Daher wollen die Osteuropäer jetzt keinen Bruch mit der EU riskieren – und habe eine wichtige Einigung erzielt, die nicht in der Abschlusserklärung steht und über die auch keine Details durchgesickert sind. Der tschechische Regierungschef Bohuslav Sobotka teilte lediglich mit, der Staatenbund habe sich auf eine gemeinsame Position zum möglichen Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union geeinigt. Nähere Angaben machte er nicht. Allerdings will er EU-Ratspräsident Donald Tusk bei dessen Besuch in Prag am Dienstag die Position der Visegrad-Gruppe darlegen, deren Vorsitz er derzeit innehat.

Besonders kritisch sehen die Visegrad-Staaten die geplante Kappung von Sozialleistungen für EU-Ausländer in Großbritannien. Der britische Premierminister David Cameron wirbt derzeit für die mit Brüssel ausgehandelten Maßnahmen zur Vermeidung eines „Brexit“. Er will vermutlich noch in diesem Jahr in einem Volksentscheid über den Verbleib seines Landes in der EU abstimmen lassen.

Unterstützung erhielt Cameron an dieser Flanke von Deutschland. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ließ am Wochenende verlauten, dass sie eine Kürzung der Sozialleistungen für EU-Ausländer plane.

Nahles will den Anspruch von EU-Ausländern auf Sozialhilfe in Deutschland deutlich beschränken. Die geplante Gesetzesverschärfung solle eine mögliche Zuwanderung ins Sozialsystem erschweren, sagte die SPD-Politikerin den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Nahles sagte: „Es kann nicht sein, dass jemand innerhalb der EU nur umziehen muss, um volle Sozialleistungen eines anderen Landes zu erwerben - obwohl es ein leistungsfähiges Sozialsystem auch in seinem Herkunftsland gibt.“

Zustimmung kam umgehend vom Koalitionspartner Union. Das Ziel, den Sozialhilfeanspruch von EU-Ausländern zu begrenzen, decke sich mit der Position der CSU, sagte CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt der AFP: „Wenn die Sozialhilfe in Deutschland höher ist als das Einkommen im Herkunftsland, ist das geradezu eine Aufforderung zur Armutsmigration.“ Hasselfeldt forderte Nahles auf, die Ankündigung nun „zügig und konsequent“ umzusetzen.

Diese ungewohnte Eintracht in der Großen Koalition hat für die Osteuropäer durchaus abschreckende Wirkung. Es ist daher zu erwarten, dass sich die Staaten mit Deutschland und Großbritannien auf einen Kompromiss einigen werden, der auch ihre Wahlchancen nicht beeinträchtigt: So muss sich der slowakische Premier Robert Fico bereits in wenigen Monaten der Wiederwahl stellen. Er hat bereits alle Hände damit zu tun, seine Lehrer ruhigzustellen, die wegen der niedrigen Löhne massive Proteste begonnen haben. Auch in Ungarn kam es zu Massendemonstrationen der Lehrer. Auch hier sind vor allem die niedrigen Löhne das Thema.

Daher dürfte für Merkel zumindest von Osteuropa keine akute Bedrohung ausgehen. Der Flüchtlingsgipfel der EU dürfte mit der entschiedenen Forderung an die EU enden, das Flüchtlingsproblem bald zu lösen. Merkel hatte bereits am Montag signalisiert, dass sie eine Entspannung in der Zahl der neu ankommenden Flüchtlinge und Einwanderer erkennen kann.

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