Politik

Große Staaten gegen die Kleinen: Der langsame Zerfall der EU

Lesezeit: 3 min
07.05.2016 02:08
Bundeskanzlerin Merkel kämpft um Verbündete in der EU. Seit neuestem treffen sich die fünf großen EU-Mitglieder, um ihre Politik abzusprechen. Die kleinen Staaten regt das nicht mehr sonderlich auf. Auch Beschimpfungen verfangen nicht mehr. Man kann eine Art innerer Kündigung beobachten - die sich zu einer gefährlichen Spaltungstendenz auswachsen könnte.
Große Staaten gegen die Kleinen: Der langsame Zerfall der EU

Mehr zum Thema:  
Europa >
Benachrichtigung über neue Artikel:  
Europa  

Andreas Rinke hat für die Nachrichtenagentur Reuters eine interessante Analyse verfasst, in der er zeigt: Die EU zeigt gefährliche Spaltungstendenzen.

 

Berlin, 06. Mai (Reuters) - Wenn am 1. Juni der längste Eisenbahntunnel der Welt feierlich eröffnet wird, geben sich die Top-Europäer in der Schweiz ein Stelldichein. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Francois Hollande und der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi reisen an, um den Gottardo 2016 zu eröffnen, den neuen Tunnel durch die Alpen. Der Auftritt des Trios wirkt dabei wie ein Zeichen an die Regierung in Wien: Während dort aus Furcht vor Flüchtlingen eine Abschottung des Brenner-Tunnels vorbereitet wird, reisen Merkel, Hollande und Renzi demonstrativ zur Eröffnung einer neuen Verkehrsverbindung innerhalb Europas.

Merkel erklärte am Donnerstag in Rom, was sie von solchen unilateralen Aktionen der Österreicher hält - nämlich nichts. Ohne Not, so heißt es in der Bundesregierung, habe Österreich im Februar einseitig Grenzkontrollen an seiner Südgrenze eingeführt und zusammen mit den Balkanstaaten die Flüchtlingsroute geschlossen - aber nur für sich. Denn in Griechenland stauten sich danach rund 50.000 Flüchtlinge. Die Last sei einfach nur auf den Euro- und EU-Partner Griechenland verlagert worden. Dass Österreich nun noch mit einer Abschottung des Brenner-Tunnels droht, hält auch Renzi „für falsch und anachronistisch“.

PANIK DER KLEINEN, VERANTWORTUNG DER GROSSEN

Das Gottardo-Treffen ist aber nur ein Hinweis darauf, dass sich die großen EU-Gründungstaaten intensiver absprechen wollen. Denn am 23. Juni droht beim Brexit-Referendum ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU. Vor allem in Osteuropa und Österreich haben antieuropäische und populistische Kräfte massiven Auftrieb. Das stellt auch aus Sicht der EU-Kommission die Solidarität der Europäer untereinander infrage. Um die EU dennoch zusammenzuhalten, müssten Merkel, Hollande und Renzi stärker als bisher an einem Strang ziehen, heißt es in der Bundesregierung. Sie werden geradezu dazu gedrängt: Sowohl US-Präsident Barack Obama als auch Papst Franziskus haben in den vergangenen Tagen eindringlich den Zusammenhalt und die humanitäre Verantwortung Europas eingefordert.

Das war sowohl eine Unterstützung für Merkels Kurs als auch die klare Aufforderung an die „Großen“ in der EU, mehr Verantwortung zu übernehmen. „Ich habe das Ganze als Ermutigung empfunden“, sagte Merkel am Freitag in Rom. Dann betonte sie die besondere Verantwortung der Gründungsnationen der EU. Mit dem Niederländer Mark Rutte als derzeitigem EU-Ratspräsidenten spricht sie sich ohnehin sehr eng ab.

DIE GROSSEN SPRECHEN AUCH AUSSENPOLITIK AB

Vergangenen Montag hatte sich das Trio bereits mit dem britischen Premierminister David Cameron und Obama zum sogenannten informellen „Quint“-Format getroffen. Dieses Format der vier großen EU-Staaten zusammen mit den USA hatte sich auch am Rande des G20-Gipfels im türkischen Antalya getroffen. Dabei geht es um die Absprache außen- und sicherheitspolitischer Herausforderungen, die man „gemeinsam beschreiben, besprechen und auch unsere Aktionen dann abstimmen“ wolle, hatte Merkel danach gesagt. Denn am Ende müssen es in Syrien, der Ukraine oder Libyen ohnehin die großen EU-Länder richten.

Solche Treffen waren in der Vergangenheit von den kleineren EU-Partnern skeptisch betrachtet worden. Aber für solche Sensibilitäten ist derzeit kein Platz, sagt der Europa-Experte Josef Janning vom European Council on Foreign Relation (EFCR). „Früher hätten Polen und Spanien aufgeschrien, weil sie nicht eingeladen waren“, meint er. Jetzt aber definiert sich die neue nationalkonservative polnische Regierung stärker in Abgrenzung zu den EU-Partnern und Spanien steckt seit Monaten in einer institutionellen Krise fest. Kleinere EU-Partner wie Österreich oder Ungarn gehen in der Flüchtlingskrise selbst unilaterale Wege.

Janning sieht die Treffen der Großen deshalb auch kein Aufbruchsignal, sondern eher ein Krisenzeichen. Das Trio ersetze nun auch die nicht gut funktionierende deutsch-französische Abstimmung. „Aus Merkels Sicht ist dies deshalb durchaus sinnvoll, auch Renzi einzubeziehen“, sagte er. Die Deutsche und der Italiener sind geeint im Kampf für offene Grenzen im EU-Binnenmarkt. Renzi verwies am Donnerstag darauf, dass in Italien in diesem Jahr 26.000 Flüchtlinge angekommen seien - nur 1000 mehr als im Vorjahreszeitraum. „Wenn Sie daran denken, dass wir im Jahr 2015 weniger Migranten hatten als im Jahr 2014, dann verstehen Sie, dass wir keine Notlage haben“, betonte er. Umso unverständlich sei die österreichische Drohung mit Grenzkontrollen am Brenner.

*** Bestellen Sie den täglichen Newsletter der Deutschen Wirtschafts Nachrichten: Die wichtigsten aktuellen News und die exklusiven Stories bereits am frühen Morgen. Verschaffen Sie sich einen Informations-Vorsprung. Anmeldung zum Gratis-Newsletter hier. ***

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..


Mehr zum Thema:  
Europa >

Anzeige
DWN
Ratgeber
Ratgeber Umweltbewusst und günstig: Hondas Leasing-Modell für die elektrifizierten Fahrzeuge von Honda

Der Managing Director der Honda Bank Volker Boehme spricht mit den DWN über die neuesten Entwicklungen im Leasinggeschäft für die...

DWN
Politik
Politik Neuer Pisa-Schock: Deutschland wird nach unten durchgereicht - Leistungen so schlecht wie nie zuvor
05.12.2023

Die neuesten Ergebnisse der Pisa-Bildungsstudie zeigen: aus dem einstigen Land der Dichter und Denker ist ein ernster Problemfall geworden.

DWN
Politik
Politik Reifenhersteller Michelin schließt deutsche Werke
05.12.2023

Nachdem bereits der Konkurrent Goodyear Werksschließungen angekündigt hatte, folgt jetzt Michelin. In Deutschlands Autobranche schlägt...

DWN
Finanzen
Finanzen Goldpreis steigt auf Rekordhoch, Kurssprung für Bitcoin
04.12.2023

Der Goldpreis in Dollar stieg am Montag so hoch wie niemals zuvor. Und auch Bitcoin hat seine Rally mit einem massiven Sprung fortgesetzt....

DWN
Immobilien
Immobilien Strandimmobilien: Eine attraktive Investmentchance?
05.12.2023

Wenn der Sommer wieder in Sicht ist, könnte der Kauf eine Strandimmobilie als Investment verlockend sein. Doch Interessenten müssen gut...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Deutsche Wirtschaft erwartet Schlimmes
04.12.2023

Die deutsche Wirtschaft rechnet laut IW-Umfrage auch im kommenden Jahr nicht mit einem Aufschwung. IW-Konjunkturchef Michael Grömling...

DWN
Ratgeber
Ratgeber Arbeitsverträge: Rechtssicherheit und Mitarbeiterbindung im Fokus
05.12.2023

In diesem Artikel erklären wir die unterschiedlichen Arten von Arbeitsverträgen, was enthalten sein muss und was Unternehmen beim...

DWN
Politik
Politik ZEW-Präsident: Haushaltskrise ist Einschnitt für Konjunktur
04.12.2023

"Der deutschen Wirtschaft geht es nicht gut", sagt ZEW-Präsident Achim Wambach. Und die aktuelle Haushaltskrise sei nun "sozusagen noch...

DWN
Ratgeber
Ratgeber Kündigung: Ein Leitfaden für Arbeitgeber
04.12.2023

Die Entscheidung, ein Arbeitsverhältnis zu beenden, ist stets eine heikle Angelegenheit, sowohl für Arbeitgeber als auch für...