Politik

Polizeischutz verstärkt: Scharfe Kritik an Cem Özdemir aus der Türkei

Der Grüne Cem Özdemir wird in der Türkei heftig wegen der Armenier-Resolution kritisiert. In Deutschland gab es Morddrohungen gegen den Politiker. Die Türken erinnern, dass Özdemir noch vor einigen Jahren das Gegenteil dessen gesagt habe, wofür er heute kämpft.
06.06.2016 00:14
Lesezeit: 4 min

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Türkischstämmige Bundestagsabgeordnete sich nach der Armenier-Resolution in der Türkei heftig kritisiert worden. In Deutschland gab es sogar Morddrohungen. Der Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu (Grüne) sprach von einer neuen Qualität der Bedrohung - «zumal irgendwelche durchgeknallten Verrückten das sich anhören und denken, die Obrigkeit hat befohlen. So sind viele Menschen in der Türkei zu Tode gekommen», sagte er am Sonntag der ARD-«Tagesschau». Integrationsministerin Aydan Özugus (SPD), die ebenfalls ins Visier türkischer Kritiker geraten war, warb für Verständnis: «In Deutschland nehmen wir, glaube ich, zu wenig wahr, was dort eigentlich weit über extremistische Kreise hinaus gedacht und gefühlt wird - dass das nämlich wirklich eine echte Enttäuschung gerade darstellt.»

Grünen-Chef Cem Özdemir hatte der «Welt am Sonntag» von Bedrohungen von türkischer Seite gegen ihn berichtet. «Es gibt leider auch eine türkische Pegida», sagte der Politiker der Zeitung zur Notwendigkeit der Schutzmaßnahmen. «Rechtsradikalismus ist kein deutsches Privileg. Das gibt es leider auch in der Türkei und unter Deutschtürken.» Die Berliner Polizei hat dem Bericht zufolge ihre Präsenz in der Umgebung von Özdemirs Wohnung erhöht.

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat seinen Ton gegenüber Deutschland nochmals verschärft. Erdogan sagte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntagabend in Istanbul:

Deutschland, ich sage es nochmal. Du musst zuerst Rechenschaft für den Holocaust ablegen. Das ist das Erste. Doch nicht nur das. Du musst auch Rechenschaft für die über 100.000 ermordeten Menschen in Namibia ablegen. Das ist das Zweite. Ihr seid die letzten auf dieser Erde, die das Recht haben, die Türkei zu beschuldigen einen Genozid an den Armeniern durchgeführt zu haben. Unsere Geschichte ist keine Geschichte des Genozids, sondern eine Geschichte des Mitgefühls und der Güte. Das ist der Unterschied zwischen euch und uns. In welches Land wir in Afrika auch immer hinreisen, tun wir das erhobenen Hauptes und ohne Schuldgefühle. Alle Menschen auf diesem Kontinent empfangen uns mit Freude. Während die Europäer Ostafrika ausraubten und ausbeuteten, waren es die Osmanen, die den afrikanischen Völkern halfen. Manchmal mit Soldaten und manchmal auf indirektem Wege.

Die Staaten, die uns hier eine Lehrstunde in Menschenrechten erteilen wollen, sind verantwortlich für das Blut, die Tränen, den Genozid und die Massaker in Afrika. Wer steckt hinter dem Genozid in Ruanda? Frankreich. Nun beschweren sie sich darüber, dass Tayyip Erdogan redet. Soll ich etwa meinen Mund halten und nicht reden? Derzeit beobachten wir, was die französischen Sicherheitskräfte in ihrem Land machen. Wir verfolgen die Ereignisse. Doch schaltet die französischen Kanäle an und ihr werdet nichts von den Ereignissen finden. Sie wollen es nicht zeigen. Seit Tagen brodelt es in Frankreich, es brodelt in Europa und es wird eine Politik der Desinformation betrieben. Und ich bin betrübt und mache mir Sorgen.

Nun gab es die Gezi-Proteste. Damals habe ich diverse Telefongespräche mit europäischen Politikern geführt, die uns ihre Freundschaft vorspielen. Und was haben sie mir gesagt? Sie haben mir gesagt, dass sie sich Sorgen machen. Ich habe diese Politiker gefragt, ob sie denn wissen würden, was in der Türkei passiert? Sie sagten, wie würden alles über das Fernsehen verfolgen. Dann habe ich ihnen angeboten in die Türkei zu kommen, damit sie die Ereignisse vor Ort verfolgen können. Doch sie haben abgelehnt. Und nun sage ich dasselbe. Ihr schleift die Mädchen und Jungs, die da demonstrieren, auf den Straßen. Ihr schlägt auf sie ein. Wir machen uns Sorgen.“

Kerem Çalışkan sagte am Donnerstagabend bei einer Sendung des türkischen TV-Kanals 24TV, dass Özdemir eine führende Rolle bei der Ausarbeitung der Armenier-Resolution gespielt habe.  Doch die gesamte Angelegenheit dürfe nicht emotional betrachtet werden. Özdemir wolle sich angesichts der anstehenden Bundestagswahl im kommenden Jahr bei der deutschen Öffentlichkeit beliebt machen, so Çalışkan. Ihm komme es darauf an, als Spitzenkandidat der Grünen und damit als Kanzlerkandidat ins Rennen zu gehen. „Man muss sehen, dass der Mann als Politiker persönliche Karriereziele im Blick hat“, meint Çalışkan.

Die Kritik an Özdemir umfasst auch einen bemerkenswerten Gesinnungswandel des Politikers, welcher ihm von den türkischen Kritikern als Wankelmütigkeit ausgelegt wird: Özdemir hatte am 27. April 2001 in einem Interview mit der SZ gesagt, dass "eine Verurteilung der Türkei" in der Armenier-Frage "nicht hilfreich wäre". Die SZ schrieb damals: "Cem Özdemir lehnt Geißelung wegen des Massakers an Armenien ab, weil es die Versöhnung erschweren würde". Die Orte zur Lösung dieses Problems seien "weder Washington, noch Paris oder Berlin" zitiert ihn die Online-Zeitung Haberler aus der Printausgabe seines Interviews aus dem Jahr 2001

Çalışkan hatte zuvor in einem Gastbeitrag für das regierungskritische Online-Portal OdaTV geschrieben, dass Deutschland mit der Armenier-Resolution Druck auf Erdogan ausüben wolle. Dieser beharre auf der Visa-Freiheit für Türken, die in dem EU-Türkei-Deal als Gegenleistung festgelegt wurde. „Sie wollen die Türkei in ein billiges Flüchtlings-Camp umfunktionieren. Erdogan will das nicht. Deshalb haben sie nun nach 101 Jahren die Armenier-Keule ausgepackt“, so Çalışkan.

Historisch gesehen wolle Deutschland die wahren Hintergründe der „Deportation“ der Armenier nach Syrien verheimlichen. Deutschland wolle bis heute das Bundesarchiv-Militärarchiv (BArch-MA) in Freiburg im Breisgau nicht vollständig den internationalen und nationalen Wissenschaftlern öffnen. Hintergrund dieser Entscheidung ist, dass sich dort die Briefwechsel von Generalleutnant Friedrich Bronsart von Schellendorf, der im Ersten Weltkrieg Chef des Generalstabs des osmanischen Heeres gewesen ist, befinden. „Im Ersten Weltkrieg lag die Führung des osmanischen Heeres bei den Deutschen. Der Befehl für die Deportation der Armenier wurde von Friedrich Bronsart von Schellendorf gegeben“, so Çalışkan.

Im Gastbeitrag geht der Journalist dann auf einen Brief des deutschen Generalleutnants ein. In einem Brief an die Deutsche Allgemeine Zeitung vom 24. Juli 1921 schreibt von Schellendorf über das Jahr 1915, dass ein „gefährlicher Aufstand in den östlichen Grenzprovinzen der Türkei“ tobte. Dieser sei „von langer Hand vorbereitet, wie die zahlreichen Funde an gedruckten Aufrufen, aufhetzenden Broschüren, Waffen, Munition, Sprengstoffen usw. in allen von Armeniern bewohnten Gegenden beweisen; er war sicher von Russland angestiftet, unterstützt und bezahlt“

Kerem Çalışkan ist Ex-Chefredakteur der Europa-Ausgabe der Zeitung Hürriyet. Er ist Absolvent der Deutschen Schule Istanbul und hat neben Berthold Brechts Gedichten mehrere deutsche Werke ins Türkische übersetzt.

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