Jemima Kelly und Rene Wagner berichten für Reuters aus London:
Geht es nach den Wettanbietern, dann ist der Ausgang des Referendums über einen EU-Austritt von Großbritannien längst entschieden. Anders als die Wahlforscher haben die Buchmacher einen klaren Favoriten: Die EU-Befürworter werden gewinnen. Die Wettquoten von Betfair signalisieren eine Wahrscheinlichkeit von fast 76 Prozent, dass die Briten am 23. Juni für einen Verbleib in der Europäischen Union plädieren werden. Den Meinungsumfragen zufolge zeichnet sich hingegen ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab, dessen Ausgang bis zuletzt völlig offen bleiben dürfte.
Investoren schauen mit großem Interesse auf die nahezu täglich veröffentlichten Quoten der Buchmacher. "Wetten sind der Versuch der Märkte, die Umfragen zusammenzufassen und von all deren Anfälligkeiten zu bereinigen", sagt Fondsmanager Paul Lambert von Insight Investment. Der Devisenexperte schaut deshalb mehr auf die Buchmacher als auf die Meinungsforscher, bevor er mit dem britischen Pfund oder auch dem Euro handelt.
Das Misstrauen vieler Anleger gegenüber den Meinungsumfragen hat sich seit dem vergangenen Jahr erhöht. Die absolute Mehrheit für die Konservativen um Premierminister David Cameron hatten die Institute nicht vorhergesagt. Aber das ist nur ein Grund dafür, warum die Investoren auf Wettanbieter wie William Hill und Ladbrokes setzen, die eigentlich eher auf Pferderennen und Fußballergebnisse spezialisiert sind und nicht auf Politik.
Die Buchmacher sagen, dass sie ganz anders herangehen als die Meinungsforscher. Sie bauen beispielsweise Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung in ihre Quoten ein - etwa die, dass unentschlossene Wähler dazu neigen, am Ende für den Status Quo zu stimmen. In diesem Fall würde dies bedeuten, dass die Briten ihr Land in der EU halten wollen, der es seit mehr als vier Jahrzehnten angehört.
Aus Investorensicht haben die "Bookies" noch einen anderen Vorteil: Sie können ihre Quote praktisch in Echtzeit anpassen, nicht zuletzt auch dank der Online-Wettbörsen. Sie sind dadurch schneller als die Meinungsforscher, die für ihre Prognosen Tausende Wähler anrufen müssen. Als US-Präsident Barack Obama vor wenigen Wochen davor warnte, dass sich Großbritannien nach einem Brexit in der Warteschlange für ein bilaterales Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten "hinten anstellen" müsse, folgte prompt eine Reaktion auf der Webseite von Betfair: Die Wahrscheinlichkeit eines EU-Abschieds sank von 33 auf 31 Prozent, das Pfund wertete merklich auf. "Meinungsumfragen dagegen haben Zeitverzögerungen", sagt der für das Devisengeschäft von Mizuho verantwortliche Hedgefonds-Manager Neil Jones.
Allerdings: Auch Buchmacher sind nicht unfehlbar. Ladbrokes etwa verlor mehr als eine Million Pfund bei den Wahlen 2015, da auch das Unternehmen nicht an einen solch klaren Sieg der Konservativen glaubte, räumt der für politische Wetten zuständige Manager Matthew Shaddick ein. Immerhin hätten die Quoten aber signalisiert, dass die Torries die größte Fraktion im Parlament stellen würden, während die Umfragen ein enges Rennen vorhergesagt hätten.
Beim schottischen Referendum 2014 - bei dem es um eine Abspaltung von Großbritannien ging - feierten die Buchmacher einen klareren Sieg. Hier signalisierten die Quoten nahezu durchgängig, dass sich die Schotten gegen eine Unabhängigkeit entscheiden werden. Und so kam es dann auch. Dagegen lagen in einer kurz vor dem Votum veröffentlichten Meinungsumfrage die Befürworter der Unabhängigkeit vorn, was an den Finanzmärkten für Kursausschläge sorgte.
POLITISCHE WETTEN SIND ZUM ERNSTHAFTEN GESCHÄFT GEWORDEN
In einigen Fällen legen nicht Buchmacher, sondern die Wettenden selbst die Quoten fest. Webseiten wie Betfair, die zu Paddy Power gehört, arbeiten wie eine Börse. Spieler können kaufen und verkaufen, fast wie Aktien- oder Devisenhändler. Hier wird auf Stimmungsumschwünge noch schneller reagiert als bei traditionellen "Bookies", wo professionelle Wettspezialisten die Quoten festlegen.
Nach Angaben von Paddy Power werden zwar 60 Prozent der einzelnen Wetten auf einen Brexit gesetzt. Die Summe macht allerdings nur 14 Prozent des gesamten Betrages dieser Wetten aus. Vor wenigen Tagen lag die durchschnittlich gesetzte Summe für eine Brexit-Wette bei 36 Pfund, der für einen Verbleib dagegen bei 333 Pfund - das ist fast das Zehnfache. Offenbar rechnen die Brexit-Wetter selbst nicht so recht mit einem Erfolg, sonst würden sie höhere Summen setzen.
Politische Wetten sind inzwischen ein ernsthaftes Geschäft für die Buchmacher geworden, die zusammen etwa 6,3 Milliarden Pfund jährlich umsetzen. Allein 100 Millionen Pfund nahmen sie im vergangenen Jahr mit den Parlamentswahlen ein. Das Ergebnis könnte diesmal noch übertroffen werden. "Vor zehn Jahren waren politische Wetten noch ein Novum", sagt Shaddick. "Jetzt sind sie ein ernsthafter Teil unseres Geschäfts."
Alastair Meeks, ein 48-jähriger Anwalt, will mit dem Strom schwimmen und Tausende Pfund auf einen EU-Verbleib setzen. "Ich bin durch die Politik zum Glücksspiel gekommen", erklärt er. "Ich werde meinen Einsatz erhöhen, je näher wir dem Referendum kommen." George Squires will dagegen nichts setzen, obwohl er regelmäßig in eine William-Hill-Filiale geht, um auf Pferderennen zu wetten. "Die Rennen kann ich im Fernsehen verfolgen", sagt der 67-Jährige. "Die EU kann ich nicht in der Glotze sehen." Squires, der für einen Brexit ist, will am 23. Juni auch nicht länger wach bleiben, um das Abstimmungsergebnis mitzubekommen. "Das macht doch alles keinen Spaß", begründet er.