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Die offizielle Leseart des EZB-Stresstest klingt beruhigend. Der Stresstest zeige, dass die europäischen Banken ihr Kernkapital (engl. Common Tier Equity 1, kurz CET1) gegenüber einem vergleichbaren Test von 2012 und 2014 deutlich verbessert haben. Sie sind per Ende 2015 mehrheitlich auf Niveaus von 10-14% der risikogewichteten Aktiven (engl. Risk Weighted Assets, kurz RWA’s) angelangt. Die Kernkapitalquoten liegen somit rund 2% höher als Ende 2013 und 4% höher als Ende 2011.
Die Banken seien bis auf wenige Institute auch gewappnet gegenüber einem makroökonomischen Schock, einer rezessiven Wirtschaftsentwicklung in Europa im Zeitraum 2016-18. Die unterstellten BIP-Wachstumsraten liegen in diesem Zeitraum bei -1.2% für 2016, - 1.3% für 2017 und +0.7% für 2018. Dieses ‚Stressszenario’ war der Europäischen Bankenaufsicht von der Europäischen Kommission vorgegeben worden. In diesem Fall würden die Kernkapitalquoten bei den meisten Instituten erheblich fallen, im Durchschnitt um 3.8%. Sie wären damit wieder sehr dünn kapitalisiert, aber nicht überlebensgefährdet. Am schlimmsten würde es die älteste Bank der Welt, die Monte Paschi die Siena (MPS) erwischen. Sie stünde dann mit negativem Eigenkapital da. Auch andere Institute sähen ihr Kernkapital im so definierten Stressfall recht stark zurück gestutzt. Dabei stünden irische, italienische, englische und deutsche Institute im Vordergrund. Doch die Schwäche wäre weit verbreitet und würde auch die beiden spanischen Großbanken oder eine Société Générale und BNP betreffen. Der überwiegende Teil der Kapitalverluste würde aus Kreditverlusten resultieren, und zusätzlich käme ein kleinerer Teil operationelle Verluste hinzu.
Anzufügen ist, dass die MPS natürlich im Vorfeld orientiert war, und dass die Bank am Freitag, just dem Tag der Veröffentlichung des Stresstests, eine außerordentliche Kapitalerhöhung um 5 Milliarden Euro verkünden konnte, welche von einem italienischen Bankenkonsortium organisiert wird. Auch würden rund 10 Milliarden faule Kredite von ihrer Bilanz genommen. Diese Maßnahmen sind von nationalen Regulatoren sowie der EU-Kommission bereits abgesegnet.
Alles gut also? Wie ist das Ganze einzuordnen? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Bankenaufsicht nun zum dritten Mal einen solchen Stresstest durchführt, und dass von daher höhere Anforderungen an deren Qualität zu stellen sind.
Dies umso mehr, als die Regeln für Anleger drastisch verschärft worden sind. Seit dem 1.1. 2016 müssen bei einer Schieflage einzelner Banken zunächst Aktionäre und subordinierte Obligationäre in den sauren Apfel beißen und ihr Kapital verloren geben, bevor der Staat rettend eingreifen könnte. Von daher haben solche vergleichenden Stresstests eine besonders wichtige Funktion. Sie wären praktisch das wichtigste Instrument für Anleger und für Sparer, um sich über die bankspezifischen Risiken genau informieren zu können. Es gibt auch für Kleinanleger immer noch nur nationale Einlagensicherungssysteme, nicht aber in der Eurozone als Ganze. Und diese Einlagensicherung bezieht sich auf Einlagen bis 100'000 Euro, nicht mehr.
Diese zentrale Aufgabe erfüllt dieser Stresstest nicht, er stellt eher eine Farce, eine Beruhigungspille dar. Dies beginnt bei der Auswahl der Indikatoren:
Die Analyse konzentriert sich auf die Kernkapitalquote relativ zu den risikogewichteten Aktiven. Während das Kernkapital strikt reguliert und umschrieben ist, sind die risikogewichteten Aktiven in der Praxis eine Black-Box. Die meisten dieser Banken haben interne Risikomodelle, d.h. solche bei denen sie die Risiko-Gewichte selber definieren dürfen. Die Praxis dieser Banken ist offensichtlich völlig verschieden von derjenigen in den Vereinigten Staaten. Dort machen die risikogewichteten Aktiven traditionell 60-85% der Bilanz-Aktiven von Großbanken aus. In Europa sind das ganz andere Größenordnungen, die risikogewichteten Aktiven erreichen teilweise maximal 20% bis 40% der Bilanzaktiven. Systematisch am dünnsten sind die Banken in der Eurozone kapitalisiert.
Als Folge haben europäische Banken viel niedrigere Quoten für das Kernkapital relativ zur Bilanzsumme, die so genannte Leverage Ratio. Die meisten europäischen Banken haben eine Leverage Ratio von 4 bis 7%, was nicht viel ist. Die Deutsche Bank hatte Ende 2015 eine Leverage Ratio von 3.5%. Mehrere europäische Großbanken sind bilanzmäßig so groß wie die US-Großbanken, haben aber einen Drittel oder einen Viertel des Kernkapitals dieser Großbanken.
Man würde ja nichts sagen, wenn sie dabei ein entsprechend risikoärmeres Portfolio hätten. Dem ist aber genau nicht so. Denn die europäischen Banken hatten in der Vergangenheit und sie haben gegenwärtig viel höhere Quoten an Kreditausfällen (Non-Performing loans, NPL’s) und viel höhere Verluste bei Kreditausfällen (Loss Given Defaults, LGD’s) als die amerikanischen Banken. Die europäischen Banken müssten folglich mehr Eigenkapital als die amerikanischen Banken halten. Ihre risikogewichteten Aktiven müssten höher liegen. Das amerikanische Bankensystem hatte im Höhepunkt der Finanzkrise eine Quote von Kreditausfällen von maximal 5%, sie liegt jetzt bei 2%. Das Bankensystem der Eurozone hat heute eine ausgewiesene Quote von rund 10%. Doch renommierte Chefökonomen von Großbanken argumentieren, dass die effektive Quote rund das Doppelte beträgt. Sie wird nur verschleiert durch die ultraniedrigen Zinssätze, welche den Banken erlaubt, Kredite praktisch zu Nullzinsen umzuschulden und als bedient (performing) zu deklarieren.
Die Stresstest –Methodologie ist darüber hinaus ungenügend, weil sie Derivate und andere Außerbilanz-Positionen nicht berücksichtigt. Im Unterschied zur Praxis in den USA wird keine Total Leverage Ratio, d.h. Relation zwischen Kernkapital und totaler Exposition, bilanz- oder außerbilanzmässig, ausgewiesen. Eine so definierte Leverage Ratio ist viel restriktiver. In den Vereinigten Staaten mussten die Banken per Ende 2015 erstmals eine solche Außerbilanz-Positionen einschließende Leverage Ratio ausweisen. Einzelne dieser Großbanken erreichten eine totale Leverage Ratio von 5 bis 7 Prozent. Davon können europäische Großbanken nur träumen.
Wegen der Mängel dieser Methodologie, aber auch der Informationspflicht gegenüber der Bevölkerung, sollte ein Stresstest auch realistischer gemacht werden. Das Szenario einer leichten Rezession allein in Europa genügt nicht. Was die europäischen Großbanken nämlich auszeichnet, ist ihr gewaltiges Engagements gegenüber Schwellenländern, das viel höher ist als dasjenige der amerikanischen Großbanken. Dabei sind diese Engagements gegenüber Schwellenländern nicht breit diversifiziert, sondern konzentrieren sich auf rund 10 europäische Großbanken.
Ein Stresstest sollte deshalb eine harte Landung der Konjunktur Chinas einschließen, mit Folgeeffekten auf andere Schwellenländer und auf die Rohwarenpreise. Vor allem europäische Großbanken sind die Kreditgeber in den Schwellenländern und zu Minen- und teilweise zu Erdölgesellschaften. Sie sind Kreditgeber in Brasilien, Russland, der Türkei und anderen Wackelkandidaten.
Ein realistischer Stresstest müsste auch die Möglichkeit von Ausfällen bei Gegenparteien im Derivatebereich einschließen. Natürlich hat sich die Lage verbessert durch das systematischere collateral-Management im Derivatebereich, auch durch die Abwicklung über zentralisierte Börsen, welche als Gegenpartei auftreten. Aber spezifische Ausfall-Risiken bleiben bestehen und sind, wenn sie auftreten, von enormer Wirkung.
Ein realistischer Stresstest müsste ferner einschließen, dass Märkte, die ohnehin total überbewertet sind, sowohl Obligationen- wie Aktienmärkte, eine rasche erhebliche Korrektur erleiden könnten. Dies deshalb weil die Märkte global illiquide geworden sind. 70-90% aller Transaktionen an den Finanzmärkten sind heute kurzfristige Intraday-Transaktionen meist von Hedge-Funds. Bei extremen Ereignissen verschwinden diese Algo-Funds. Aufgrund der Regulation in Basel III gibt es keine großen Handelsbücher der Banken mehr, welche als Puffer auftreten können. Es sind mit anderen Worten sehr erhebliche Preisbewegungen viel wahrscheinlicher geworden, die Marktrisiken sind effektiv viel höher als in der Vergangenheit.
Zum Schluss ein weiterer Mangel des Stresstest: Die Negativzinspolitik der EZB wird bei der Wirkung auf die Profitabilität nicht berücksichtigt. Sie drückt die Zinsmargen der Banken zusammen und ist auch ein Hindernis für das indifferente Geschäft. Hier ist auch zu bemerken, dass in Europa nach wie vor die (nicht bezahlten) Zinsen auf unbediente Kredite als Einkommen der Banken berechnet werden. Es ergibt sich dies aus den bis heute gültigen IFRS-Vorschriften über die Rechnungslegung. Erst wenn ein Kredit abgeschrieben wird, entfällt die Verbuchung der Zinseinkünfte. Die von unbedienten Krediten betroffenen Banken in Europa haben mit anderen Worten nicht nur eine viel dünnere Eigenkapitaldecke, sondern seit Jahren auch geringere Einnahmen als ausgewiesen. In den Vereinigten Staaten muss der Kredit, der mehr als 90 Tage nicht bedient ist, nach kurzer Zeit auf den vermutlichen Restwert abgeschrieben werden. Die Einnahmen werden somit nach kurzer Zeit ebenfalls korrigiert. In Europa ist eine entsprechende Regeländerung unter IFRS erst für 2018 in Aussicht gestellt worden.
Was ist insgesamt die Bilanz dieses Stresstests? Europa geht weiterhin einen völlig anderen Weg als die Vereinigten Staaten von Amerika. Statt rigide Tests mit angemessenen Indikatoren und realistischen Szenarien einzuschlagen, wird schöngefärbt. Die wirklichen Risiken werden verschwiegen, die Öffentlichkeit eingelullt. Dadurch entfällt auch die Notwendigkeit zur raschen Sanierung der Bankenlandschaft in Europa, welche von gravierenden Überkapazitäten und geringen Margen gebeutelt ist. Mit der Droge Niedrigzinsen und mit fiktiver Rechnungslegung wird die schwere Last fauler Kredite weiter geschleppt. Die Banken können deshalb noch länger ihre Funktion als Finanzintermediäre nicht angemessen wahrnehmen, sie werden zombifiziert. Die Negativzinsen der EZB lassen ihnen keine Chance, sich über Gewinne oder über frisches Eigenkapital von Außen zu rekapitalisieren. Die Rechnung dafür zahlen später, wahrscheinlich ab 2018, wenn die Vorschriften greifen, die ahnungslosen Anleger, welche im guten Glauben gelassen wurden. Doch es könnte jeden in Europa treffen. Denn eine unweigerliche Begleiterscheinung ist die schwache Kreditvergabe, und damit ein schwaches Wirtschaftswachstum.
Wem es vordergründig nützt, sind müde gewordene und abgekämpfte Politiker am Ende ihrer Karriere. Die Absicht kann nur politisch sein. Im Herbst findet das Referendum über die Verfassungsreform in Italien statt. Im Frühling 2017 sind Präsidentschaftswahlen in Frankreich angesagt. Im Herbst Bundestagswahlen. Spätestens im Frühling 2018 sind Parlamentswahlen in Italien. Das sind die drei großen Eurozone-Länder. Offenbar ist das Kalkül, dass bis dann eisern geschwiegen werden soll, damit keine unerwünschten Regierungswechsel stattfinden. Dieses Szenario geht nur auf, wenn die effektiv vorhandenen Risiken nicht eintreffen. Denn die Eigenkapitaldecke europäischer Banken reicht niemals hin, diese Risiken abzudecken. Gemäß der Philosophie der Basler Vorschriften sollte Eigenkapital da sein für unerwartete Risiken. Erwartete oder bekannte Risiken oder Verluste sollten vollumfänglich über Rückstellungen und Abschreibungen gedeckt sein. Dies ist nicht der Fall in Europa, und der Stresstest hat dies nicht einmal andiskutiert.