Politik

Deutschlands fatale Sehnsucht nach dem Status Quo

Lesezeit: 13 min
06.08.2016 01:11
Deutschland verschläft die wichtigsten Entwicklungen bei Technologie und Innovation. Eine nostalgische Sehnsucht, dass alles so bleiben möge, wie es ist. Die größten Bremser für Veränderungen sitzen in den politischen Gremien. Sie fürchten, dass sie mit Veränderungen ihre Privilegien verlieren könnten.
Deutschlands fatale Sehnsucht nach dem Status Quo

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Deutschland bewegt sich. Diese ursprünglich mal von der BARMER GEK entwickelte und nach eigener Aussage mit bisher ca. 34 Millionen Teilnehmern größte Gesundheitsinitiative Deutschlands bringt die Themen Gesundheit, Bewegung und gesündere Ernährung unters Volk. In einer Gesellschaft, die durch den Übergang von der primär körperlichen zur primär geistigen Arbeit zunehmend unter Bewegungs- und Ernährungsproblemen leidet, setzt sich die Erkenntnis durch, dass sich körperliche Anstrengung lohnt und mit Kondition, Beweglichkeit, aber auch Lebenswert belohnt wird.

Ganz anders schaut es offensichtlich mit der geistigen Beweglichkeit aus. Wie die körperliche Beweglichkeit ist auch sie daran gebunden, dass man sie trainiert. Doch wer vermeidet, sich auseinanderzusetzen, wird nicht lernen, sich auseinanderzusetzen zu können. Und es ist keine Initiative zu entdecken, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Gesellschaft insgesamt hinsichtlich dessen zu trainieren. Ganz im Gegenteil scheint es Kräfte zu geben, denen eine Ausdehnung der Leistungsfähigkeit eines der innovativsten und exportstärksten Länder der Erde nicht recht ist und es mit banalem in der Hoffnung beschäftigt, dass es die in ihm schlummernden Potentiale nicht ausschöpft.

Wohin es führt, wenn man die Fähigkeit zur Auseinandersetzung nicht trainiert, kann man besonders an der deutschen Politik beobachten. Sie ist das Spiegelbild für die Verfasstheit einer Gesellschaft, die sich zunehmend nicht in der Lage zeigt, den Anforderungen der Zeit Rechnung zu tragen. Deren Beweglichkeit erstarrt und jedes Bemühen, ihr den Weg dahin zu ebnen, wird zunehmend als störend betrachtet und blockiert.

Deutschland hat begonnen, ein Panoptikum des deutschen Kleingeistes im 21. Jahrhundert zu bauen. Dessen erste Bauabschnitte sind schon zu besichtigen und es steht zu befürchten, dass bei dem erreichten Baufortschritt schnell weitere Abschnitte folgen werden. In der ersten Abteilung „Banken“ trifft man zunächst auf die Finanzkrise ab 2007.

Da erinnerten sich die Amerikaner, dass es ihnen schon mal gelang, mit Tinnef Substanzwerte zu erlangen. Mit Glasperlen eroberten sie große Teile des amerikanischen Kontinents. Jetzt gelang es Ihnen, in gleicher Weise mit einem goldenen Rating- Siegel verpackte Immobilienkreditpakete den europäischen Banken für Werte zu verkaufen, die sich bei denen durch die Finanzierung einer leistungsfähigen Wirtschaft angehäuft hatten. Als denen bewusst wurde, was ihnen da angedreht worden war, drängten Sie nach dem Schneeballsystem, das derart funktioniert, dass man immer jemanden finden muss, der dümmer ist, als man selbst, den Politikern den Gedanken der Systemrelevanz von Banken in einer Weise auf, die keinen Aufwand nach sich zog, eine solche „alternativlose“ Betrachtung zu hinterfragen und nach alternativen Konzepten zu suchen oder die Verantwortlichen gar dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Das Nachdenken darüber wäre auch eine intellektuell viel zu herausfordernde Problemstellung gegenüber der relativ einfach zu treffenden Entscheidung gewesen, dafür den Steuerzahler haftbar zu machen. Und so wurde aus der Finanzkrise eine Staatsschuldenkrise und in den Endlagern von Bilanzen der europäischen Länder gären die übernommenen Verantwortungen, Büchsen der Pandora gleich, in irgendwelchen Ecken vor sich hin. Die Politik hofft, dass die Drumherum geschaffenen Formationen erst auf spätere Generationen ausstrahlen, aber Mancher, der mit derartigem Teufelszeug umzugehen weiß, kann auf den Gedanken kommen, die Büchsen zu öffnen. Insbesondere aber wurden die Banken noch mehr als zuvor zu gesellschaftliche Freihandelszonen mit eigenen Rechten und sie gingen nach einer kurzen Zeit der Demut noch mehr Risiken ein.

Griechenland ist in den letzten Jahren als Beispiel dafür herausgewachsen, wie ein Europa unter zunehmend deutscher Führung sich der Schwächen Anderer bedient, um eigene Verantwortungen unter den Teppich zu bekommen und schließlich auch noch Nutzen aus diesen Schwächen zieht. Europäische und amerikanische Großbanken hatten 2008 ca. 270 Milliarden EUR in griechischen Papieren angelegt- einem Land mit 11 Millionen Einwohnern. Im vergangenen Jahr waren es nur noch 40 Milliarden. Wie kam dieser Abbau zustande?

Ganz einfach: die EZB, die europäische Rettungsfonds und der IWF haben die Anlagen übernommen. Von den 215,9 Milliarden EUR, die Griechenland zwischen 2010 und 2014 aus den ersten beiden Rettungspaketen bekam, gingen nur 9,7 Milliarden EUR in den griechischen Staatshaushalt, mit 139,2 Milliarden wurden Schulden und Zinsen beglichen und 37,3 Milliarden EUR wurden als Kapitalhilfen für Banken verwendet. Die Rettungspakete sind damit nichts anderes als weitere Kredite aus den Staatshaushalten Europas zur Bedienung von Schulden gegenüber europäischen und amerikanischen Banken. Die ausgereichten Gelder kommen also, zumindest zum Teil, wieder ganz schnell zurück in die Geberländer- wenn auch nicht unbedingt in die gleichen Taschen. Die ganze Umschuldung vom griechischen Staat auf die europäischen Steuerzahler zugunsten der Großbanken wird begleitet von Kampagnen mit denen das Versagen des griechischen Staates umfangreich diskutiert, aber die Verantwortung der Banken für ihre freizügige Kreditgewährung außen vor bleibt.

Doch selbst die Bankenrettungsmaßnahmen und das, was als Rettung Griechenlands verkauft wird, reichen nicht aus, um die Banken zu stabilisieren und dort ein weniger exzessives Handeln sicherzustellen. Ganz im Gegenteil. Was mit den Anleihekäufen für Griechenland begann, wurde von der EZB zu einem Konzept ungebremster Aufkäufe in ganz anderen Dimensionen weiterentwickelt, dass auf der Seite der Banken die Hemmungen noch weiter fallen ließ und auf der Seite der Steuerzahler zu noch mehr Belastungen führt. Und mit Mario Draghi hat die EZB einen Mann an Ihrer Spitze, der weiß, wie man innovative Bankprodukte hervorzaubert.

Die Politik schaut bei all dem zu. Sie durchschaut gar nicht mehr die Konsequenzen ihres Handelns und ist so damit beschäftigt, ein Feuer nach dem anderen zu löschen, dass sie gar nicht merkt oder mit verschleiert, wie sich im Untergrund ein riesengroßer Schwelbrand ausbreitet, der nur darauf wartet, dass er seinen Weg an die Oberfläche findet. Was aber passiert, wenn die Staaten sich immer weiter verschulden, die Banken weiter ungehemmt Monopoly spielen und die Unternehmen nicht mehr die Wettbewerbsfähigkeit entwickeln, die es Staaten ermöglicht, weiter diese Umverteilungen vorzunehmen? Das System bricht zusammen. Oder wird künstlich am Leben gehalten.

Dieser Aufgabe widmet sich die EZB. Eigentlich dafür geschaffen, die Banken zu überwachen und die Geldmenge zu regulieren, hat sie sich zum Ticketverkäufer für Banken und Staaten entwickelt, der, vermeintliche, Freifahrtscheine für die Befeuerung der Aktienmärkte und falsche politische Entscheidungen ausgibt, bei denen man erst später merkt, dass man für deren Annahme unterschrieben hat. Die EZB ist ein schönes Beispiel dafür, dass man sich immer überlegen sollte, ob, aber zumindest wie, man Verantwortungen wirklich zentralisieren sollte. In der Regel sehen derartige Projekte nicht vor, die geschaffene Ordnung zu durchbrechen, wenn man feststellt, dass sie zu einer vorher nicht bedachten systemischen Komplexität führen, die man nicht mehr beherrscht, wenn das eine oder andere vorher nicht einbezogene Detail seine Kraft entfaltet.

Wenn, wie im konkreten Fall, der Chef des Ganzen in seiner DNA verschlüsselt hat, wenn, dann es richtig krachen zu lassen, so kann es schon passieren, dass die Nullzinspolitik allein 2015 etwa 89 Milliarden EUR an Wohlstand aufzehrt und Deutschland auf Grund des Verteilungsschlüssels mit 27,9 Prozent für Anleihekäufe haftet, die Ende März 2017 ca. 1,7 Billionen EUR betragen werden. Geld, das wieder nicht primär den Unternehmen zugutekommt, sondern die Sucht kranker Finanzmärkte nach immer neuen Geldspritzen befriedigt. Der durchaus als angenehm empfundene Effekt, damit zurückliegende Verantwortungen zinslos in die Zukunft schieben zu können, weicht langsam der Erkenntnis, dass die Verantwortungen nicht nur nicht einfach verschwinden, sondern noch größer werden und zeitnah woanders auftauchen. Und zwar beim Wähler, dessen Zinsen auf erspartes mit den Lebenssteigerungskosten nicht mehr mithalten können, dessen Rentenaussichten immer düsterer werden, weil die Anlagen dafür auch nicht mehr abwerfen, was ursprünglich mal kalkuliert wurde und der in einigen Monaten bei der Bundestagswahl seit Urteil spricht. Dessen Urteil sicher nicht wohlwollender wird, wenn er zu der Erkenntnis gelangt, dass er auch für die Schulden haftet, die der ihn vertretende Staat in seinem Namen eingegangen ist.

Die Abteilung „Banken“ wird gerade um ein neues Schaustück erweitert. Stresstests sind in einer Zeit, in der der Schein mehr und mehr das Sein bestimmt, auch nicht mehr eine solide Grundlage für Vertrauen und Entscheidungen. Zumal, wenn die EZB, die Politik und die Banken den Zeitpunkt, zu dem Sie den Europäern die in ihrem Namen eingegangen Verantwortungen präsentieren, selbst bestimmen wollen. Doch wenden wir uns der nächsten Abteilung zu: Globale Entwicklungen.

Die USA betreiben in den letzten Jahren einigen Aufwand, der, wenn er es nicht zum Ziel hat, so doch die Entwicklung Europas zunehmend begrenzt. Das ist insofern verwunderlich, als ihr doch mit Europa eigentlich der natürlichste Verbündete im globalen Wettbewerb zur Verfügung steht. Dessen übergroßer Teil der Bevölkerung ursprünglich eine natürliche Bindung an die USA verspürte. Man erinnere sich nur an die erste Rede von Barack Obama am Brandenburger Tor. Diese Beziehung hat sehr gelitten. Die Destabilisierung Europas schwächt die transatlantische Partnerschaft und verschärft die Sicherheitslagen auf der Welt. Die Verantwortung dafür liegt bei den USA, aber auch bei der nicht souverän agierenden europäischen und nicht zuletzt deutschen Politik.

Am deutlichsten wurde das sicher in der NSA-Affäre. Sie offenbarte in schwer zu überbietender Weise, wie wenig deutsche Mentalität sich fähig zeigt, souverän deutsche Interessen zu verteidigen. Probleme werden ignoriert oder kleingeredet, im Bundestagswahlkampf in der Oppositionsrolle erst missbraucht und dann als Koalitionspartner unter den Teppich geschoben. Aktivitäten werden vorgetäuscht- aber immer in einem großen Bogen um die eigentlichen Problemfelder. Wenn das Tun zunehmend allein der Absicht folgt, sich den eigentlichen Auseinandersetzungen zu verweigern, schafft das nicht unbedingt Kompetenz für Situationen, in denen man nicht darum herum kommt, sich ihnen zuzuwenden. Fehlendes souveränes Handeln schwächt nicht nur die eigene Position, sondern stärkt die Gegenüber in ihrem Wissen, dass sie sich weiter so bewegen können.

In dieses Bild passt, dass zukünftig 13.500 Soldaten bei der Bundeswehr für die Sicherheit im Cyberaum sorgen sollen. Sie sollen die Bewegung der Bundeswehr fördern, die des Gegners hemmen und Beiträge zur Erhöhung der Überlebensfähigkeit leisten. Sie sind die Pioniere der Bundeswehr im Cyberraum. Nicht mehr und nicht weniger, denn der Cyberraum kennt keine Grenzen, die es zu verteidigen gibt. Das eigene (Bundeswehr-) Netz kann man zwar ebenso wie Einsätze verteidigen, man kann Angriffsoperation durchführen- aber kann man Deutschland insgesamt nicht vor einem massierten Angriff auf die Breite seiner Infrastrukturen schützen. Noch dazu, wenn die politische Führung nicht bereit ist, souverän hinsichtlich wahrgenommenen Handeln gegen Deutschland zu agieren.

Als der Verfasser dieses Beitrages 2013 eine intellektuelle Auseinandersetzung mit diesem Aspekt bemüht war, zu initiieren, indem er ein gedankliches Konstrukt eines Redesigns der Netze kreierte, duckte sich alles weg, was an Verantwortung irgendwo sichtbar war. Neben dem IT-Sicherheitsgesetz hat man diesen Verantwortungen nun eine Spielwiese geschaffen, auf der sie den Eindruck haben können, den Cyberraum zu sichern. Das Land kann fallen, aber zumindest die Bundeswehr ist dann gesichert. Ob es nun Dummheit ist, die derartiges hervorbringt oder Feigheit vor dem Feind- oder Freund-, ist dabei fast von untergeordneter Bedeutung.

Wie sehr deutsche Politik bereit ist, deutsche Interessen ohne Sinn und Verstand äußerem Druck zu opfern, zeigt sich auch an der Ukraine-Krise. Welcher Sinn steckt dahinter, sich im geopolitischen Schachspiel als Bauer wieder gen Osten in Stellung bringen zu lassen, dadurch gegenüber 38 Milliarden EUR im Jahr 2013 im Vorjahr 17 Milliarden EUR weniger zu exportieren und durch die Stationierungsstrategien der NATO in den nächsten Jahren vielleicht auch noch als Kanonenfutter herhalten zu müssen? Wie kann man dem immer wieder gepiesackten und das Schachpiel durchaus auch beherrschenden russischen Bären seinen asymmetrischen Zug auf der Krim vorwerfen und ihn nicht als Achtungszeichen interpretieren, es nicht zu übertreiben? Kann man inzwischen wieder außeracht lassen, dass deutschem Großmachtdenken 27 Millionen Russen, aber auch über 6 Millionen Deutsche zum Opfer fielen? Ist der Politik wirklich nicht bewusst, dass allen Marketingaktionen zur Neubelebung einer Russlandfeindlichkeit zum Trotz der Widerspruch im Volk gegen eine solche Politik wächst und sich seinen Weg sucht, um ihn auszudrücken?

Die Flüchtlingskrise offenbart ebenfalls deutsche Tugenden: Ignorieren so lange es geht, dann kleinreden, dann je nach Rolle Handlungskompetenz vortäuschen oder jegliches Handeln abwatchen, gutgemeinte Ratschläge ignorieren und auf jeden Fall alles vermeiden, was dazu führen kann, sich grundsätzlichen Fragen zuwenden zu müssen. Z. Bsp. dem Züngeln der USA im Nahen Osten, zu dem auch die Destabilisierung Syriens gehört. Statt die Stabilisierung des Nahen Ostens in den Problemlösungsprozess einzubeziehen und, indem man Gutes tut, der deutschen Wirtschaft tendenziell neue Märkte zu schaffen, frönt man altkolonialen Hoffnungen, den eigenen Interessen genehme Staathalter installieren zu können. Wohin das führt, sieht man am Irak, an Libyen und der Erstarkung des IS.

Doch nicht zuletzt legt die Flüchtlingskrise frei, dass Europa keine Werte- sondern eine Zweckgemeinschaft ist und selbst die Werte seines wichtigsten Trägers, Deutschland, vor dem Hintergrund der Größe des Problems ihre Werthaltigkeit zunehmend verlieren. Die Spaltung der Gesellschaft vertieft sich. Doch statt sich ihrer grundsätzlich anzunehmen, meint man das Volk mit Blick auf den aufziehenden Bundestagswahlkampf erneut mit den angeblichen Wohltaten des dem nach der Wahl folgenden Paradieses ruhigstellen zu können.

Wie kann es darüber hinaus sein, dass alle möglichen Typen die deutsche Wirtschaft vertreten und von den Segnungen von TTIP in der Annahme möglicher zusätzlicher Marktchancen schwätzen, ohne das durch tiefgründige, ganzheitliche Betrachtungen zu untersetzen? Ohne auf Grund der Vertraulichkeit zu wissen, was Sie dem deutschen Volk damit antun- bzw., wenn sie es wissen, es ignorieren-, oder wie sie langfristig auch gefährden, was ihre Väter und Großväter mühsam aufgebaut haben? Muss der Folge, den Ersten der Tod, den Zweiten die Not, den Dritten das Brot hinzugesetzt werden, den Söhnen die Not, den Enkeln wieder den Tod? Weil sich diese Generation unfähig zeigt, die Zeichen ihrer Zeit richtig zu deuten und souverän, zukunftssichernd zu handeln?

TTIP ist kein neuer Marshallplan der USA für Europa. Auf Seiten der USA ist es das weit über Standardisierungsthemen hinausgehende Bemühen, die wirtschaftlichen wie auch die politischen Rahmenbedingungen für eine amerikanische Dominanz und dabei insbesondere für die besonderes in den USA beheimateten multinationalen Konzerne zu verbessern. Das ist vollkommen legitim. Wenn dann aber in geheimen Verhandlungen auf der europäischen Seite Verhandlungspartner gegenübersitzen, die unzureichend souverän die Breite nationaler und europäischer Interessen vertreten, entstehen Ungleichgewichte, aus denen heraus es nur eine Frage der Zeit ist, wann sie zu einem Problem für die transatlantische Partnerschaft werden, da diese Partner nur begrenzt in der Lage sind, das Volk an diese Partnerschaft zu binden. Welcher verantwortliche Politiker auf der Regierungsseite hat es geschafft, öffentlich ausführlich neben den Chancen die Risiken von TTIP zu diskutieren, um daraus beim Volk Vertrauen für seine Entscheidungen zu gewinnen?

In der Folge entwickelt sich ein Mobilisierungspotential zu Lasten der bisherigen Stabilität, denn der Bürger spürt, dass er durch seine Politiker unzureichend vertreten wird. Das sich aus der Tatsache verstärkt, dass Politiker sich erst durch den öffentlichen Druck neu justieren- dann aber die Chancen vernachlässigen-, oder, wie es Jean-Claude Juncker mal empfohlen hat, erst mal abwarten, bis das Geschrei abebbt, um dann Schritt für Schritt weiterzumachen, bis es kein Zurück mehr gibt. Ganz offensichtlich ist auch TTIP eine vertane Chance zur Stärkung der transatlantischen Partnerschaft.

Die Abteilung „Europa“ mit Schaustücken wie Ungarn-Polen, Brexit und Türkei hat sicher auch einiges zu bieten, doch wenden wir uns der Frage zu, welchen systemischen Hintergrund man bei der Auseinandersetzung mit all diesen Problemstellungen feststellen kann. Sie eint, dass sie unglaublich große finanzielle und personelle Ressourcen verbrannt und erhebliche Verantwortungen auf Deutschland abgeladen haben, ohne auch nur in einem einzigen Fall gelöst worden zu sein oder einen wie auch immer gearteten Nutzen für die Nation erbracht zu haben. Sie halten davon ab, sich mit den für Deutschland relevanten Themen zu beschäftigen. Wenn es heutzutage, zumindest in der Regel, die Strategie der Fußball- Nationalmannschaft ist, ihr eigenes Spiel zu spielen und sich nicht nach der Spielweise des Gegners auszurichten, so gelingt das der deutschen Politik nur selten. Sie wird durch die Problemstellungen in Abwehrkämpfe hineingezogen und zunehmend zerrieben. Wie kann das sein? Wie kann es soweit kommen?

Es mag wohl an dem Typ Mensch liegen, der heute durch die Lande streift. So wie sich zu anderer Zeit der Mensch durchgesetzt hat, weil er durch den aufrechten Gang Vorteile hatte- z. Bsp. einen besseren Überblick-, setzt sich in unserer Zeit wieder der gebeugte Gang durch. Widerspruch ist bemerkenswerterweise besonders dort nicht Teil der eigenen Leistung, wo man annehmen kann, dass die intellektuellen Fähigkeiten gegeben sind, alternatives zu denken. Doch der Blick auf den eigenen Nutzen ist so dominant, dass vorgegebenes als alternativlos akzeptiert wird.

Kontroversen entfalten sich primär im Konflikt mit anderen Gruppen und innerhalb der Gruppe allenfalls in Revierkämpfen zur Durchsetzung individueller Ziele. Statt Hinterfragung bedingungslose Gefolgschaft. Mit dem Finger auf Andere zeigen, der dann fehlt, wenn man sich sinnvollerweise mit sich selbst auseinandersetzen sollte. Selbstkritik ist nicht Bestandteil deutscher Mentalität. Eine solche Umgang miteinander ist ein Paradies für das große Heer substanzloser Mitläufer und die Vielzahl der Berater, die oftmals nichts anderes besitzen als die Fähigkeiten, substanzielles zu diskreditieren und substanzloses durch etwas im Vergleich dazu bedeutenderes zumindest etwas einzufärben und damit den Anschein von substanziellem zu geben.

Das zeigt sich halt nicht zuletzt in den Parteien. Die Politiker von heute sind nicht zu vergleichen mit den Senatoren des alten Rom. Sie erwachsen selten aus zurückliegend erbrachten intellektuellen, wirtschaftlichen oder gar militärischen Leistungen, die sie dafür prädestinieren, Verantwortung für die Nation zu übernehmen. Ihre Laufbahn vollzieht sich in Parallelwelten von Strukturen mit ganz eigenen Leistungsanforderungen. So kommt es dann, dass sie ihr Geld mit Gaukeleien vor den Kulissen der Parteiprogramme verdienen, die potemkinschen Dörfern gleich dem Volk die Hoffnung auf ein Leben geben, dass sich im Realen aber immer weiter von ihren Träumen entfernt. Sie folgen Regieanweisungen, die ihre künstlerische Freiheit auf das gerade zu bespielende Stück begrenzen. Ihr ohne Zweifel wie bei jedem Anderen vorhandenes individuelle Potential verschleißt sich an Karrierezielen, die sich primär aus dem Abnicken der Parteivorgaben ergeben, statt an dem Dienst für das Volk als des Volkes Vertreter und der Sicherung der Zukunft für die Nation als Ganzes.

Die Geschichte lehrt, dass man das mit der eben beschriebenen Mentalität sicher auch ausgestattete Volk nicht dauerhaft durch Tricksereien und medialen Einheitsbrei von der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit abhalten kann. Ein großer Teil zeigt sich zunehmend resistent gegen das wieder aufgekochte Feindbild vom bösen Russen und ein anderer Teil gibt klar zu erkennen, dass man sich um sein Weltbild zulange nicht gekümmert hat. Aber insbesondere begehrt das Volk auf, wenn das Brot knapp wird. Der Bürger von heute kennt zwar nicht den Hunger vergangener Zeiten. Aber er spürt schon, wenn sein Wohlstand gefährdet wird. Das gilt gerade auch für die Sehnsucht vieler Menschen nach dem Alter, dass ihm als ein Garten Eden ohne die immer härteren Mühlen der Arbeit erscheint. Wenn dann berichtet wird, dass dem Garten das Wasser fehlt und die angelegten Kulturen vertrocknen, fängt auch er an, sich in seiner Wirklichkeit umzusehen.

Doch während Deutschland sich den Aufführungen der Politiker hingibt und zunehmend in seiner Substanz zerbröselt, entfalten sich anderswo wirtschaftliche und (neuzeitliche) militärische Kräfte. Die Einen erobern eine Branche nach der Anderen. Die Anderen haben den Ring und erobern die Matrix. Doch dessen Kräfte zehren zunehmend an ihrer Substanz. In der Wahrnehmung dieser Schwäche kommt es zu zunehmend unkontrolliertem Handeln und einem Dominanzstreben, das eine Gefahr für alles ist, was bisher geschaffen wurde.

Ist man wirklich nicht in der Lage, intellektuell zu erfassen, dass die menschlichen Möglichkeiten eine vollkommen neue Qualität ihrer Entwicklung erreicht haben? Mit der Nutzbarmachung der Atomkraft hat sich der Mensch schon ein Werkzeug geschaffen, mit dem sich die Menschheit komplett auslöschen kann. Mit der Informations- und Kommunikationstechnik schafft sich der Mensch Gründe und die Voraussetzungen, nicht mehr benötigt zu werden. Die Erde kann bald ohne ihn, wie auch immer, gestaltet werden. Der Mensch ist dann nicht mehr das höchste Wesen, wenn man als solches sieht, was selbstbestimmt in der Lage ist, zu tun. Darauf ist man nicht vorbereitet.

All die oben genannten Probleme sind Ausdruck einer Entwicklung, bei der technologischer Fortschritt Gesellschaften in ihrer Existenz bedroht, da nicht parallel adäquate gesellschaftliche Entwicklungen forciert werden. Sicher kann man sich jedem einzelnen, in sich selbst komplexen, Problem zuwenden und das politische Handeln ist wesentlich von dieser Herangehensweise geprägt. Doch letztendlich beeinflusst es das durch die Summe der Probleme gekennzeichnete Lagebild nur marginal.

Mancher meint ja, schon irgendwo die Fanfaren zu hören. Weil die Quantität eine Qualität erreicht hat, die nach Umbruch begehrt. Das mag überzogen sein. Es ist nicht Deutschlands Stil. Wir sind nicht Frankreich. Wir sind anders. Doch schaut man sich solche Projekte wie die der Vorratsdatenspeicherung an und reflektiert den Ruf nach der Bundeswehr im Inland, so kann man die Frage mal vernachlässigen, warum das koordinierte Handeln aller Kräfte in Gefahrenlagen nicht schon längst selbstverständliche Kompetenz ist, über die nicht gequatscht wird, sondern die, wenn notwendig, selbstverständlich zum Einsatz kommt und insofern schon längst trainiert sein müsste-, schon über ähnlich analytisches, aber mit anderer Grundausrichtung ausgestattetes Denken spekulieren, das meint, manches nicht ausschließen zu können und sich insofern darauf vorbereiten zu müssen.

Ist das aber die Vorstellung von der Zukunft Deutschlands? Des Landes, das trotz allem, was seine Geschichte auch ausmacht, viel für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in eine zivilisierte Zukunft geleistet hat? Deutschland hat oft bewiesen, Innovationen treiben zu können unabhängig davon, dass es sich dann oft das Heft des Handelns aus der Hand hat nehmen lassen. Eine besondere Qualität ist dabei damit gegeben, pragmatisch-wirtschaftliche Zielstellungen mit einem bestimmten Maß an gesellschaftlicher Sinnhaftigkeit zu verknüpfen. Es scheint an der Zeit, vorrangig an Innovationen für gesellschaftliche Entwicklungen derart zu arbeiten, dass sie wirtschaftlichen Notwendigkeiten nicht im Weg stehen und ihnen ganz im Gegenteil neue Impulse geben.

Dieser Umbruch wird mit jedem Tag herausfordernder als die Bewältigung des Klimawandels oder des Atomausstiegs. Man muss bedauern, kann es aber nicht mehr ändern, dass die zurückliegenden Probleme dafür nicht genutzt wurden. Die Bereitschaft, sich zu ändern, gehört nicht zu den Qualitäten des Zeitgeistes. Als Kleingeist verwaltet er lieber, was er gewohnt ist und ihm wenig mentalen Aufwand verursacht. Er hadert mit jedem Freigeist, der meint, ihm die Notwendigkeit für neuartige Handlungsmuster empfehlen zu müssen. Wenn ihm dann vermittelt wird, er solle entsprechend seiner wirtschaftlichen Stärke mehr Verantwortung übernehmen, so fällt es ihm sehr viel leichter, den Einflüsterungen nach Übernahme von mehr militärische Verantwortung zu folgen, als sich der so schwer fassbaren Materie zuzuwenden, einen kulturellen Wandel einzuleiten und dadurch einen eigenständigen Weg zur Bewältigung der absehbaren gesellschaftlichen Herausforderungen zu finden. Ohne eben diesen wird es aber nicht gehen.

Fragt man nach der Moral dieses Beitrages, dem, was er bemüht ist zu leisten, so will er sicher zunächst einmal verhindern, dass ihm solche wie „Deutschland- mir graut vor dir“ und „Deutschland seine Tragik“ folgen. Der Weg dahin ist schon geebnet und es gilt zunächst, Hürden zu setzen, um dieser Richtung Einhalt zu setzen. Denn die Zukunft wird zeigen, dass das zweite Jahrzehnt dieses Jahrtausends von erheblicher Bedeutung für die deutsche und europäische Entwicklung war. Die Frage ist nur, ob die Zukunft verspielt oder gesichert wird. Insofern: Deutschland, beweg dich.

***

Bernd Liske ist Inhaber von Liske Informationsmanagementsysteme. Seine Bemühungen sind darauf gerichtet, die Leistungsfähigkeit von Individuen und die Wirksamkeit von Strukturen zu stärken. Im BITKOM war er seit dessen Gründung bis Mai 2015 Mitglied des Hauptvorstandes. Im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen bei der Bewältigung der NSA-Affäre wurde er aus dem BITKOM ausgeschlossen, wogegen er gegenwärtig gerichtlich vorgeht.

Bernd Liske (Jg. 1956 / studierter Mathematiker) ist Inhaber von Liske Informationsmanagementsysteme. In seinen Büchern und Artikeln setzt er sich mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen unserer Gesellschaft auseinander, um so Beiträge für die Erhaltung des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu leisten. Die in seinem Buch Aphorismen für die Menschwerdung des Affen – Wie der Mensch zum Menschen und wie die Demokratie ihrem Anspruch gerecht werden kann veröffentlichten Aphorismen betrachtet er als Open-Source-Betriebssystem zur Analyse und Gestaltung individueller, unternehmerischer und gesellschaftlicher Prozesse. Das den Aphorismen vorangestellte Essay über die „Auseinandersetzung als Beitrag für die Menschwerdung des Affen“ beschäftigt sich insbesondere mit der Natur der Demokratie und stellt Wege zur Diskussion, wie die westlichen Demokratien eine nachhaltige Zukunft gestalten können.



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