Politik

Crash-Gefahr Italien: Es geht um viel mehr als nur die Banken

Lesezeit: 13 min
14.08.2016 00:21
Die Banken-Krise in Italien ist nur das Symptom einer grundlegenden Wirtschaftskrise im gesamten Euro-Raum. Die Lage hat sich wegen einer falschen Euro-Politik so verschärft, dass es nun für den Euro ums Ganze geht.
Crash-Gefahr Italien: Es geht um viel mehr als nur die Banken
Quelle: OECD Main Economic Indicators, Daten Fed St. Louis

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Die Reaktion auf die Krise, die mit dem Ausverkauf verschiedener Bankaktien seit über einem Jahr für jeden sichtbar wurde, ist sehr verschieden. In Italien forderte Ministerpräsident Renzi, dass die betroffenen Banken durch den Einsatz staatlicher Mittel rekapitalisiert werden können – dies im Umfang von rund 40 Milliarden Euro. Genau das lehnen deutsche Politikmacher, etwa die Bundesbank, der Eurogruppenchef Disselblojm und die EU-Kommission ab. Sie beharren auf den seit dem Jahresbeginn 2016 gültigen EU-Richtlinien, die zuerst Aktionäre und nachrangige Anleihensgläubiger enteignen wollen, bevor der Staat einspringen kann. Schließlich haben sich verschiedene Exponenten der Finanzindustrie warnend geäußert, dass die Bankensituation Italiens ganz Europa eine neue Bankenkrise bescheren könnte. Sie wollen eine Rekapitalisierung der Banken, dies unter Umgehung der Bail-in Klausel, da ein Systemrisiko bestehe. Die Bankensanierung in Europa erfolge in Europa viel zu spät und sei sträflich verpasst worden. Wichtig bei letzterem sei, dass nicht nur in Italien, sondern europaweit die Banken mit genügend Kapital ausgestattet sein sollten.

Oberflächlich geht es um die Rekapitalisierung der Banken, um Ausmaß und Form. Schon allein dies ist komplex. Aber die Probleme gehen viel tiefer, sie betreffen die gesamte makroökonomische Politik, die seit Jahrzehnten in Italien und seit Ausbruch der Eurokrise europaweit eingeschlagen worden ist. Alle Vorschläge, die bis jetzt geäußert worden sind, gehen in einem bestimmten Sinn am Kern des Problems vorbei. Im Kern ist es eine zutiefst deflationäre Politik, welche das Land – selbst gewählt wie auch auferlegt – in eine unlösbare Schuldenkrise manövriert und welche die Eurozone als Ganze zerstören kann. Um diese komplexe Gemengelage geht es effektiv bei der italienischen Bankenkrise.

Was für eine Lösung für die italienische Bankenkrise gewählt wird, sollte nicht unabhängig von einer differenzierten Analyse der gesamten italienischen Ökonomie, aber auch der Politik der Eurorettung seit 2011 und der EZB bestimmt werden.

Die Standard-Bail-in Klausel würde eine weitere, klassisch deflationäre Maßnahme darstellen. Sie ist aus verschiedenen Gründen in Italien unangebracht und würde rasch eine Bankenkrise in ganz Europa auslösen. Die von der Regierung angepeilte Rekapitalisierung um 40 Milliarden Euro ist ein Pflaster und wird niemals genügen. Sie hilft nur wieder etwas Zeit zu gewinnen, bis bei den gleichen Banken oder anderswo noch höhere Fehlbeträge auftauchten. Und selbst eine massive Rekapitalisierung hilft Italien allein noch nicht auf die Beine, wenn nicht eine ganze Reihe begleitender Maßnahmen getroffen werden. Das müsste der Kern der Strukturreformen sein, welche Italien wirklich benötigt. Die Orientierung der Wirtschaftspolitik in Italien und darüber hinaus in der Eurozone ist schief, geht am Kern der Probleme vorbei, und vergrößert sie dadurch immer weiter, bis sie unlösbar werden bzw. in einem riesigen europaweiten oder globalen Schuldenschnitt enden.

Diese Punkte sollen in einer losen Serie von Artikeln gezeigt werden. Der erste Artikel zeigt die grundlegenden Probleme der italienischen Wirtschaft auf. Diese Probleme werden als eine ungleiche, asymmetrische Entwicklung innerhalb einer Währungsunion beschrieben. Der heutige Teil räumt mit einigen populären Missverständnissen auf. Teil 2 behandelt dann die Rolle der Wirtschaftspolitik, vor allem der Geld-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik, wobei wiederum asymmetrische Effekte innerhalb der Währungsunion im Zentrum stehen sollen. Teil 3 behandelt spezifisch die Bankenkrise, und leitet die Optionen für die Wirtschaftspolitik ab.

Zunächst ist einmal zu lokalisieren, woher die enormen Kreditverluste stammen. Anders als bei deutschen, französischen oder schweizerischen Banken waren es nicht verfehlte Anlagen der Banken im Ausland. Es sind konzentrierte Kreditverluste im Inland. Sie sind auch nicht, wie in Spanien, Irland, Griechenland oder Portugal, durch eine überbordende, auf wenige Sektoren konzentrierte Kreditvergabe des Bankensystems in der Expansionsphase bis 2008 verursacht. Es hat in Italien keine massive Bau- und Immobilienblase in den Jahren 1999 bis 2008 gegeben – sehr wohl aber Ansätze dazu. Die enormen Kreditverluste hängen vor allem mit der extrem schwachen, um nicht zu sagen depressiven Wirtschaftsentwicklung Italiens seit 2008 zusammen. Italien hat unter den großen Industrieländern Westeuropas eine vergleichsweise miserable Wirtschaftsentwicklung: gemäß den offiziellen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen die schlechteste. Das Bruttoinlandprodukt liegt 2015 auf dem Niveau von 2000. Kein Wachstum über 16 Jahre, und es liegt immer noch 7 Prozent tiefer als im zyklischen Höchst von 2007. Dabei sind die Aussichten oberflächlich nicht besonders ermutigend. Für 2016 wird vom Statistikamt ISTAT ein BIP-Wachstum von 0.8 Prozent, für 2017 ebenso wenig prognostiziert. Dies obschon die globalen Bedingungen an sich für die italienische Wirtschaft mit einer Kombination stark gefallener Ölpreise und Zinsen günstig wären. Schließlich wurzeln die Kreditverluste aber auch in der Besitzstruktur und in den Grundsätzen der Unternehmensführung (engl. corporate governance) der Banken, aber auch in der missratenen Aufsicht durch die Banca d’Italia sowie generell im italienischen Justizsystem. Sie alle sind Manifestationen der Vetternwirtschaft (engl. crony capitalism) italienischen Stils.

Der Euro als Korsett: Die falschen Erklärungen

Die Gründe für die schwache Wirtschaftsentwicklung Italiens sind nicht einfach, sondern komplex. Es gibt eine riesige Literatur mit sehr vielen und zum Teil kontroversen Ansätzen hierzu. Vieles ist im Detail interessant und wird teilweise auch korrekt dargestellt. Doch sind die grundlegenden Punkte nirgends angemessen erfasst. Die zentralen Faktoren sind in der gängigen Analyse sogar durchwegs falsch dargestellt. Deshalb gehen auch die ‚Reformen’ seit Jahren mehrheitlich und wohl für die weitere Zukunft in eine verkehrte Richtung. Zunächst einige grobe, aber immer wieder zitierte Irrtümer:

Der Euro stelle für Italien ein Korsett dar, welches keine Abwertung mehr wie unter der Lira erlaube. Dadurch können die inhärent schwache Produktivität und das schwache Produktivitätswachstum der italienischen Wirtschaft nicht mehr durch sukzessive Abwertungen übertüncht werden. Diese Interpretation geht davon aus, dass in der Vergangenheit bei konjunkturellen Schwierigkeiten einfach die Lira fallengelassen wurde. Doch das ist falsch.

 

Dieser Analyse liegt eine einfache Verwechslung von nominellem und realem handelsgewichtetem Wechselkurs zugrunde. Der reale effektive Wechselkurs ist der um die Unterschiede in der Preis- oder Kostenentwicklung bereinigte nominelle Wechselkurs. In der Grafik bedeuten fallende Indizes eine Abwertung, steigende Indizes eine Aufwertung des realen handelsgewichteten Wechselkurses. Langfristig hatte Italien einen relativ stabilen realen Wechselkurs, aber mit erheblichen Schwankungen. Diese entsprachen und entsprangen aber nicht dem Muster des weltweiten Konjunkturzyklus. Sie wurzelten vielmehr in spezifischen Arrangements, die sich aus dem Währungssystem und der Geldpolitik ergaben, sowie in der Politikkombination, die teils innenpolitisch, teils aber auch durch internationale Rücksichten und Verpflichtungen diktiert war.

Die erste große reale Abwertung erfolgte in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Wie viele andere Notenbanken der Welt hielt die Banca d’Italia nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods Systems zunächst daran fest, den nominellen Wechselkurs des US-Dollars relativ zur eigenen Währung, der Lira, bis Mitte der 1970er Jahre zu stabilisieren. Dadurch wertete sich handelsgewichtet die Lira in der ersten Hälfte der 1970er Jahre real sehr stark ab. Der Dollar verlor gegenüber der D-Mark und anderen europäischen Währungen nach der Abkehr von der Goldeinlösepflicht 1971 und erst recht nach der Freigabe der Wechselkurse von D-Mark und anderen Währungen im Januar 1973 stark an Wert. In der Grafik fällt der reale handelsgewichtete Wechselkurs in den zwei Folgejahren nach dem Januar 1973 steil ab. Die starke reale Abwertung bescherte Italien in den 1970er Jahren einen im internationalen Vergleich weit überdurchschnittlichen Boom mit sehr starker Wohnbautätigkeit (Flucht ins Betongold) und Industrieproduktion. Kehrseite war natürlich verzögert eine Explosion der Inflation in Italien, weil der erste Erdölschock von 1973/74 sich zur sehr starken Abwertung gesellte. Der Inflationsstoß wurde verzögert noch verstärkt noch durch die ‚scala mobile’, einer automatischen Anpassung der Nominallöhne an die aufgelaufene Teuerung der Konsumentenpreise. So gingen auch die Inlandspreise verzögert explosionsartig in die Höhe.

Von Ende der 1970er Jahre bis September 1992 wertete umgekehrt die Lira handelsgewichtet real stark auf. Italien verfolgte in diesem Zeitraum eine extrem expansive Finanzpolitik und kombinierte diese mit einer restriktiven Geldpolitik – ausgedrückt durch sehr hohe Realzinsen. Eine Politik-Kombination exakt wie diejenige unter Reagan/Volcker. Diese hatte in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zu einem allerdings noch stärkeren Überschießen des handelsgewichteten US-Dollars geführt hatte. Die Geldpolitik Italiens war dabei in ein neues Währungsregime eingebunden. Italien war 1979 von Beginn weg dem Wechselkursmechanismus I des ECU (ERM) beigetreten, der eine Bandbreite von +/-2.25 Prozent gegenüber dem Mittelwert vorsah, aber die Möglichkeit zu Paritätsanpassungen enthielt. Italien hatte wegen seiner hohen Inflationsraten zunächst eine erweiterte Bandbreite von +/-6 Prozent gegenüber dem ECU. Die Zinsen folgten im Wesentlichen denen der Bundesbank und enthielten eine Risikoprämie für Austritts- oder Abwertungsrisiken. Es ist sehr zu betonen, dass sich bis 1992 die Lira real stark aufwertete, obwohl sie nominell weiter abgewertet wurde. Im ERM I gab es bis zur Krise von 1992 insgesamt 17 Wechselkursanpassungen (engl. realignments), wobei diese ungefähr die Hälfte die Lira betrafen.

Die Inflationsdifferenz zum Ausland war aber hauptsächlich wegen der expansiven Finanzpolitik und der scala mobile deutlich höher als das Tempo der nominellen Abwertung. 1990 wurde, parallel zum Beitritt Großbritanniens zum ERM, die Bandbreite im ERM auch für Italien auf +/-2.25 Prozent reduziert. Eine Maßnahme, die sich verhängnisvoll erweisen sollte, solange die scala mobile bestand. Denn in der Periode 1990 bis 1992 überschoss der reale Wechselkurs und die Banca d’Italia musste die neue Bandbreite mit extrem hohen Zinsen verteidigen. In Italien (wie in Griechenland) stammt die hohe Staatsverschuldung aus dieser vor allem innenpolitisch motivierten Fiskalexpansion der 1980er Jahre. Sie war begleitet von anhaltend hohen Budgetdefiziten (Primärdefiziten unter Ausklammerung der Zinszahlungen) und einer hohen Zinslast auf der ausstehenden Staatsschuld. Italien wie Griechenland sind nicht Länder, die immer schon und permanent hohe Budgetdefizite hatten.

Nach dem Austritt aus dem Wechselkursmechanismus des ECU (ERM) im Herbst 1992 erfolgte die zweite heftige reale Abwertung der handelsgewichteten Lira. Der Austritt aus dem ERM erfolgte wiederum nur unter unerhörtem Druck. Wegen des Vereinigungsbooms in Deutschland hob die Bundesbank die Zinsen drastisch an, und die Banca d’Italia musste wie die Notenbanken anderer Teilnehmerländer mitziehen – mit fatalen Wirkungen für die Binnenkonjunktur. Italien geriet als Folge der hohen Zinsen zu Beginn der 1990er Jahre in eine schwere Wirtschafts- und Bankenkrise, noch verstärkt durch die Effekte des Tangentopoli-Skandals auf die Staatsausgaben. Italien zog deshalb einen Tag nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem ERM ebenfalls nach. Nur so konnte die Banca d’Italia die Zinsen rasch von den astronomisch hohen Niveaus reduzieren, welche die Märkte als Risikoprämien gegenüber den Zinsen der Bundesbank verlangten.

Die Abwertung verschaffte Italien auch im Außenhandel wieder Wettbewerbsvorteile. Der Austritt aus dem ERM war keine isolierte Aktion der Banca d’Italia. Neben der Bank of England zogen auch die Notenbanken der skandinavischen Länder die Reißleine und werteten scharf ab. Wie nach dem Januar 1973 war die reale Abwertung der Lira kurz und heftig. Sie wurde noch verstärkt durch die Abschaffung der scala mobile Ende 1992 und den Übergang zu einem neuen Regime der Nominallohn-Fixierung. Die Beseitigung der scala mobile war die disinflationäre Maßnahme in Italien. Leider wurde sie später sequentiell ergänzt durch effektiv deflationäre Schritte, welche die Realeinkommen zertrümmerten.

Von Mitte der 1990er Jahre bis zur Einführung des Euro im Januar 1999 kehrte der reale Wechselkurs der Lira wieder ungefähr auf einen langfristigen Mittelwert zurück. Seit Einführung des Euro im Jahr 1999 fluktuiert der reale Außenwert der Währung Italiens in einem engeren Band als seit den 1970er Jahren, stellt aber vom Niveau her ungefähr einen Durchschnitt der letzten 50 Jahre dar. In der Dynamik hat die Währung real seit 2009 sogar leicht abgewertet. Der (als zu hoch apostrophierte) reale Wechselkurs wie auch die fehlende Option zur Abwertung taugen nicht als Erklärung der Wachstumsschwäche seit der Jahrtausendwende. Italien hat seit Einführung des Euro lediglich eine höhere Stabilität des realen Wechselkurses als zuvor – aber kein überhöhtes Niveau.

Noch weniger gibt diese Erklärung der mangelnden Flexibilität des Wechselkurses für die anderen Peripherieländer etwas her – mit der Ausnahme Griechenland, wo die Verhältnisse komplexer liegen. Diese Länder haben in der Periode flexibler Wechselkurse von 1973 bis zur Einführung des Euro 1999 eine massive Aufwertung ihres realen handelsgewichteten Wechselkurses erfahren – und zwar nicht im Vorfeld zur Einführung des Euro, sondern vorher.

 

 

 

 

 

 

 

 

Reale effektive Wechselkurse sind für Vergleiche über lange Zeiträume nicht unproblematisch. Ihre Berechnungsweise von früher genügt heutigen Ansprüchen nicht mehr. Sie haben geradezu ihre Tücken. Ohne in die Details einzusteigen, kann festgestellt werden, dass die Bilder weitgehend identisch sind, welche Definition auch immer gewählt wird. Auch die Indizes in der Definition der OECD oder des Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigen ungefähr das gleiche Bild wie bei den Daten der BIZ. Die OECD deflationierte ihre Wechselkurs-Indizes mit den relativen Lohnstückkosten in der verarbeitenden Industrie oder mit den relativen Verbraucherpreisen von Gütern. Der IWF wie die BIZ operierten mit den relativen Verbraucherpreisen. Es kann keine Rede davon sein, dass diese Länder vor Einführung des Euro systematisch abgewertet hätten, um ihre mangelnde oder sich verschlechternde Wettbewerbsfähigkeit zu kompensieren. Das Gegenteil ist der Fall. Zudem ist bei den auf Lohnstückkosten basierenden Serien in Italien der Anstieg des realen Wechselkurses zwischen 1979 und 1992 noch ausgeprägter als bei den BIZ- oder IWF-Datenreihen. Und das Niveau seit dem Beitritt zum Euro keineswegs historisch einzigartig.

 

 

 

 

 

 

 

 

Zu Vergleichszwecken sind zusätzlich noch die Wechselkurs-Indizes von Spanien und Portugal angeführt. Beide Indizes sind in der Periode flexibler Wechselkurse massiv angestiegen, vor allem seit Mitte der 1980er Jahre, als beide Länder der Europäischen Gemeinschaft beitraten. Sie sind nicht gefallen, wie gerne unterstellt wird. Die Einführung des Euro hat im Wesentlichen die zyklische Volatilität des realen effektiven Wechselkurses Italiens reduziert, aber nicht zu einer Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit geführt.

Zweite falsche Erklärung: Leistungsbilanzdefizite als Folge übermäßig gestiegener Lohnstückkosten in den Peripherieländern seit 1999

Die zweite falsche Erklärung zielt auf Wettbewerbsverluste aufgrund übermäßig gestiegener Lohnstückkosten. Das ist die Standarderklärung für die Probleme der Peripherieländer unter dem Euro, die seit dem Ausbruch der Eurokrise jeweils herangezogen wurde. Sie hängt implizit mit der ersten falschen Erklärung zusammen. Sie basierte auf einem rein grafischen Vergleich von Zuwachs der ausgewiesenen Lohnstückkosten und Leistungsbilanzsalden von 1999 bis 2010 oder 2012, hauptsächlich zwischen Deutschland und den Peripherieländern. Als eine Art Evidenz, dass dem so sei, wurde typischerweise eine Grafik folgenden Typs herangezogen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die plakative Gegenüberstellung in Grafiken dieses Typs suggerierte, dass die fünf Peripherieländer inklusive Italiens zu stark gestiegene Lohnstückkosten hatten. Die Lohnstückkosten enthalten zwei Komponenten, die nominellen gesamtwirtschaftlichen Lohnkosten einerseits, und die Produktivität andrerseits. Die nominellen Lohnkosten umfassen die ausbezahlten Löhne und die Lohnnebenkosten wie Sozialversicherungsbeiträge. Die Produktivität ist definiert als reales Bruttoinlandprodukt pro Beschäftigten.

Aufgrund dieser Interpretation von Lohnstückkosten und Leistungsbilanzsalden ist Italien von der Eurozone und Europa aus eine deflationäre Politik zur Krisenbewältigung aufgezwungen worden, wie überall in den Peripherieländern. Man wollte Löhne und Preise bewusst nachhaltig senken, um die behauptete oder aus der Grafik abgeleitete, verlorene internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Dabei standen Ziffern im Raum, welche einen relativen Rückgang von Nominallöhnen und Preisen von bis zu 30 Prozent forderten. So hoch ist ungefähr die Differenz der ausgewiesenen Lohnstückkosten zwischen Deutschland und den einzelnen Peripherieländern in der Grafik seit dem Start des Euro – mit Abweichungen nach oben und unten. Alle Instrumente der Wirtschaftspolitik wurden herangezogen, um die angestrebte Deflation durchzusetzen: Geldpolitik, Finanzpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Aufbrechen oder Deregulieren von Produkt- und Dienstleistungsmärkten im Generellen. Diese im Wesentlichen neoliberale Agenda mit gezielt deflationären Absichten wurde als Politik der ‚Strukturreformen’ bezeichnet. Immerhin ist anzumerken, dass Verfechter dieser Interpretation wie Olivier Blanchard auch gleichzeitig höhere Löhne in Deutschland als Beitrag zur Wiederherstellung des Gleichgewichts forderten.

Die Behauptung zu starker Lohnsteigerungen, die über die Produktivitätsgewinne Italiens oder der Peripherieländer generell hinausgingen, ist eine der schlimmsten Fehlinterpretationen von Makroökonomen der letzten 100 Jahre, falsch und wenig tiefgründig in der Diagnose und desaströs in der Therapie. Dies soll in verschiedenen Etappen anhand des Beispiel Italiens gezeigt werden. Einzelne Querverweise auf die anderen Peripherieländer sollen dies untermauern.

Zu diesem Typus von Grafiken, die immer wieder als Beweise vorgebracht worden sind, müssen einige wesentliche Bemerkungen angebracht werden.

- Startdatum ist in aller Regel 1999, der Zeitpunkt, zu dem der Euro eingeführt wurde. Die Vorgeschichte wird meist nicht berücksichtigt. Es wird nicht gezeigt, ob zu diesem Zeitpunkt der reale handelsgewichtete Wechselkurs der einzelnen Länder in der längerfristigen Betrachtung hoch oder tief lag, ob er irgendwo einem langfristigen Gleichgewicht entsprach oder nicht.

- Durch die bilaterale Gegenüberstellung wird suggeriert, dass Italien und andere Peripherieländer Defizite in der Leistungsbilanz verzeichneten, weil ihre Lohnstückkosten gegenüber Deutschland zu stark stiegen. Andere Gründe werden gar nicht diskutiert.

- Es gibt gar keine komplexere Analyse weder der Lohnstückkosten noch der Leistungsbilanzsalden. Vor allem wurde nie abgeklärt, ob die Zahlen überhaupt korrekt berechnet oder überhaupt relevant sind.

- Die realen effektiven Wechselkurse, welche zur Anwendung gelangten, enthalten in aller Regel eine veränderte Form der Preisbereinigung (Deflationierung) nomineller Wechselkurse. Die Lohnstückkosten werden nämlich typischerweise nicht mehr auf die verarbeitende Industrie beschränkt. Zur Deflationierung werden die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten verwendet. Sie sind definiert als nominelle Lohnkosten in der Gesamtwirtschaft geteilt durch das reale Bruttoinlandprodukt pro Beschäftigten zum gleichen Zeitpunkt. Dieser scheinbar kleine Wandel in der Messung hat gravierende Konsequenzen. Den meisten Beobachtern sind sie entgangen. Von den Autoren, welche solcherart operieren, werden sie auch gar nicht erwähnt.

- Grundsätzlich werden durch diese Vorgehensweise Nominallöhne und Wertschöpfung von Sektoren herangezogen und weit übermäßig gewichtet, welche nichts mit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft oder von Industrien zu tun haben, die im Wettbewerb mit Importen stehen. Es werden mit zahlenmäßig sogar viel größerem Gewicht jene Sektoren berücksichtigt, die nur für den Binnenmarkt produzieren und die keinerlei Güter oder Dienstleistungen für den Export herstellen oder in Bereichen tätig sind, welche im Wettbewerb mit Importen stehen. Dies betrifft den ganzen Inlandsektor, d.h. etwa die Bauwirtschaft, den Staat, die meisten Dienstleistungen – selbst Teile des Agrarsektors.

- Diese Form der Deflationierung verzerrt und verkehrt deshalb die Ergebnisse in extremer Weise. Denn bis heute dominieren in den meisten Ländern Europas die Güterexporte und -importe die Gutschriften (credits) und die Belastungen (debits) in der Leistungsbilanz bei weitem. Die folgende kleine Tabelle zeigt den Anteil der Güter- und der Dienstleistungsexporte einerseits, der Güter- und Dienstleistungsimporte andererseits am Bruttoinlandprodukt einiger repräsentativer Länder.

- In den meisten Ländern dominieren Güterexporte und erst recht Güterimporte die gesamten Exporte bzw. Importe. Der Anteil der Güterexporte bzw. -importe übersteigt im Falle Deutschlands und Italiens wie auch etwa Frankreichs 80 Prozent des gesamten Außenhandels. Für die Importe ist dies in sehr vielen Ländern der Fall. Bei den Exporten hingegen gibt es Länder mit höheren Anteilen1 Grafik  der Dienstleistungsexporte. Das sind spezialisierte Länder, welche sich durch verschiedene Faktoren bedingt eine Spitzenstellung im Dienstleistungsexport erarbeitet haben. Klassische Beispiele in Europa sind das Vereinigte Königreich, die Schweiz (Finanzdienstleistungen) oder Luxemburg, aber auch die Tourismusländer wie Spanien, Portugal, Griechenland, Österreich und andere mehr.

- Von daher ist nicht einsichtig, warum ausgerechnet gesamtwirtschaftliche Lohnstückkosten zur Deflationierung verwendet werden. Nicht nur ist der Anteil der Beschäftigung im Industriesektor in vielen älteren Industrieländern sehr stark gesunken. Die Beschäftigung im für den Außenhandel relevanten Dienstleistungssektor ist ebenfalls sehr konzentriert. Die Löhne bzw. Lohnkosten in diesen Industrien mit international handelbaren Gütern und Dienstleistungen entwickeln sich auch signifikant verschieden vom Rest der Wirtschaft. Die Nominallöhne in den Industrien mit handelbaren Gütern wachsen viel stärker international angepasst oder korreliert, im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit.

Die folgende Graphik zeigt die Entwicklung der nominellen Lohnkosten in den fünf grossen Industrieländern Westeuropas in der allein maßgeblichen verarbeitenden Industrie. Italiens Lohnkosten wuchsen schwächer als diejenigen in Spanien und dem Vereinigten Königreich, insignifikant stärker als in Frankreich. Nur Deutschland weicht mit einer geringeren Lohnentwicklung signifikant nach unten ab. Deutschland mit seiner Größe und seinem Gewicht ist auch maßgeblich für die Entwicklung des Durchschnitts in der Eurozone (graue Kurve). Ohne Deutschland wären die nominellen Lohnkosten Italiens in der verarbeitenden Industrie genau gleich wie im Rest der Eurozone gewachsen.

 


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