Politik

Schmutziger Deal: Westen toleriert Abschaffung der Demokratie in der Türkei

Der Kriegseintritt der Türkei gegen den IS bietet der Regierung von Präsident Erdogan einen perfekten Anlass, um die kurdische Oppositionspartei HDP in die Nähe der Terrorismus zu rücken und schließlich zu verbieten. Erdogan hätte dann bei den anstehenden Neuwahlen die Chance, wieder eine regierungsfähige Mehrheit zu stellen. Es ist ein zynischer Wahl-Kampf, für den die Kurden den Preis bezahlen werden. Der Westen schweigt, weil er auch zu profitieren glaubt.
31.07.2015 02:02
Lesezeit: 4 min

Der Regierung Erdogan steht im Verdacht, über Jahre hindurch enge wirtschaftliche Kontakte zum „Islamischen Staat“ (IS) unterhalten zu haben. Unterlagen im Besitz der USA belegen, dass die türkische Regierung der Hauptabnehmer für das aus Syrien geschmuggelt Öl war. Die Einnahmen des ISIS aus dem Ölgeschäft werden auf ein bis vier Millionen Dollar täglich geschätzt und waren der finanzielle Motor für deren Expansion.

Mit dem nunmehr eingeleiteten Paradigmenwechsel türkischer Außen- und Innenpolitik wird die bisher passive bis wohlwollende Haltung der türkischen Regierung gegenüber IS beendet, und außenpolitisch vermarktet.

Innenpolitisch geht es um die Vorbereitung der Neuwahlen und um das Verbot der im Parlament mit mehr als 10 Prozent vertretenen kurdennahen HDP. Über diesen Weg hofft die AKP von Präsident Erdogan, die absolute Mehrheit im Parlament wieder erobern zu können. Dies kann gelingen, wenn die derzeitige Verhaftungswelle tatsächlich Verbindungen zwischen der PKK und der HDP zutage fördert. Mit diesem Vorgehen wird der mittlerweile von Erdogan für beendet erklärte Friedensprozess mit der PKK. Damit dürfte auch die Phase einer relativen innenpolitischen Stabilität zu Ende gehen.

Als im Mai dieses Jahres US-Spezialeinheiten in der syrischen Stadt Deir Ezzor in einer Kommandoaktion 12 IS-Mitglieder liquidierten, war darunter auch Abu Sayyaf, eine Schlüsselfigur im Ölgeschäft des IS. Seit Mai arbeiteten US-Nachrichtendienste daran, das beschlagnahmte Material auszuwerten. Der gebürtige Tunesier organisierte für den IS - zumindest seit 2013 - das Geschäft mit dem geschmuggelten Öl aus den Ölfeldern im östlichen Teil Syriens. Hunderte Datenträger und Dokumente wurden nach Informationen des britischen Observer sichergestellt.

Die Dokumente sind an Brisanz nicht zu überbieten, belegen sie die jahrelange intensive Zusammenarbeit zwischen den türkischen Behörden und IS im Ölschmuggel. Die türkische Regierung war der bei weitem größte Abnehmer und Nutznießer aus diesem Geschäft. Der Gewinn aus dem Erdölschmuggel für IS wird auf eine bis vier Millionen Dollar täglich geschätzt und war der finanzielle Motor für die Expansion des IS. Sowohl die USA als auch die europäische NATO-Staaten haben immer wieder ihr Unbehagen über die Passivität der türkischen Regierung im Umgang mit ISIS kritisiert.

Immer wieder wurde die Türkei im kleinen Kreis von den USA und europäischen NATO-Staaten mit Indizien konfrontiert, welche auch die Lieferung von Waffen und Gerät an ISIS nahelegten. Bisher völlig offen bleibt die Frage, wer innerhalb der türkischen Regierung oder innerhalb der Sicherheitsbehörden von diesen Geschäften profizierte.

In den vergangenen Monaten haben die NATO-Staaten kontinuierlich den Druck auf die Regierung Erdogan erhöht. Dass der britische Observer die erwiesene Rolle der türkischen Regierung beim Ölschmuggel öffentlich gemacht hat, ist nur ein weiteres Indiz dafür, wie stark die Regierung Erdogan in ihrer bisherigen Haltung gegenüber dem ISIS international unter Druck geraten ist.

Außenpolitisch lenkte die türkische Regierung ein: Seit Mittwoch dieser Woche öffnete die Türkei den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik für Einsätze der USA gegen den IS. Der Zustimmung dieser seit Monaten von den USA vehement vorgebrachten Forderung war das grüne Licht des NATO-Rates vergangene Woche für die Einrichtung einer Pufferzone zwischen Syrien und der Türkei vorausgegangen.

Mit einem außen- wie innenpolitisch motivierten Befreiungsschlag versucht die türkische Regierung ihren internationalen Handlungsspielraum wieder herzustellen und gleichzeitig die Regierungspartei von Präsident Erdogan durch das Wiederbeleben des alten Feindbildes PKK für die bevorstehenden Parlamentswahlen zu positionieren.

Zweifelsohne wird dies zulasten der im Parlament vertretenen Kurdenpartei HDP gehen, die im Juni 2015 bei den Parlamentswahlen erstmals die Zehn-Prozent-Hürde überwunden hatte und die AKP um die Mehrheit im Parlament brachte. Erdogans AKP, stimmenstärkste Partei nach den Parlamentswahlen, findet bis dato keinen Koalitionspartner, sodass spätestens im Herbst mit Neuwahlen zur rechnen ist.

Der Selbstmordanschlag in der syrisch-türkischen Grenzstadt Suruc, bei dem mehr als 30, meist junge, linke oppositionelle Jugendliche mit ethnisch kurdischem Hintergrund, getötet wurden, leitete einen innen- und außenpolitischen Paradigmenwechsel der Regierung ein. Bis dato fehlt das Bekenntnis von ISIS zu diesem Anschlag. Nicht nur die Opposition und die linke Presse kolportieren Zweifel an der IS-Urheberschaft.

Faktum ist, dass die türkische Regierung nach den Anschlägen der PKK auf Angehörige der Sicherheitskräfte als Folge des Selbstmordattentats in Suruc den seit Jahren laufenden, mühsamen Friedensprozess mit der PKK für beendet erklärt hat und damit begonnen hat, Stellungen der PKK in Nordirak durch die Luftstreitkräfte anzugreifen. Parallel dazu wurden die Stellungen der Milzen der syrisch-kurdischen PYD im Grenzgebiet zu Syrien durch die türkische Luftwaffe bombardiert.

Zeitgleich wurde die bisherige politische und militärische Zurückhaltung gegenüber dem IS aufgegeben, und IS-Stellungen im türkisch-syrischen Grenzgebiet unter Beschuss genommen. Dieser auch innerhalb der NATO auf Kritik gestoßene Angriff ist auf den ersten Blick deshalb unverständlich, weil die PYD und die PKK die bisher einzigen Formationen stellten, die dem IS militärisch, politisch und gesellschaftlich etwas entgegenzusetzen hat.

Die von Erdogan nunmehr verfolgte Zwei-Fronten-Strategie, nämlich die Aufkündigung einer Politik der Duldung und stillschweigenden Unterstützung und Kollaboration mit dem IS einerseits, und die innenpolitische Kampfansage an die türkische parlamentarische Opposition andererseits, zeigt bereits Wirkung. Ein Verbot von Demonstrationen der linken Opposition wurde ausgesprochen. Eine beispiellose Verhaftungswelle folgte. Innerhalb einer Woche wurden mehr als 1.300 Personen verhaftet. Ihnen werden Verbindungen zu PKK vorgeworfen, und nur wenige Personen stehen im Verdacht mit dem IS in Verbindung zu stehen.

Der Auftrag an die Sicherheitsbehörden lautet, belastbare Verbindungen zwischen den angeblichen Sympathisanten der PKK oder IS und den Strukturen der HDP nachzuweisen, mit dem Ziel, diese Partei vor dem nächsten Wahlgang zu verbieten und die Mehrheit im Parlament zurückzuerobern. Die Verhaftung von angeblichen Sympathisanten der PKK in der Türkei und die Drohung, die HDP notfalls aufzulassen, entlarven die derzeit laufen Aktionen als innenpolitisch motiviert und als wahltaktisches Manöver für die anstehenden Parlamentswahlen.

Es ist nicht zu erwarten, dass die Kritik der EU an der Aussetzung des Friedensprozesses mit der PKK nachhaltig genug sein wird, um innenpolitisch Wirkung zu zeigen. Vielmehr ist zu erwarten, dass die NATO der Türkei für die Bekämpfung des IS und sonstiger Problemstellungen, innenpolitisch wie außenpolitisch, weitgehend freie Hand lässt. Schließlich liegt die Einrichtung einer militärisch überwachten Schutzzone für die derzeitigen und die noch zu erwartenden Flüchtlinge im Interesse der EU, die schon sehr bald für die Mitfinanzierung des humanitären Desasters in die Verantwortung genommen werden wird.

Es spricht daher vieles dafür, dass die Kurden die eigentlichen Verlierer der von Präsident Erdogan verfolgten Doppelstrategie sind.

Gert R. Polli ist CEO von polli Intelligence and Public Safety. Er studierte an den Universitäten Wien und Monterery (Kalifornien). Er war 25 Jahre in österreichischen Nachrichtendiensten tätig. Er war Leiter der österreichischen Staatspolizei und Gründer des Österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), welches er von 2002 bis 2008 leitete. Er ist einer der führenden europäischen Experten für die Themen Terrorismusbekämpfung, Nachrichtendienste und Wirtschaftsspionage. Wien ist wegen seiner großzügigen Gesetzgebung seit Jahrzehnten eine der Drehschreiben der internationalen Geheimdienste, weshalb Polli eine umfassende Kenntnis über die Arbeit der Dienste aus allen Ländern hat.

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