Politik

Unaufhaltsam: Die Gletscher verschwinden aus den Alpen

Noch nie zuvor haben die bestehenden Gletscher so viel Masse verloren wie seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Das zeigen die Daten aus einem internationalen Register. Die Prognose der Forscher: Auch ohne Klimawandel kann das Schmelzen der Gletscher nicht aufgehalten werden.
04.08.2015 01:41
Lesezeit: 3 min
Unaufhaltsam: Die Gletscher verschwinden aus den Alpen
Rhonegletscher im Juni 2007 (Foto: Simon Oberli)

Der Gletscherschwund im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erreicht einen historischen Rekordwert seit Messbeginn. Das Schmelzen der Gletscher ist ein globales Phänomen und selbst ohne weiteren Klimawandel werden sie zusätzlich an Eis verlieren. Dies belegt die neueste Studie des World Glacier Monitoring Services unter der Leitung der Universität Zürich.

Besonders betroffen ist vor allem die Alpenregion. «Der Aletschgletscher hat sich um mehrere Kilometer zurückgezogen», sagte Michael Zemp, Direktor des World Glacier Monitoring Service und Erstautor der Studie. Auch der Morteratschgletscher habe stark an Masse verloren. In Alaska sind die Gletscher Gulkana und Lemon Creek Beispiele für massiven Schwund.

Zemp sagte den Deutschen Wirtschafts Nachrichten, dass die aktuellen Modelle zu einem eindeutigen Ergebnis kämen: «Wenn der Klimawandel so fortschreitet, werden bis zum Ende des 21. Jahrhunderts 90 Prozent der Gletscher in den Alpen verschwunden sein. In Österreich erwarten wir das weitgehende Verschwinden bereits in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.

Zemp erklärt die Gründe: «Die Gletscher sind zu groß für das heutige Klima. Das Problem ist, dass die Erwärmung der vergangenen Jahrzehnte bereits dazu geführt hat, dass der Schmelzprozess beschleunigt wird. Selbst wenn wir morgen alle Treibhausgase morgen auf Null fahren, würde der Schmelzprozess noch bis zu 20 Jahren weitergehen.

Der Klimawandel sei zwar ein globales Problem, wirke jedoch nicht linear. Die Alpen seien wegen der geographischen Lage stärker betroffen als andere Gletscher. Neben den Alpen ist auch Skandinavien besonders betroffen. Insgesamt hat sich eine massive Beschleunigung des Abschmelzens ergeben, wie die Grafik mit den Salden zeigt. Zemp: «Diese Grafik muss man lesen wie eine Bilanz. Sie zeigt das den Saldo von neuem Schnee im Winter und dem Abschmelzen im Sommer. Der Saldo ist immer negativ. Wenn ein Unternehmen jedes Jahr rote Zahlen schreibt, ist es irgendwann pleite.

Neben dem Klimawandel wirkt sich auch der industrielle Wintertourismus negativ auf die Alpen-Gletscher aus. Zemp: «In den Alpen wohnen viele Menschen in der Nähe von Gletschern. Wir sollten zwar nicht mit dem Skilaufen aufhören, aber wir sollten nicht um die ganze Welt jetten, um irgendwo Skilaufen zu können.»

Für die Tourismus-Regionen in den Alpen ergeben sich aus dem Verschwinden der Gletscher Chancen und Gefahren: Zum einen entstehen Seen. Diese können, wie jetzt schon in der Schweiz, als neue Tourismus-Attraktionen genützt werden. Dazu müssen sie aber befestigt werden. Dies sei, so Zemp, eine Frage des Geldes.

Noch teurer dürfte es für die Tourismus-Gebiete werden, sich auf die neuen Naturgefahren einzustellen. Dazu wird es die Hilfe der geowissenschaftlichen Praktiker brauchen. Zemp: «Unser historisches Wissen über gefährdete Stellen hat seine Gültigkeit verloren. Das Schmelzen der Gletscher bringt neue Naturgefahren wie Felsstürze und Muren-Abgänge. Es müssen nun die Ingenieure tätig werden, die die Situation modellieren und neue Gefahren kartieren. Auch das wird viel Geld kosten.»

Zemp sagt, er sei zwar wegen den dauerhaften Messungen nicht überrascht über die Beschleunigung. Doch die Bilder, wie schnell sich die Landschaft verändert, hätten auch ihn schockiert. Zemp: «Ich empfehle jedem, mit seinen Kindern jedes Jahr zu den Gletschern zu fahren und jedes Jahr ein Foto an derselben Stelle aufzunehmen. Dann wird man sehen, wie schnell es geht.»

Seit über 120 Jahren sammelt der World Glacier Monitoring Service, das heute seinen Sitz an der Universität Zürich hat, weltweite Daten zu Gletscherveränderungen. Zusammen mit seinen Korrespondenten in über 30 Ländern hat der internationale Dienst eine neue, umfassende Analyse der globalen Gletscherveränderungen im Journal of Glaciology veröffentlicht. Dabei wurden die Beobachtungen für das erste Jahrzehnt des laufenden Jahrhunderts (2001-2010) verglichen mit allen bisher verfügbaren Daten aus Feldbegehungen, flugzeug- und satellitengestützten Beobachtungen sowie Rekonstruktionen basierend auf Bild- und Schriftquellen.

Die Geschwindigkeit der aktuellen, globalen Gletscherschmelze ist beispiellos, zumindest seit Beginn der Messperiode und wohl auch im Zeitraum der schriftlich und bildlich belegten Geschichte. Sie sei, so Zemp, der «Beweis, dass der Klima-Wandel konkrete Folgen hat». Die Entwicklung könne nur gestoppt werden, wenn der Zertifikatehandel wirklich global verpflichtend wäre. Denn das Ausscheren einiger Länder mache die Bemühungen der anderen zunicht. Zemp: «Der Zertikatehandel, wie wir ihn heute haben, funktioniert nicht.»

Die Studie zeigt, dass das langfristige Zurückschmelzen der Gletscherzungen ein globales Phänomen ist. Zwischenzeitliche Wiedervorstösse der Gletscher sind regional und zeitlich beschränkt und reichen bei weitem nicht an die Hochstände der kleinen Eiszeit zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert heran. So haben sich zum Beispiel die norwegischen Gletscherzungen seit ihrem letzten Hochstand im 19. Jahrhundert um einige Kilometer zurückgezogen. Einzig in der Küstenregion stiessen die Gletscher zwischenzeitlich in den 1990er-Jahren wenige hundert Meter vor.

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