Henry Kissinger beschreibt in einem äußerst lesenswerten Interview mit der Zeitschrift The National Interest den neuen Kalten Krieg als ein Versagen des Westens: Er habe Ende November 2013 ausführlich mit Russlands Präsident Wladimir Putin gesprochen. In dem Gespräch seien alle wichtigen geopolitischen Themen diskutiert worden. Erst gegen Ende des Gesprächs sei die Sprache auf Russland gekommen. Putin habe die Ukraine ausschließlich als wirtschaftliches Problem betrachtet. Er habe davon gesprochen, dass das Problem mit Zöllen und den Energiepreisen zu lösen sein werde. Von einer kriegerischen Intention sei nichts zu erkennen gewesen. Kissinger: „Es ist nicht glaubwürdig, dass Putin 60 Milliarden Euro ausgegeben haben soll, um Sotschi zu einer Olympia-Stätte auszubauen, bei der sich Russland als Teil der westlichen Zivilisation präsentierte, um nur eine Woche nach der Abschluss-Zeremonie eine militärische Krise in der Ukraine anzuzetteln.“
Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland könnten niemals als normale bilaterale Beziehungen zwischen zwei Staaten angesehen werden. Die historischen Bande seien so tief, dass weder Russland noch die Ukraine jemals ohne einander auskommen würden.
Kissinger sieht das Hauptversagen bei der EU, die „in Panik verfallen“ sei, als sich der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch weigerte, das Assoziierungsabkommen zu unterschreiben. Janukowitsch habe seine Unterschrift aus innenpolitischen Gründen zurückgezogen. Dadurch sei Putin ermutigt worden, Ziele, die er vielleicht erst langfristig verfolgt hätte, gleich umzusetzen. Mit den Maidan-Protesten sei Putins Plan hinfällig geworden, ein neues Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland aufzubauen. An diesem Plan habe Putin zehn Jahre lang gearbeitet. Die Entwicklung „muss aus Moskauer Sicht so ausgesehen haben, dass die Ukraine – bisher ein Heimspiel für Russland – aus dem Orbit Russlands herausgerissen werden soll“: „Danach hat Putin wie ein russischer Zar agiert, wie Nikolaus I. vor hundert Jahren. Ich entschuldige dieses Vorgehen nicht, aber ich setze es in den Kontext.“
Nun befinde sich Russland auf Kurs in Richtung China, doch Kissinger glaubt nicht, dass die beiden Großmächte zusammenpassen. Kissinger ist auch skeptisch, dass es in absehbarer Zukunft eine enge Beziehung zwischen China und den USA geben könne. Die Unterschiede zwischen Washington und Moskau seien strategisch begründet, während es mit China kulturelle Unterschiede gäbe. Der Schwenk Russlands nach China sei auch auf die US-Außenpolitik zurückzuführen, die Putin in die Ecke getrieben hat: „Es kommt teilweise daher, weil wir ihnen keine Wahl gelassen haben.“
Kissinger macht in dem Interview keinen Hehl daraus, dass er die Regierung von Obama für außenpolitisch wenig kompetent hält. Er führt dies auf mangelndes geschichtliches Wissen zurück: „Wir haben nichts aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt.“ Die neue, junge Generation in Washington agiere „geschichtslos“. Doch Politik auf Basis einer willkürlich gesetzten Stunde Null ist nicht machbar.
Diese mangelnde Lernbereitschaft führe auch zu einer verhängnisvollen Rolle der USA in den verschiedenen globalen Kriegen: „Das Problem mit den US-Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg besteht in dem Versagen, die Strategie mit dem zu vereinbaren, was innenpolitisch möglich ist. Wir haben alle fünf Kriege, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg gefochten haben, mit großer Begeisterung begonnen. Aber die Falken haben nie durchgehalten. Am Ende waren sie in einer Minderheit. Wir sollten uns nicht in internationalen Konflikten engagieren, wenn wir nicht von allem Anfang an skizzieren können, wie das Ende aussieht. Wir sollten uns nicht engagieren, wenn wir nicht willens sind, die Sache so lange zu unterstützen, bis wir dieses Ende erreicht haben.“
Kissinger hat Verständnis für das Zögern Deutschlands, stärker eine führende Rolle einzunehmen. Man habe nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland ein halbes Jahrhundert eingetrichtert, dass eine neue deutsche Vorherrschaft niemals akzeptiert werden würde. Nun mache man Deutschen den Vorwurf, dass sich das Land weigere, eine Hegemonial-Rolle zu spielen: „Ich habe Sympathie für das deutsche Dilemma. Sie können helfen, sie können entscheidende Hilfe leisten, aber wir brauchen eine größeren, globalen Rahmen, zu dem auch wir etwas beitragen müssen.“